Luchs streift durch die Hauptstadt der USA
Die enorm scheuen Tiere meiden Menschen eigentlich. Der Luchs in Washington D.C. spricht daher für die Qualität der Naturräume der Stadt.
Der Ökologe Dan Herrera sieht viele Tiere auf den Bildern der Kamerafallen, die er in den Grünflächen von Washington D.C. aufstellt. Der Waldkorridor rund um den Potomac River im Nordwesten der US-Hauptstadt ist besonders ergiebig: Dort hat er Kojoten, Füchse, Biber und sogar Flughörnchen entdeckt.
Als er die Bilder vom November 2019 durchsah, entdeckte er allerdings einen ganz besonderen Überraschungsgast: einen Luchs. Das wilde Tier unbekannten Geschlechts durchstreifte das Gebiet am 9. November um 6:21 Uhr Ortszeit.
„Das ist ziemlich aufregend“, sagt Michael Cove, ein Forscher des Smithsonian Conservation Biology Institute, der oft mit Herrera zusammenarbeitet. „Einen Luchs habe ich in D.C. nun wirklich nicht erwartet.“ In der jüngeren Geschichte gab es keine bestätigten Sichtungen dieser Tierart innerhalb der Stadtgrenze.
„Es gibt Berichte über urbane Luchse im Westen, aber soweit ich weiß, ist das an der Ostküste ein recht neues Phänomen“, so Herrera. „Das ist faszinierend, und hoffentlich sorgt das dafür, dass über das Thema gesprochen wird.“
Die Aufnahmen wurden im Rahmen des Programms DC Cat Count gemacht, das die Populationsgröße der Haus- und Wildkatzen im Stadtbereich schätzen will.
Luchse in den USA weit verbreitet
Obwohl sich Washington D.C. mitten im ursprünglichen Verbreitungsgebiet der Luchse befindet, meiden die scheuen Wildkatzen urbane Räume eigentlich. Der einzige Luchs, der in jüngerer Vergangenheit in D.C. gesichtet wurde, war ein Männchen namens Ollie – und das war 2017 aus dem National Zoo ausgebrochen und wurde kurz darauf wieder eingefangen.
Luchse (Lynx rufus) sind in den gesamten unteren 48 Bundesstaaten der USA verbreitet. Ihnen geht es dort verhältnismäßig gut. Sie haben sogar Regionen zurückerobert, aus denen sie zuvor vertrieben wurden, beispielsweise in Iowa, erzählt Christopher Kozakiewicz. Der Zoologe erforscht die Verbreitung der Luchse im Süden Kaliforniens und darüber hinaus.
Die Wildkatzen brauchen zum Überleben weitläufige, miteinander verbundene Grünflächen mit gesunden Populationen kleiner Säugetiere: Mäuse, Hörnchen und Hasen sind ihre bevorzugte Beute. Sie sind etwas weniger anpassungsfähig als kleine Beutegreifer wie Kojoten und Füchse, die man öfter in Städten sieht. Diese sind Allesfresser und bei ihrer Nahrungssuche daher flexibler als Luchse, erklärt Cove.
Der Chesapeake and Ohio Canal, der auch durch Washington D.C. fließt und mittlerweile als Nationalpark gepflegt wird, zählt zu den wichtigsten Naturräumen der Stadt. Das gesamte Gebiet ist ein bewaldeter Uferlebensraum, und der Fund des Luchses „spricht für die Qualität der Grünflächen in DC“, sagt Travis Gallo, ein Stadtökologe der George Mason University in Fairfax County, Virginia.
Grüne Korridore als Luchswanderwege
Vor den aktuellen Aufnahmen der Kamerafalle in D.C. war der nächste Luchs etwa 40 Kilometer von der Hauptstadt entfernt in Virginia gesichtet worden. Dort und in Maryland gibt es in ländlichen Gegenden und Parks gut etablierte Luchsbestände, sagt Cove.
Der Potomac River ist ein perfekter Korridor für die Tiere, um zwischen der Stadt und ländlichen Gebieten umherzuwandern, beispielsweise den Appalachen, wo ebenfalls eine stabile Population lebt.
Luchse sind nachtaktiv und sehr scheu. Selbst, wenn die Wildkatzen unterwegs sind, sieht man sie kaum. „Sie sind sehr scheu und geheimniskrämerisch und meiden Menschen aktiv“, sagt Kozakiewicz.
Auch um Haustiere scheinen sie einen Bogen zu machen, erklärt Julie Young, eine Wildtierbiologin des US-Landwirtschaftsministeriums. Sie hat die Verbreitung der Tiere sowie deren Ernährung im Metroplex-Gebiet der texanischen Städte Dallas und Fort Worth erforscht. Die Forscherin fand im Kot der Luchse keine Hinweise darauf, dass sie auf Hunde oder Katzen Jagd machten.
In Dallas scheinen sich die Wildkatzen wohl zu fühlen und werden auf Grünflächen wie beispielsweise Golfplätzen gesichtet. Sogar an besonders urbanen Plätzen wie Unterführungen und Parkplätzen tauchen sie manchmal auf, erzählt Young.
Ein solches Verhalten wurde bei den Tieren an der Ostküste bislang nicht oft beobachtet. Dort könnten die Luchse bislang noch scheuer sein, sagt Herrera.
Der DC Cat Count geht jedenfalls weiter und könnte noch mehr Hinweise liefern. Auch Gallos Labor wird im Raum D.C. noch weitere Kamerafallen aufstellen, um nach Luchsen und anderen Tieren zu suchen.
„Dann werden wir sehen, ob Luchse und andere ungewöhnliche Arten hier nur vorbeikommen oder ob sie in den Naturräumen tatsächlich leben und bleiben.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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