Totstellen im Tierreich: Mehr als reine Fressprävention

Schlangen, Wirbellose, Vögel und auch Säugetiere nutzen die Taktik der Thanatose aus unterschiedlichsten Gründen.

Von Christine Peterson
Veröffentlicht am 5. Mai 2021, 14:09 MESZ
Würfelnatter

Eine Würfelnatter an einem Bachlauf auf Kreta stellt sich tot.

Foto von Blick Winkel, Alamy

Von allen Möglichkeiten, die Tiere entwickelt haben, um Fressfeinden zu entgehen, ist das Vortäuschen des eigenen Todes vielleicht eine der kreativsten – und riskantesten.

Wissenschaftlich wird dieses Sichtotstellen als Thanatose bezeichnet und kommt im gesamten Tierreich vor, von Vögeln über Säugetiere bis hin zu Fischen. Der vielleicht berühmteste Schauspieler ist in dieser Hinsicht das nordamerikanische Virginia-Opossum: Es öffnet sein Maul, lässt die Zunge heraushängen, entleert seinen Darm und scheidet eine übelriechende Flüssigkeit aus, um ein Raubtier davon zu überzeugen, dass es sein Verfallsdatum überschritten hat.

Meerschweinchen und viele Kaninchenarten täuschen ihr Versterben vor, ebenso wie eine Reihe von Schlangen, beispielsweise die Texas-Indigonatter (Drymarchon melanurus erebennus). Zu den Imitatoren der Vogelwelt gehören Japanwachteln, Haushühner und Wildenten. Sogar einige Haie tun so, als würden sie das zeitliche segnen: Wenn man sie auf den Rücken dreht und kurz festhält, werden Zitronenhaie schlaff und zeigen eine erschwerte Atmung sowie gelegentliches Zittern.

 

Fressen und gefressen werden in der Tiefsee
In den Tiefen des Meeres gibt es ein komplexes Netzwerk aus Jägern und Beute. Forscher des Monterey Bay Aquarium Research Institute werteten Videoaufnahmen aus mehreren Jahrzehnten aus und gewannen überraschende neue Erkenntnisse über die Jäger-Beute-Beziehungen der Tiefsee.

Die häufigste Tiergruppe, die Thanatose praktiziert, sind Wirbellose: Hier gibt es mehr als ein Dutzend Arten, die diese Kunst beherrschen.

Wenn sich zum Beispiel ein Fressfeind nähert, stellen sich Dornschrecken in Japan tot, indem sie ihre Beine in alle Richtungen von sich strecken. Das macht es für Frösche fast unmöglich, die unhandlichen Insekten zu verschlucken.

Im Allgemeinen wissen Wissenschaftler noch nicht genug über dieses faszinierende Verhalten, schreibt Rosalind Humphreys in einer E-Mail. Sie ist eine Doktorandin an der University of St. Andrews in Großbritannien. Es sei schwierig, dieses Verhalten in der freien Wildbahn zu erfassen. Und es gibt ethische Bedenken, Laborexperimente durchzuführen, in denen Raubtiere Beute angreifen, erklärt sie.

Thanatose: Letzte Chance auf Leben

Viele Insekten täuschen ihren Tod vor, nachdem sie von einem Raubtier gepackt wurden.

Zum Beispiel können sich die Larven der Geflecktflügligen Ameisenjungfer für erstaunliche 61 Minuten totstellen. Charles Darwin hingegen war überrascht, als er einen Käfer entdeckte, der sich 23 Minuten lang totstellte.

Es läuft ungefähr so ab: Ein Raubtier, sagen wir eine Heckenbraunelle, bemerkt eine Gruppe von Ameisenjungfer-Larven und fliegt abwärts, um das Insekt zu packen. Der Vogel lässt die Larve jedoch versehentlich fallen, was gar nicht so selten passiert, und das Insekt stellt sich tot.

Galerie: Verblüffende Insektentarnung

BELIEBT

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    „Das ist ihre letzte Chance zu überleben“, sagt Ana Sendova-Franks, Gastwissenschaftlerin an der britischen University of Bristol und Mitautorin einer Studie über dieses Verhalten. Die Arbeit erschien im März 2021 in der Zeitschrift „Biology Letters“.

    Diese Unbeweglichkeit nach einem Kontakt ist etwas anderes als das kurzzeitige Stillhalten „wie wenn ein Einbrecher Ihr Haus betritt und Sie erstarren, um nicht gesehen zu werden“, sagt Sendova-Franks. Stattdessen handelt es sich oft um eine unwillkürliche körperliche Veränderung wie die Verlangsamung der Herzfrequenz.

    Totspielen als Jagdstrategie

    Während sich die meisten Lebewesen totstellen, um dem Tod zu entgehen, haben andere eine alternative Verwendung für diese Technik gefunden.

    Ein Beispiel dafür sind die Jagdspinnen. Die Weibchen dieser Familie machen oft Jagd auf die Männchen. Um sich zu paaren, bastelt das Männchen deshalb ein Nahrungspaket, heftet sich daran und stellt sich tot. Das Weibchen schleppt dann das Futter und das vermeintlich tote Männchen mit sich herum. Wenn sie anfängt, das Futter zu verzehren, erwacht das Männchen wieder zum Leben und versucht, sich zu paaren – manchmal erfolgreich, sagt Trine Bilde, Biologieprofessorin an der Universität Aarhus in Dänemark.

    „Das Vortäuschen des Todes scheint eine Paarungsbemühung der Männchen zu sein, zusätzlich zu bzw. anstatt einer Strategie, um sich vor Fressfeinden zu schützen“, schreibt sie in einer E-Mail. „Vielleicht erfüllt es beide Funktionen.“

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    Am anderen Ende des Spektrums steht die weibliche Torf-Mosaikjungfer, die alles daransetzt, eine Paarung zu vermeiden: Diese Libelle hört auf zu fliegen und stürzt zu Boden, um aggressiven Männchen zu entkommen, die ihr schaden können.

    Ein mittelamerikanischer Buntbarsch täuscht seinen Tod auf dem Seegrund vor, um Fische und andere Beute anzulocken. Wenn ein Fisch angeschwommen kommt, um einen Bissen von dem vermeintlichen Kadaver zu nehmen, schlägt der Buntbarsch zu. Ähnlich täuscht auch ein Zackenbarsch in Brasilien seinen eigenen Tod vor, um Jungfische anzulocken.

    Passive Verteidigung

    Das Sichtotstellen kann „als letzter Ausweg seltsam erscheinen, wenn wir eher erwarten würden, dass Beutetiere um ihr Leben kämpfen und fliehen wollen“, sagt Humphreys. „Es gibt jedoch eine Reihe von Mitteln, mit denen [Thanatose] erfolgreich die Wahrscheinlichkeit eines weiteren Angriffs verringern könnte.“

    In den britischen Experimenten mit den Ameisenjungfern fanden die Wissenschaftler zum Beispiel heraus, dass Larven, die sich länger totstellten als ihre Artgenossen, mit geringerer Wahrscheinlichkeit von einem Fressfeind verspeist wurden. Dieser wurde von der Reaktion der Larven entweder getäuscht oder einfach frustriert.

    Diese Spinnen fressen ihre Mütter

    In einem Experiment von 1975 beobachteten Wissenschaftler, wie in Gefangenschaft lebende Rotfüchse fünf verschiedene Entenarten erbeuteten, von denen sich die meisten sofort totstellten, wenn sie gefangen wurden. Die Füchse trugen die Enten dann zurück in ihren Bau, um sie später zu fressen. Erfahrene Füchse wussten, dass sie die Enten sofort zweifelsfrei töten oder verstümmeln mussten. Aber unerfahrene Füchse ließen die vermeintlich toten Enten manchmal liegen und ließen ihre Beute entkommen.

    Deshalb bezeichnet Sendova-Franks das Verhalten als letzte Chance: Sich zu bewegen, garantiert den Tod. Aber sich totzustellen, bietet eine Möglichkeit zu überleben, so klein sie auch sein mag.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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