Die Tricks der Gebärmutter: Warum Tierbabys ein Wunder der Natur sind

Von der Keimruhe bis hin zur Überschwängerung: In der Tierwelt haben sich einige erstaunliche Anpassungen etabliert, durch die das Überleben der Jungen und der Fortbestand der Spezies gesichert werden.

Ein ungeborenes Kätzchen im Mutterleib, simuliert für die Dokumentationsreihe Tierisch gute Erziehung auf Disney+. Die lebensechten 3D-Tierbabys wurden in Handarbeit von Skulpteuren hergestellt, die selbst kleinste Details wie Blutbahnen und Haarfollikel berücksichtigt haben.

Foto von National Geographic/ Disney+
Von Lavanya Sunkara
Veröffentlicht am 25. Nov. 2021, 15:54 MEZ

Über 5.400 Säugetierarten verschiedenster Größen und Formen leben auf der Erde: winzige Schweinsnasenfledermäuse, 33 Meter lange Blauwale, skurril aussehende Finger- und Schuppentiere. Und auch die Art, wie die Mütter all dieser verschiedenen Spezies ihren Nachwuchs austragen und gebären, ist unglaublich vielfältig – und trickreich. Hündinnen bringen zum Beispiel die Welpen unterschiedlicher Väter in einem Wurf auf die Welt, während Wallabys über zwei getrennte Uteri verfügen.

Je höher die Intelligenz und das Alter, das ein Tier erreichen kann, desto länger ist in der Regel die Trage- und damit die Entwicklungszeit, die der Fötus benötigt. Afrikanische Elefanten sind mit 22 Monaten von allen Spezies am längsten trächtig.

 

Der Fuß eines ungeborenen Elefanten in einer Simulation, die für die Dokumentationsreihe Tierisch gute Erziehung erstellt wurde.

Foto von National Geographic/ Disney+

„Wenn ein Elefantenbaby auf die Welt kommt, hat es sofort die Fähigkeit, lange Strecken zurückzulegen“, erklärt Thomas Hildebrandt, Tierarzt am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin.

Auch die Mütter der fünf Nashornarten, deren Jungen im Schnitt nach 16 Monaten Tragezeit geboren werden, bringen vollständig entwickelte Kälber zur Welt. Manche Meeressäugetiere wie der Tümmler tragen ihre Jungen zwischen zehn und zwölf Monaten aus, sodass das Kalb direkt nach der Geburt mit der Mutter mitschwimmen kann.

Eines der Säugetiere, das am kürzesten trächtig ist, ist das Nordopossum. Das einzige Beuteltier Nordamerikas bringt im Schnitt 20 Junge zur Welt – und das nur elf bis 13 Tage nach der Paarung. Die winzigen, einen Zentimeter langen Würmchen krabbeln aus dem Geburtskanal in den Beutel der Mutter, wo ihre Entwicklung fortgesetzt werden soll. Doch nicht alle kommen dort heil an – im Schnitt überleben acht bis neun Babys.

Großer Wurf

Säugetiere mit kurzer Tragezeit bringen oft eine größere Zahl Junge zur Welt. Mäuse sind regelrechte Brutmaschinen: Sie sind nur 19 Tage trächtig und gebären alle zwei Monate zwischen zwölf und 20 Nachkommen. Diese Babyschwemme ist laut Thomas Hildebrandt notwendig, damit zumindest einige der kleinen Mäuse in ihrem „äußerst gefährlichen und sich ständig verändernden Lebensraum“ bis ins Erwachsenenalter überleben.

Auch Haushunde und -katzen sowie ihre wild lebenden Verwandten können innerhalb kürzester Zeit viele Kinder bekommen: Eine Haushündin ist 63 Tage trächtig und bringt im Schnitt fünf Junge zur Welt.

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    Dabei ist es durchaus möglich, dass die Jungen eines Wurfs von verschiedenen Vätern gezeugt wurden. Das Phänomen hat einen Namen: Superfekundation, zu Deutsch Überschwängerung. Beim Eisprung weiblicher Hunde werden mehrere Eizellen gleichzeitig ausgestoßen und in den Eileiter aufgenommen. Dort können sie etwa zehn Zyklustage lang durch Spermien befruchtet werden. Laut Alexander Travis, Reproduktionsbiologe am Cornell University College of Veterinary Medicine in Ithaca, New York, paaren sich Hündinnen in dieser Zeit mit möglichst vielen Rüden, damit möglichst viele der Eizellen befruchtet werden.

    So erklärt sich, warum Hundewürfe oft gemischt sind und ein Pudelweibchen gleichzeitig einen Pudel-Beagle-Mix und einen Pudel-Retriever-Mix gebären kann.

    Ein ungeborener Seelöwe, simuliert für die Reihe Tierisch gute Erziehung.

    Foto von National Geographic/ Disney+

    Embryo in der Warteschleife

    Mehr als 130 Säugetierarten – darunter Bären, Robben, Seelöwen und mehrere Beuteltierspezies – sind in der Lage, eine Schwangerschaft zu pausieren, bis die Umstände für den Nachwuchs in Hinblick auf das Wetter und die Nahrungsverfügbarkeit optimal sind oder ältere Geschwister nicht mehr auf die Fürsorge der Mutter angewiesen sind.

    Bei dieser sogenannten Keimruhe „trifft das Spermium auf die Eizelle und befruchtet sie. Es entsteht ein früher Embryo, der sich jedoch nicht einnistet“, erklärt Alexander Travis. Stattdessen wird er in einer Art Warteschleife geparkt.

    Die Stellerschen Seelöwenweibchen im nördlichen Pazifik verzögern die Geburt ihres Kalbs „bis genug Futter vorhanden ist und milde Wetterkonditionen herrschen“, sagt Carrie Goertz, Leiterin der Abteilung für Tiergesundheit im Alaska SeaLife Center in Seaward, Alaska.

    In den Sommermonaten gebären Stellersche Seelöwen an Land. Sie werden nur zwei Wochen später wieder brünstig und oft erneut trächtig. „Von der Befruchtung dieser Eizellen bis zur Geburt des Kalbs können bis zu elfeinhalb Monate vergehen“, sagt Carrie Goertz.

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    In dieser Zeit des verlangsamten Wachstums kehrt die Mutter ins Meer zurück, um Nahrung zu suchen. „Die meiste Zeit ihres Erwachsenenlebens fressen die Muttertiere für drei – sich selbst, das Kalb und das ungeborene Junge in ihrem Bauch. Es ist erstaunlich, wie sie das durchstehen.“

    Baby in Reserve

    Alle vier bekannten Känguruspezies verfügen über zwei getrennte Gebärmütter. Diese Anpassung macht es ihnen möglich, mit einem Reserveembryo trächtig zu sein. Oft schon kurz nach der Geburt eines nicht einmal drei Zentimeter kleinen Kängurubabys, trägt die Mutter in ihrem zweiten Uterus schon das nächste Junge aus.

    Während der Nachwuchs im Beutel heranwächst, wird die Entwicklung des zweiten Embryos verzögert. Sobald das ältere Geschwisterchen entwöhnt ist und den Beutel verlassen hat, kann das neue Baby dort einziehen. Um beiden Jungen die Milch zu geben, die sie brauchen, verfügt eine Kängurumutter über vier Zitzen und produziert zweierlei Milch, deren Nährstoffgehalt jeweils dem altersgerechten Bedarf der Kleinen entspricht.

    Verliert die Mutter ein Junges, „setzt der Embryo, der sich bisher in Keimruhe befunden hat, seine Entwicklung fort. Weil sie so nicht ein ganzes Jahr warten müssen, bis sie wieder Nachwuchs bekommen können, sind Kängurus in reproduktiver Hinsicht sehr erfolgreich“, erklärt Alexander Travis.

    Eine Studie aus dem März 2020 hat gezeigt, dass auch Sumpfwallabys zwei Embryonen in verschiedenen Entwicklungsstadien in ihren Uteri austragen. Mithilfe von hochauflösendem Ultraschall fanden Wissenschaftler heraus, dass in der zweiten Gebärmutter der Weibchen, die sich nach dem Eisprung paaren, ein neuer Embryo entsteht, während gleichzeitig ein voll entwickelter Fötus existiert. Das macht Sumpfwallabys zu der einzigen bekannten Spezies, die ständig trächtig ist.

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    Blick in den Mutterleib

    Die Paarungs- und Fortpflanzungsvorgänge in der Tierwelt sind weitreichend erforscht, doch was genau sich im Mutterleib abspielt, ist oft noch ein Rätsel.

    Um herauszufinden, wie sich der Nachwuchs in der Gebärmutter entwickelt, kommen deshalb immer öfter hochmoderne Technologien zum Einsatz. Thomas Hildebrandt untersuchte beispielsweise in Gefangenschaft lebende afrikanische Löwen mit 4D-Imaging-Systemen und entdeckte dabei eine hängemattenähnliche Struktur, in der die Jungen im Mutterleib der Löwin lagen.

    Jagt eine trächtige Löwin zum Beispiel ein Zebra, besteht die Gefahr, dass sie dabei in den Bauch getreten wird. „Normalerweise würde das das ungeborene Baby in Lebensgefahr bringen. Aber die Natur hat dieses Aufhängungssystem eingebaut, das den Stoß abfedert und das Risiko reduziert“, erklärt Thomas Hildebrandt.

    Für die Disney+-Dokumentationsreihe Tierisch gute Erziehung haben Skulpteure in Handarbeit lebensechte 3D-Tierbabys hergestellt und dabei selbst kleinste Details wie Blutbahnen und Haarfollikel berücksichtigt. Dadurch haben Zuschauer zum ersten Mal die Gelegenheit, Schimpansen, Stellersche Seelöwen, Afrikanische Wildhunde und andere Spezies im Mutterleib zu betrachten.

    „Alle lieben süße Tierbabys, doch nicht jedem ist bewusst, wie außergewöhnlich die verletzlichen Neugeborenen in Hinblick auf die Anpassungsfähigkeit sind, mit der sie geboren werden und wie schnell sie lernen müssen, um zu überleben“, sagt Dominic Weston, Produzent der Dokumentation.

    Ein neugeborener Schimpanse ist zum Beispiel – ähnlich einem Menschenkind – vollkommen abhängig von seiner Mutter. Aber er ist stark genug, sich in ihrem Fell festzuhalten, während sie sich in einer Höhe von 30 Metern von Ast zu Ast schwingt.

    „Es gibt viele etablierte und neue Technologien, die bei der fortlaufenden Erforschung von Tierbabys zum Einsatz kommen – im Mutterleib und nach der Geburt“, sagt Dominic Weston. „Die Neugier, der Erfindergeist und die Leidenschaft der Wissenschaftler, die diesen magischen Aspekt der Tierwelt untersuchen, erlauben uns unvergessliche Einblicke und erinnern uns daran, wie wichtig der Schutz dieser Spezies ist.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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