Rätselhafter Alien-Fisch mit riesigem Unterkiefer
Im Devon wimmelte es nur so von seltsamen Unterwasserwesen. Eines davon war der Panzerfisch Alienacanthus. Sein Unterkiefer war doppelt so lang wie der Schädel.
Rekonstruktion von Alienacanthus. Der lange Unterkiefer half vermutlich beim Beutefang.
Vor 365 Millionen Jahren herrschten die Fische über die Erde. Es war das Devon-Zeitalter. Unter der Wasseroberfläche entwickelte sich eine überbordende Artenvielfalt. Unangefochtener Herrscher war Dunkleosteus, ein bis zu zehn Meter langer Räuber mit furchteinflößendem Maul.
Er gehörte zur ausgestorbenen Klasse der Placodermi oder Panzerfische. Kopf und Rumpf dieser Urzeitkreaturen bestanden aus mächtigen Knochenplatten. Noch etwas machte die Placodermi außergewöhnlich: Sie waren die ersten Wirbeltiere mit Kiefern.
Immer wieder stoßen Forschende auf spektakuläre Fossilien aus dem Devon. Manchmal erschließt sich die Tragweite solcher Entdeckungen erst Jahrzehnte später. Als der Paläontologe Julian Kulczycki in den 1950er-Jahren zwei lange, dünne Knochenfragmente im polnischen Heiligkreuzgebirge aufspürte, ahnte auch er nicht, worum es sich tatsächlich handelte.
Kulczycki hielt die seltsamen Versteinerungen für die Flossenstacheln eines Panzerfisches. So entstand auch der wissenschaftliche Name des Urzeitwesens: Alienacanthus. Der Begriff leitet sich vom lateinischen Wort „aliena“ für „fremd“ und „canthus“ für „Stachel“ ab.
Nachbildung eines Dunkleosteus
Wie ein umgedrehter Schwertfisch
Doch der polnische Paläontologe lag falsch. Etwa 50 Jahre später analysierten Forschende weitere Placodermi-Fossilien aus Polen und Marokko, die das gleiche Knochenelement enthielten. Auch ein Schädel war darunter. Plötzlich war klar: Die vermeintlichen Stacheln sind gewaltige Unterkiefer.
Eine aktuelle Studie unterstreicht, wie schillernd die Unterwasserwelt im Devon gewesen sein muss. Die Placodermi zeigten ein enormes Spektrum an Körperformen. Und Alienacanthus trieb diese evolutionäre Entwicklung mit seinem bizarren Unterbiss auf die Spitze.
Auf den ersten Blick erinnert er an einen heutigen Raubfisch. Mit seinen großen Augen und den messerscharfen Zähnen war Alienacanthus ein effizienter Jäger. Unverwechselbar machte ihn aber sein schwertförmig verlängerter Unterkiefer. Er war doppelt so lang wie der Schädel. Kopf und Kiefer machten ein Drittel der Gesamtlänge des mehr als zwei Meter langen Tieres aus – ein echtes Alleinstellungsmerkmal.
Nach Auffassung der Studienautoren ist Alienacanthus „das früheste Wirbeltier, das eine solche Verlängerung des Unterkiefers aufweist“. Zwar gibt es auch heute Fische mit lanzenartig geformten Mäulern, darunter der Schwertfisch. Allerdings ist es hier der Oberkiefer, der so auffällig erweitert ist. Einzig der sieben Zentimeter kleine Halbschnabelhecht besitze einen ähnlich markanten Unterbiss, heißt es in der Studie.
Schädel eines Alienacanthus
Alienacanthus: Einzigartige Jagdtechnik im Zeitalter der Fische
Warum aber diese seltsame Körperform? Alienacanthus lebte in einer Epoche, die auch als Zeitalter der Fische bekannt ist. Unzählige Arten konkurrierten um Nahrung. Um sich zu behaupten, mussten sie raffinierte Strategien entwickelten.
Die meisten Placodermi, darunter auch der Spitzenprädator Dunkleosteus, hatten abgerundete Mäuler. Mit seinem extrem zugespitzten Kopf stieß Alienacanthus buchstäblich in eine Nische. Vermutlich nutzte er seinen extremen Unterkiefer, um kleine Fische zu verwirren oder zu verletzen, vergleichbar mit heutigen Schwert- oder Sägefischen. Gut möglich auch, dass er damit im Sediment nach Nahrung stocherte. Die nach hinten gebogenen Zähne transportierten die lebende Beute dann schnurstracks in die Speiseröhre – ähnlich wie bei Schlangen.
Placedermi wie Alienacanthus zählen also nicht nur zu den ersten Wirbeltieren, die einen beweglichen Kieferapparat entwickelten, um ihre Nahrung zu schnappen, zu fixieren und zu zerkleinern. Der Alien-Fisch zeigt auch, wie sich die Evolution der Kiefer schon kurz nach ihrer Entstehung geradezu explosionsartig in unterschiedlichste Richtungen entwickelte.