Wie ein Mann aus einer Stadt einen Nationalpark machen will

Ein ambitioniertes Projekt verdeutlicht die Wichtigkeit der städtischen Natur.

Von Emma Marris
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:31 MEZ
Der St. James‘s Park
Der St. James‘s Park ist eine der vielen Grünflächen in London, einer Stadt, die als Modell für städtische Natur dienen kann.
Foto von Simon Roberts, National Geographic Creative

Was ist ein Park? Für die meisten von uns ist ein Park ein abgeschiedener Ort – ein Schutzbereich für die Natur in einer Welt, die zunehmend von menschlichen Aktivitäten dominiert wird und designt ist, um menschliche Bedürfnisse und Wünsche zu erfüllen. Aber ein Park ist auch für Menschen gemacht – ein Zufluchtsort für die menschliche Seele, die oft eingeht, wenn sie zu lang von grünen und wachsenden Dingen getrennt ist.

Der große Naturalist John Muir hat diesen doppelten Zweck zu Beginn der Nationalpark-Bewegung eingefangen. „Tausende erschöpfter, gebeutelter und überzivilisierter Menschen beginnen herauszufinden, dass in die Berge zu gehen bedeutet, nach Hause zu gehen; dass die Wildnis eine Notwendigkeit ist“, schrieb Muir 1901. Unsere Vorstellung von Parks, besonders in Nordamerika, Europa und Australien, hat sich seitdem kaum verändert.

Daniel Raven-Ellison, ein selbsterklärter „Guerilla-Geograf“ und National Geographic Explorer, würde das gern ändern.

Raven-Ellisons Zuhause ist nicht in den Bergen – es ist in London, einer Stadt, die im Jahr 43 n. Chr. gegründet würde. Es ist eine Metropole, in der heutzutage fast neun Millionen Menschen leben, durchschnittlich 5.400 pro Quadratkilometer. Raven-Ellis setzt sich dafür ein, dass die komplette Stadt zum Nationalpark erklärt wird.

Trotz der geschäftigen Straßen und des freigiebigen Einsatzes von Beton verfügt London, wie er anmerkt, über viele Eigenschaften, die wir mit Parks assoziieren. Wenn man nicht nur die ausgeschriebenen städtischen Parks zählt, sondern auch die Hinterhöfe und die vernachlässigten Flächen, besteht die Stadt zu fast 47 Prozent aus Grünfläche. Zudem ist sie extrem artenreich – und mancherorts auch ziemlich wild.

Bei einem Spaziergang durch den Epping Forest am Rand der Stadt kann man auf Dachse, Fledermäuse oder grasende Damhirsche treffen. Rotfüchse schlendern über Gehwege und ziehen ihre Jungen in Hinterhöfen groß. Etwa 8,4 Millionen Bäume wachsen in der Stadt: Birken, Linden, Apfelbäume, Ahorn, Eichen, Weißdorn und viele mehr. Die Londoner U-Bahn hat sogar ihren eigenen Artenreichtum hervorgebracht: Culex molestus, eine Mücke, die sich in den U-Bahn-Tunneln zu einer eigenen Art entwickelt hat.

Im Gegensatz zu den meisten großen Parks ist London nicht getrennt von den Menschen und ihren Häusern und Autos. Das sei aber kein Problem, sondern eine Besonderheit, so Raven-Ellison.

„London ist genau deshalb der artenreichste Ort in ganz Großbritannien, weil es dort Menschen gibt“, sagt er. Warum sollte diese erstaunliche Vielfalt nicht ebenso geschätzt werden wie die abgelegeneren und weniger durch Menschenhand veränderten Orte?

„Regenwald-Nationalparks unterscheiden sich sehr deutlich von Wüsten-Nationalparks“, sagt er. „Eine Stadt ist wiederum ganz anders als diese beiden, aber nicht zwingend weniger wertvoll.“ Indem er neu definiert, was ein Park sein kann, hofft Raven-Ellison, dass er unsere Augen für die Schönheit der Natur öffnen kann, die uns bereits umgibt – und dass er unsere Ambitionen stärken kann, sie zu erweitern.

BELIEBT

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    Der Presidio in San Francisco ist ein weiterer berühmter Stadtpark. Er bietet fantastische Aussichten und Freizeitaktivitäten wie Skateboarden.
    Foto von Simon Roberts, National Geographic Creative

    BIOPHILIE IN DER STADT

    Raven-Ellison ist nicht der Einzige, der ein Ende der konzeptuellen Entfremdung zwischen der Menschheit und den etwa fünf Millionen anderen Arten fordert, mit denen wir den Planeten teilen. Da mehr als die Hälfte der menschlichen Bevölkerung in Städten lebt und dieser Prozentsatz jedes Jahr ansteigt, wächst die Bewegung zur Anerkennung der Bedeutung städtischer Natur.

    Timothy Beatley, ein Stadtplaner an der Universität von Virginia, leitet eine Arbeitsgemeinschaft „biophiler Städte“, die sich verpflichtet haben, zunehmend mehr Grün, Vielfalt und Wildnis in ihre städtischen Strukturen zu integrieren. Dazu gehören unter anderem Singapur, Wellington in Neuseeland, Vitoria-Gasteiz in Spanien, Birmingham in Großbritannien, San Francisco, Portland und Milwaukee. Der Name der Gruppe stammt aus E. O. Wilsons 1986 erschienenem Buch „Biophilia“. Darin argumentiert Wilson, dass Menschen eine angeborene Liebe zur Natur haben, eine Verbindung zu anderen Arten. Diese sei aus unserer langen evolutionären Geschichte entstanden, in der wir inmitten dieser Tierarten gelebt haben und auf sie angewiesen waren.

     „Die Grundidee ist, dass Natur in der Stadt nicht optional ist, sondern absolut notwendig, um ein glückliches, gesundes und bedeutungsvolles Leben zu führen“, sagt Beatley. Seine Städte pflanzen Bäume, bedecken die Wände und Dächer von Hochhäusern mit Moos und Farnen und verbauen vogelfreundliche Fensterscheiben. Sie arbeiten im Landschaftsbau mit heimischen und nichtheimischen Pflanzen, die Bestäubern und anderen Tieren nützen. Sie bieten Hausbesitzern Anreize, um dürretolerante und wildtierfreundliche Gärten anzupflanzen.

    Außerdem fördern sie die naturkundliche Bildung von Kindern und ermutigen ihre Bewohner, morgens einfach mal mit einer anderen Perspektive aus dem Haus zu gehen. Kennen sie die Baumsorten in ihrer Wohngegend? Und die Vögel im Park? Wann haben sie zuletzt einen Wurm in der Hand gehalten?

    Diese Art des Erwachens kann sogar in Los Angeles passieren, der größten, grausten und autozentriertesten Metropole der Westküste. Im Naturkundemuseum der Stadt hat das Bürgerwissenschaftsprogramm der Stadt über Social Media und die App iNaturalist Tausende Beobachtungen von Schnecken, Reptilien, Eichhörnchen und anderer Arten gesammelt. Um Kindern einen Ort zu bieten, an dem sie „ihre Füße in einen Teich und ihre Hände in einen Komposthaufen stecken können“, hat das Museum auch einen geschäftigen, summenden und blühenden Garten angelegt, erzählt Lila Higgins, die Leiterin des Bürgerwissenschaftsprogramms.

    Wilson war seiner Zeit voraus, als er das Konzept der Biophilie erklärte. Ein wachsender Bestand an Forschungsergebnissen deutet darauf hin, dass der Kontakt zur Natur das psychische und körperliche Befinden verbessert, Menschen großzügiger und kooperativer macht, das Immunsystem stärkt, Stress reduziert und den Blutdruck senkt. Raven-Ellison und Beatley wollen zum Umdenken anregen: Man muss die Stadt nicht verlassen, um diese Vorteile zu ernten.

    Der älteste der acht königlichen Stadtparks, St. James‘s Park, bietet reizvolle Aussichten.
    Foto von Simon Roberts, National Geographic Creative

    DIE HÄLFTE LONDONS

    Raven-Ellison hat für seine Idee der „Nationalpark-Stadt“ die Unterstützung berühmter Londoner Politiker gesammelt, darunter auch der Bürgermeister Sadiq Khan. Es wäre mehr so etwas wie ein Park ehrenhalber, sagt er – eine Vision, die durch Regeln und Vorschriften von der Regierung an die Menschen weitergegeben wird; aber auch andersherum, von einer Massenbewegung von Stadtbewohnern. „Man kann das durch viele kleine, alltägliche Handlungen erreichen“, erklärt Raven-Ellison. „Die Menschen können etwas sehr Einfaches tun: ein Loch in den Zaun machen, damit der Igel durchkann; eine Auffahrt mit Sukkulenten bepflanzen; den Garten ein bisschen wild wachsen lassen.“

    Raven-Ellisons messbarstes Ziel ist es, London von den bisherigen 47 Prozent auf 51 Prozent Grünfläche zu bringen.  Es ist ein Ziel, das er unabhängig von Wilson aufstellte – der schlägt in seinem neuesten Buch „Die Hälfte der Erde: Ein Planet kämpft um sein Leben“ vor, dass die Hälfte des Planeten zu „unantastbaren Naturschutzgebieten“ erklärt werden sollte. So sollten Arten und wilde, artenreiche Ökosysteme erhalten werden. Die Menschen dürften diese Naturschutzgebiete nur gelegentlich besuchen, könnten sie allerdings regelmäßig per Webcam beobachten.

    In einer Studie, die letzte Woche in der Fachzeitschrift „BioScience“ veröffentlicht wurde, argumentiert ein internationales Team aus Naturschützern, dass es „nicht nur ein aufstrebendes, sondern auch ein erreichbares“ Ziel sei, die Hälfte der Erde zu schützen. Das ist teilweise auch der Urbanisierung des Planeten zu verdanken, die viele ländliche Regionen entvölkert und so mehr Platz für die Natur bietet.

    Damit diese Bestrebung Realität wird, müssten Stadtbewohner dazu inspiriert werden, die Natur auch zu lieben, anstatt sie einfach nur zu verlassen. Die unantastbaren Reservate müssten durch Grünflächen in Städten ergänzt werden, sagt Raven-Ellison – Flächen, in denen die Natur tagtäglich durch ihre Augen, Ohren, Nasen und Haut zu den Menschen spricht. Die Hälfte der Erde braucht die Hälfte Londons.

    „Wenn wir wollen, dass zukünftigen Generationen die unberührteste Wildnis am Herzen liegt“, so Raven-Ellison, „dann müssen sie sie zuerst an ihrer Türschwelle zwischen ihren Zehen spüren.“

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