Erste Expeditionen in Kolumbiens „Biodiversitätswunder“

Nach Jahrzehnten des Krieges fanden Forscher seltene, womöglich neue Arten in Kolumbiens Regenwäldern.

Von Taran Volckhausen
bilder von Federico Rios
Veröffentlicht am 26. Sept. 2018, 16:59 MESZ
Ein Team aus Wissenschaftlern sucht in einem abgelegenen kolumbianischen Regenwald nach Eulen. Nach Jahrzehnten des Konflikts ...
Ein Team aus Wissenschaftlern sucht in einem abgelegenen kolumbianischen Regenwald nach Eulen. Nach Jahrzehnten des Konflikts ist dieser Bereich des Waldes erst seit Kurzem wieder ausgewählten Gruppen zugänglich.
Foto von Federico Rios, National Geographic

ANORÍ, KOLUMBIEN Über 40 Jahre lang waren mehr als 500 Quadratkilometer des artenreichsten tropischen Regenwalds der Erde mit Ausnahme einer kleinen Gruppe bewaffneter Guerillas niemanden zugänglich. Erst vor Kurzem hatten ein paar glückliche Besucher die Gelegenheit, das Gebiet zu betreten und sich einen Überblick über die atemberaubende Artenvielfalt zu verschaffen.

Ein Hubschrauber der Vereinten Nationen beim Start aus einem Camp, das vorher von FARC-Rebellen genutzt wurde. Einige von ihnen führen nun Wissenschaftler in den Dschungel.
Foto von Federico Rios, National Geographic

Die Expedition führte in die ländliche Gemeinde Anorí, knapp 130 Kilometer nordöstlich von Kolumbiens zweitgrößter Stadt Medellin. Das Team bestand aus demobilisierten Guerillakämpfern der FARC (Revolutionary Armed Forces of Colombia), Universitätsforschern, UN-Friedenstruppen und Einheimischen aus der Gemeinde. 

Der Plan: Sie wollten sich einen Überblick über die Pflanzen, Vögel, Säugetiere, Insekten, Reptilien und Amphibien des tropischen Regenwalds verschaffen, der der Außenwelt bis 2017 größtenteils verschlossen blieb. 

Ein Füllhorn der Artenvielfalt 

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Kolumbien ist weltweit das Land mit der zweitgrößten Biodiversität – nur Brasilien weist eine noch größere biologische Vielfalt auf. Die Gemeinde Anorí befindet sich genau zwischen zwei Biodiversität-Hotspots. 

„In Sachen Biodiversität befinden wir uns wirklich an einem spektakulären Ort. Wenn wir uns eine Karte der biologischen Vielfalt in Kolumbien ansehen, erkennen wir dort zwei Orte, die herausstechen: die Anden und die Region Pacific/Chocó“, sagte der Biologieprofessor Juan Fernando Diaz. „Anorí befindet sich genau an dem Punkt, an dem sich die beiden treffen“, erzählte er – beste Voraussetzungen für den Fund vieler Arten, von denen einige bislang unentdeckt sein könnten. 

Zwei Biologen überqueren einen Fluss mit Hilfe von Ziplines – ein „Arbeitsweg“, den die lokalen Bauern jeden Tag benutzen.
Foto von Federico Rios, National Geographic

Der Erhalt dieses „Biodiversitätswunders“ war eine unbeabsichtigte Konsequenz des bewaffneten Konflikts mit der ältesten und größten Guerillagruppe Lateinamerikas, sagte Carlos Ivan Lopera, der Koordinator des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen. 

Seit den Siebzigern hat der Konflikt zwischen den linken Rebellen, den rechten Paramilitärs den staatlichen Behörden mehr als 260.000 Menschen das Leben gekostet. Noch immer werden etwa 83.000 vermisst und 7,4 Millionen waren gezwungen, ihr Zuhause auf der Flucht zu verlassen. Die Situation hat es für Biologen unmöglich gemacht, die Region zu besuchen und eine Erhebung der dortigen Arten durchzuführen. Ein geschichtsträchtiges Friedensabkommen ermöglichte es den demobilisierten FARC-Mitgliedern ab 2016 jedoch, ausgewählte Gruppen in die entlegenen Wälder zu führen, erklärte Lopera.  

Die Zählung der Tiere

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FARCs Präsenz in Anorí hat die großflächige Entwicklung der Region verhindert, aber ebenso die Zerstörung der Landschaften und Lebensräume. 

„Es geht darum, den natürlichen Artenreichtum zu entdecken, der infolge des bewaffneten Konflikts in Kolumbien bisher nicht von institutionellen Akteuren und Wissenschaftlern erkundet werden konnte“, sagte Lopera. „Ohne das Friedensabkommen und die Zusammenarbeit mit den ehemaligen Kämpfern wäre diese Mission einfach nicht möglich.“ 

Die Expedition ist eine von insgesamt 20, die von der kolumbianischen Regierung im Rahmen des Programms Colombia Bio gefördert werden. Ziel der Initiative ist es, ein größeres Bewusstsein und Verständnis für die biologische Vielfalt und die natürlichen Ressourcen des Landes zu schaffen. Ein weiteres Ziel ist die nachhaltige Nutzung dieser Ressourcen durch Wissenschaft, Technologie und Innovationen – insbesondere in Regionen wie Anorí, die während des Konflikts nicht zugänglich waren.

Eine „Chiva“ bringt die Forscher und ehemaligen FARC-Rebellen von Anorí nach La Tirana, wo die eigentliche Reise beginnt.
Foto von Federico Rios, National Geographic

In den Tiefen des Waldes 

Das Forschungsteam machte sich von La Plancha aus auf den Weg, einem von den Vereinten Nationen überwachten Camp. Mit einem bunten Bus vom Typ Chiva ging es an Holzhütten vorbei, an denen gesprayte Botschaften signalisierten, dass eine Rebellengruppe noch immer in der Gegend aktiv ist: „ELN 52 Jahre Kampf ... willkommen.“ Die National Liberation Army (ELN), Kolumbiens letzte noch aktive Guerillagruppe, befindet sich seit 18 Monaten in Friedensgesprächen mit der Regierung, die im kubanischen Havanna stattfinden. 

Nach vier Stunden Fahrt über eine schmale, unbefestigte Straße war der erste Anlaufpunkt das Dorf La Tirana. Der Präsident des Gemeinderats Ricardo Suárez (Name zum Schutz seiner Identität geändert) erklärte, dass die lokale Wirtschaft hauptsächlich auf der Viehzucht und dem größtenteils illegalen Goldabbau fußt. Beides ist für das Waldökosystem enorm schädlich. 

Ein Maultierführer erreicht das Camp mit Säcken voller Ausrüstungsgegenstände.
Foto von Federico Rios, National Geographic

„Niemand lässt sich gerne die Butter vom Brot nehmen“, sagte Suárez. „Man kann sich leicht vorstellen, dass man bedroht, verletzt oder vertrieben wird, wenn man sich gegen die Zerstörung ausspricht.“ 

Laut einem Bericht der gemeinnützigen Organisation Global Witness ist Kolumbien das drittgefährlichste Land der Welt für Umweltaktivisten. Allein im Jahr 2017 wurden dort 30 Menschen ermordet, die sich für den Schutz der Natur und indigenen Bevölkerung eingesetzt haben.

Ein paar Tage später erhielt das Team schließlich die Erlaubnis, den Wald zu betreten, den es erkunden wollte. Mit vollgepackten Maultieren machten sie sich auf den Weg. 

Die steinigen Straßen wanden sich durch steile Flusstäler und fast vertikale Pfade hinauf, die in den dicken Matsch eingetreten waren. Nach fünf Stunden zu Fuß kam das Team an einem Camp an, das von dem Einheimischen Obed Quiroz vorbereitet worden war.

Jorge Blanco Escobar bereitet sein Equipment in seiner Baracke im Expeditionscamp vor. Escobar ist ein Bauer aus Solano und einer der einheimischen Führer, die das Expeditionsteam durch den unerforschten Dschungel begleiten.
Foto von Federico Rios, National Geographic

„Seht mal, was wir gestern mitgebracht haben“, sagte Quiroz und zeigte auf ein silbriges Palmenblatt mit langen, klingenähnlichen Blättern, die sich kreisförmig von einem zentralen Punkt aus auffächerten. 

Der Biologieprofessor Dino Tuberquia von der CES University in Medellin erklärte, dass es sich wahrscheinlich um den ersten Beleg für eine Palme der Art Chelyocarpus dianeurus in der Region handeln könnte. Womöglich sei es sogar eine neue Art. Die Bäume können bis zu sechs Meter hoch werden und bilden riesige runde Blätter mit bis zu zwei Metern Durchmesser aus. Zuvor war lediglich ein Bestand in einem kleinen Bereich von Kolumbiens Pazifikküste bekannt.

Obed Quiroz (links) und Lina Bolivar (rechts) sind Teil des Botanikerteams. Ihnen zufolge ähneln diese Blätter denen der Palmenart Chelyocarpus dianeurus, weisen aber signifikante Unterschiede auf. Das lässt vermuten, dass es sich um eine neue Art handelt. Das Team glaubt, auf der Expedition mindestens fünf neue Pflanzenarten entdeckt zu haben. Um das zu bestätigen, ist aber noch weitere Forschung nötig.
Foto von Federico Rios, National Geographic

Quiroz wuchs ganz in der Nähe mit seinen Großeltern auf und sagte, dass er immer ein besonderes Verhältnis zum Palmen hatte. 

„Unser Überleben hängt von den Palmen ab“, erzählte er. „Wir haben Besen direkt aus den Palmen hergestellt und dadurch konnten wir Essen und Kleidung kaufen.“ 

Seither ist Quiroz in den Goldbergbau gewechselt, möchte aber wieder in den Wald zurückkehren. „Als mein Großvater gestorben ist, endete auch meine Arbeit mit den Palmen“, sagte er. „Ich würde gern wieder mit Palmen arbeiten, aber diesmal, um sie für künftigere Generationen zu schützen und zu erhalten.“ 

Diese auffallende Blüte gehört einer Kletterpflanze namens Thoracocarpus bissectus.
Foto von Federico Rios, National Geographic

Das Botanikerteam identifizierte in dem untersuchten Bereich auch die vom Aussterben bedrohte Wachspalme Ceroxylon sasaimae. Die berühmte Pflanze wurde erst 2011 in der Wildnis wiederentdeckt. Schätzungen zufolge existieren weltweit nicht mehr als 200 Exemplare. 

Im Rahmen der Expedition entdeckten die Forscher außerdem eine auf Bäumen lebende Mäuseart, zwei blühende Palmen und eine Orchideenart. Einige ihrer Funde könnten der Wissenschaft bislang unbekannt sein.

Ein Wissenschaftler des Teams sucht im Blätterdach nach Tieren.
Foto von Federico Rios, National Geographic

Eine Zukunft für Wald und Mensch 

Die ehemalige FARC-Kämpferin Olga Torres, Spitzname Monica, hofft, dass die wissenschaftlichen Entdeckungen langfristige Vorteile für die Wälder, die Gemeinde und die ehemaligen Kämpfer mit sich bringen. Torres malt sich aus, dass die Einheimischen eines Tages wissenschaftliche Tourismusprojekte auf die Beine stellen könnten, beispielsweise einen botanischen Garten oder eine Gärtnerei, in der seltene einheimische Arten gezüchtet und an Sammler verkauft werden können. 

„Der Staat wird beim Erhalt dieses Waldes eine Rolle spielen müssen, aber nicht in Form repressiver Maßnahmen wie dem gewaltsamen Vorgehen gegen illegale Bergbauarbeiter“, sagte Torres. 

„Der einzige Weg, um das zu erreichen, besteht darin, zusammenzuarbeiten und eine neue politische und wirtschaftliche Struktur zu etablieren, die es uns ermöglicht, Essen auf den Tisch zu bringen, ohne den Wald abzuholzen.“  

Dieser Teil Kolumbiens zählt zu den artenreichsten Regionen der Welt. Die Einheimischen hoffen, dass seine Naturschätze bewahrt werden können, während gleichzeitig wirtschaftliche Möglichkeiten in Form von botanischen Gärten und Gärtnereien geschaffen werden.
Foto von Federico Rios, National Geographic

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht. 

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