Das Ende des Mülls: Ist eine Kreislaufwirtschaft die Lösung?
Die Vision einer Kreislaufwirtschaft, die Rohstoffe spart und immer wieder verwendet, beschäftigt Unternehmer wie Umweltschützer. Die Frage ist: Schaffen wir das?
Ein verlassener Wasserpark in Rotterdam ist heute ein Testfeld für Start-ups, die eine Kreislaufwirtschaft schaffen wollen. Die Entwickler züchten Pilze auf Kaffeesatz, verwandeln Obstabfälle in Leder und stellen Handtaschen und Kleider aus Fahrradreifen her.
In Amsterdam traf ich einen Mann, der mir die verborgenen Ströme unseres Lebens offenbarte – die gewaltige Bewegung an Rohstoffen und Produkten, die 7,7 Milliarden Menschen verursachen. Unseren gemeinsamen Stoffwechsel, könnte man sagen, mit allen nützlichen wie schädlichen Erscheinungen. Es war ein frischer Herbstmorgen, und ich saß in einem prächtigen Backsteinbau am Oosterpark. Vor einem Jahrhundert, als die Holländer noch Kaffee, Gummi und Öl aus ihren indonesischen Kolonien holten, wurde dieses Haus für ein koloniales Forschungsinstitut erbaut. Jetzt beherbergt es verschiedene Einrichtungen wie die gemeinnützige Organisation Circle Economy, die Teil einer internationalen Bewegung ist und so ziemlich alles verändern will, was wir in den letzten beiden Jahrhunderten angerichtet haben.
Die Mutter aller Umweltprobleme
Marc de Wit ist einer ihrer Mitarbeiter. 39 Jahre alt, freundlich, ein bisschen verstrubbelt, Brillenträger, ausgebildeter Chemiker. Er schlug eine Broschüre auf und breitete ein Diagramm aus, das er „ein Röntgenbild unserer globalen Ökonomie“ nannte. Anders als natürliche Ökosysteme, die zyklisch funktionieren – Pflanzen wachsen in der Erde, Tiere fressen Pflanzen, Dung regeneriert den Boden –, ist die industrielle Ökonomie weitgehend linear. In dem Diagramm repräsentierten dicke farbige Linien die Ströme der vier Arten von Rohstoffen: Mineralien, Erze, fossile Brennstoffe und Biomasse. Sie verliefen von links nach rechts steil aufwärts, trennten und verflochten sich, während sie zu Produkten wurden, die sieben menschliche Bedürfnisse befriedigen. In einem einzigen Jahr ernteten wir 20,1 Milliarden Tonnen Biomasse, nur um uns alle zu ernähren. Fossile Brennstoffe versorgten Fahrzeuge mit Energie, hielten uns warm, wurden zu Plastik und zu allen möglichen Produkten. Der gesamte Stoffstrom, den die Wirtschaft 2015 bewegte, betrug 92,8 Milliarden Tonnen. So weit, so gut. Erstaunlich sogar. Doch was danach passiert, wenn unsere Bedürfnisse befriedigt sind, das ist das Problem, genau genommen die Mutter aller Umweltprobleme.
Das Pilotprojekt Clearas in Montana nutzt Algenblüten, um Abwasser von Schadstoffen zu befreien. Mit den Algen werden auch sie herausgefiltert. Die entstandene Biomasse kann dann für andere Zwecke recycelt werden.
Der Circularity Gap
De Wit zeigte auf den grauen Nebel am rechten Rand des Diagramms. Der graue Nebel, das war der Abfall. Etwa zwei Drittel der Rohstoffe, die wir 2015 aus dem Planeten gewonnen hätten, seien uns durch die Finger geronnen. Über 61 Milliarden Tonnen mühsam gewonnenes Material seien verloren gegangen, das meiste davon unwiederbringlich in alle Richtungen verstreut. Plastikmüll trieb in die Flüsse und Meere. Auch Nitrate und Phosphate gelangten von gedüngten Feldern dorthin. Ein Drittel aller Lebensmittel verrottete, während gleichzeitig der Amazonas für mehr Anbauflächen abgeholzt wurde. Jedes Umweltproblem habe sehr wahrscheinlich irgendwie mit Abfall zu tun, der Klimawandel eingeschlossen: Der ist entstanden, weil wir fossile Brennstoffe nutzen und den Abfall – Kohlendioxid – in die Atmosphäre blasen. Als de Wit mir an jenem Morgen geduldig die Zahlen erklärte, fühlte sich das wie eine Erleuchtung an. Das ausgeklügelte Diagramm war in seiner Aussage von beglückender Klarheit: Die Bedrohungen, vor denen wir stehen, sind vielfältig und überwältigend. Sie sind astronomisch in ihren Ausmaßen. Um auf dieser Erde zurechtzukommen, müssen wir nur eines tun: aufhören, so viel zu verschwenden. De Wit zeigte auf einen dünnen Pfeil, der am unteren Rand des Diagramms in die Gegenrichtung von rechts nach links verlief. Er repräsentierte die Stoffmenge, die wir per Recycling, Kompostieren und so weiter auffangen konnten. 8,4 Milliarden Tonnen, nur neun Prozent des gesamten Abfalls. Der „Circularity Gap“, die „Kreislauf-Lücke“, wie de Wit und seine Kollegen es nannten, als sie 2018 ihren Bericht beim Weltwirtschaftsforum in Davos vorlegten, ist ein relativ neues Phänomen in der Menschheitsgeschichte. Es geht zurück auf unsere industrielle Nutzung fossiler Brennstoffe im 18. Jahrhundert. Bis dahin wurde das meiste, was Menschen taten, mit Muskelkraft geschafft, menschlicher oder tierischer. Etwas anzubauen, herzustellen oder zu transportieren war Schwerstarbeit, und das machte es kostbar. Unsere beschränkte physische Energie begrenzte auch den Schaden, den wir dem Planeten zufügen konnten. Andererseits blieben die meisten Menschen dadurch sehr arm. Billige fossile Energie änderte das alles. Es wurde leichter, überall Rohstoffe auszubeuten, sie in Fabriken zu transportieren und die Waren zu verschicken, egal wohin. Im letzten halben Jahrhundert hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdoppelt, und zugleich hat sich die Menge an Material, die durch die Ökonomie fließt, mehr als verdreifacht – und damit auch die Kreislauf- Lücke vergrößert, also die Menge jener Stoffe, die wir nicht wiederverwenden. „Wir kommen jetzt an die Grenzen“, sagt de Wit. In eben diesem halben Jahrhundert haben Umweltschützer immer wieder vor den Grenzen des Wachstums gewarnt.
Kreislaufwirtschaft als Strategie
Die Verfechter der Kreislaufwirtschaft denken anders. Sie propagieren ein ganzes Bündel an Strategien – einige alt wie reduzieren, wiederverwenden und recyceln, und einige neu wie Dinge zu leihen statt zu besitzen. Zusammen sollen sie die globale Ökonomie umgestalten, um den Abfall abzuschaffen. Ziel der Kreislaufwirtschaft ist nicht, das Wachstum zu beenden, sondern die Art, wie wir Dinge tun, wieder in Einklang mit der Natur zu bringen, sodass die Wirtschaft weiter wachsen kann. „Wohlstand in einer Welt mit endlichen Ressourcen“, wie es der ehemalige EU-Umweltkommissar Janez Potočnik einmal formulierte. Es hieß, die Kreislaufwirtschaft könnte den europäischen Unternehmen bis zu 630 Milliarden Euro an Einsparungen bringen. Die Idee setzt sich durch, besonders im dicht bevölkerten, reichen, aber ressourcenarmen Europa. Die Europäische Union investiert Milliarden in die Strategie. Die Niederlande haben sich verpflichtet, bis 2050 ganz auf Kreislaufwirtschaft umzustellen. Amsterdam, Paris und London haben Pläne. „Sie muss kommen“, sagtWayne Hubbard vom London Waste and Recycling Board.
Ein Unternehmen im italienischen Prato recycelt alte Wollpullover: Ein Karbonisator verwendet Schwefelsäure, um Zellulose und Verunreinigungen wie Baumwollstiche zu verbrennen, die die Qualität der Wolle beeinträchtigen könnten.
Das Märchen vom Ende des Abfalls?
Ein Mann, der von der Umsetzbarkeit überzeugt ist und dessen Arbeit sich für viele andere als Offenbarung herausgestellt hat, ist der amerikanische Architekt William McDonough. Mit dem deutschen Chemiker Michael Braungart, von dem später die Rede sein wird, schrieb er 2002 das visionäre Buch „Cradle to Cradle: Einfach intelligent produzieren“. Darin steht, Produkte und ökonomische Prozesse könnten so gestaltet werden, dass sämtlicher Abfall „Futter“ wird, also Stoff für etwas anderes. Ehe ich mich auf den Weg nach Europa machte, fuhr ich zu McDonoughs Büro in Charlottesville, Virginia. Dort saß ich auf einem Designer-Bürostuhl, der mit dem ersten Produkt gepolstert ist, das er und Braungart je entwickelt haben: einem Stoffmix aus Wolle und Fasern der Ramiepflanzen. Beide Männer legten Wert auf die Tatsache, dass der Stoff essbar sei. Unser Gespräch sprang hin und her zwischen seiner Kindheit in Tokio, Platon, Aristoteles und dem Architekten und Visionär Buckminster Fuller – bis zu neuen kompostierbaren Jeans, für die McDonough sich begeisterte. Dann konnte ich ihm endlich die brennende Frage stellen: Ist dieses ganze Gerede über das Ende des Abfalls unrealistisch? Ein Luftschloss? „Absolut unrealistisch, keine Frage“, sagte McDonough. „Aber man braucht Luftschlösser, um vorwärtszukommen.“ Wenig später holte ich meinen alten Rollkoffer von der Reparatur und packte die zertifizierte Cradle-to-Cradle-Jeans ein, die William McDonough mir geschenkt hatte, um Hinweisen auf die Kreislaufwirtschaft nachzugehen.
Maschinen wiederzuverwenden ist eine bewährte Methode, um Abfall zu reduzieren. Auf der Davis-Monthan Air Force Base in Tucson lagern fast 3 300 ausrangierte Flugzeuge und Hubschrauber der US-Regierung.Viele Fluggeräte dienen als Ersatzteillager oder werden instand gesetzt und wieder in Betrieb genommen.
Der Ausweg: Abfall wird zum Rohstoff
Der Falle zu entkommen, in die wir mit der linearen Wirtschaft geraten sind, zurück zu einer Wirtschaft, die nach dem Vorbild der Natur funktioniert, wird eine Menge „divergentes Denken“ erfordern, wie Psychologen es nennen. In Kopenhagen machte ich Station, um die neue städtische Verbrennungsanlage zu bewundern, die Müll in Energie verwandelt – und Wintersportfans glücklich macht: Auf ihrem Dach befindet sich eine Skipiste. Doch mein eigentliches Ziel war der Hafen der Provinzstadt Kalundborg, eine Art Ikone der Kreislaufwirtschaft. Dort saß ich in einem überfüllten Konferenzsaal mit Managern von elf Industriebetrieben, allesamt selbstständige Unternehmen, die mit der „Kalundborg Symbiosis“ eine ungewöhnliche Partnerschaft eingegangen sind: Der Abfall des einen wird zum Rohstoff des anderen.
Der Vorstandsvorsitzende der Kooperation, Michael Hallgren, leitet ein Werk von Novo Nordisk, das die Hälfte des weltweiten Insulinbedarfs produziert – und zusammen mit dem Schwesterunternehmen Novozymes 300 000 Tonnen Hefeabfall. Diese Schlämme werden zu einer Bioenergieanlage nebenan transportiert und dort von Mikroorganismen in Biogas verwandelt. Die Anlage liefert Strom für 6000 Haushalte und Dünger für fast 20 000 Hektar. Und das ist nur die letzte von 22 Abfalltauschaktionen von Wasser, Energie und Materialien in Kalundborg. Geplant sei das nicht gewesen, sagte Lisbeth Randers, die Symbiosis-Koordinatorin der Stadt. Das Projekt sei über vier Jahrzehnte gewachsen, eine bilaterale Vereinbarung nach der anderen getroffen worden. Ein Unternehmen, das Gipskartons produziert, siedelte sich in Kalundborg an, unter anderem, weil Abgas von der Ölraffinerie als billige Energiequelle vorhanden war. Später beschaffte das Unternehmen sich Gips, der in einem nahe gelegenen Kohlekraftwerk bei der Rauchgasentschwefelung anfällt.
Galerie: Fotos von Tieren in einem Meer voller Plastik
All das geschah zuerst nicht aus Umweltschutzgründen, doch die Kalundborg Symbiosis, so Randers, reduziere die Kohlendioxidemissionen um 635 000 Tonnen pro Jahr und spare den Mitgliedern 24 Millionen Euro. In Westfalen gibt es einen berühmten Schinken und nicht zufällig viele Schweine. Hier hat Doris Nienhaus, die für den Bauernverband arbeitet, eine Lösung für eines der größten Probleme der Region gefunden: zu viel Schweinegülle. Wenn zu viel Gülle auf den Feldern ausgebracht wird, gelangt Nitrat in das Grundwasser. 27 Prozent der deutschen Grundwasserkörper sind laut Umweltbundesamt mit Nitrat verunreinigt. Die Viehhalter im Kreis Borken, wo Doris Nienhaus lebt, müssen ihre Gülle daher in weit entfernte Regionen transportieren lassen, die nicht überdüngt sind. 36 000 Euro im Jahr zahlt ein typischer Familienbetrieb für den Gülletourismus. „Irgendwann ist das nicht mehr wirtschaftlich“, sagte Nienhaus. Nienhaus ist keine Ingenieurin, und doch funktioniert ihre Lösung im industriellen Maßstab: Es ist eine Anlage, die Mineraldünger – Phosphor, Stickstoff und Kalium – aus der Gülle gewinnt. Sie konnte 90 Bauern davon überzeugen, Miteigentümer zu werden und 7,5 Millionen Euro zu investieren.
Die auf ihren Höfen anfallende Gülle wird in einer Biogasanlage von Mikroorganismen verstoffwechselt. Das entstandene Biogas erzeugt im Blockheizkraftwerk Strom und Wärme, wobei überschüssiger Strom ins Netz eingespeist wird. Das übrigbleibende Gärprodukt wird mit riesigen Zentrifugen und einem speziellen Polymer in eine feste und eine flüssige Phase getrennt. Die flüssige Phase ist reich an Stickstoff und Kalium und wird als Flüssigdünger verwendet. Die feste Phase kommt in eine Verbrennungsanlage. Übrig bleibt eine graurosafarbene Asche, die zu 35 Prozent aus Phosphor besteht. Das Werk werde keinen Abfall produzieren, so Nienhaus. Bei meinem Besuch war es in der Testphase. Nienhaus präsentierte ihre erste Partie Phosphorasche in einer kleinen Schüssel – wie Körnchen aus einem Goldfund. Früher betrieb jeder Bauer Kreislaufwirtschaft. Er hielt nur so viel Nutzvieh, wie das eigene Land ernähren konnte, und diese Tiere schieden nicht mehr Kot aus, als der Boden aufnehmen konnte. Industrielle Nutztierhaltung durchbrach diesen Kreislauf. Anlagen wie die von Doris Nienhaus könnten den Kreis wieder schließen.
Als der US-Amerikaner Eben Bayer 2006 seine Erfindung machte, war er Maschinenbaustudent. Er besuchte ein Seminar für angehende Erfinder, er hatte „Cradle to Cradle“ gelesen, und das Problem, mit dem er sich beschäftigte, waren giftige Kleber in Spanplatten und Glasfasern. Bayer war auf einer Farm in Vermont aufgewachsen und hatte viele Stunden damit verbracht, bei der Herstellung von Ahornsirup Holzschnitzel in einen Heizkessel zu schaufeln. Die Holzschnitzel klebten zusammen – offenbar weil sie von einem Pilzmyzel besiedelt waren, dem dichten Netz von mikroskopischen Fasern, den Wurzeln von Pilzen. Bayer fragte sich: Könnten Pilze einen harmlosen Klebstoff produzieren? Das erste Produkt, das er und sein Partner Gavin McIntyre für ihr Start-up Ecovative Design herstellten, war Verpackungsmaterial. Sie impften gemahlene Hanffasern oder Holzschnitzel mit kleinen Mengen eines Myzels, und die winzigen weißen Wurzeln füllten die Lücken zwischen den Partikeln, verflochten und verklebten sie. Die beiden fanden heraus, dass man diesen Stoff in jeder beliebigen Form züchten kann. Er hört auf zu wachsen, wenn man ihm die Feuchtigkeit entzieht. Wenn man ihn nicht mehr braucht, kann man ihn kompostieren. In den letzten zehn Jahren hat Ecovative über 450 000 Kilogramm Verpackungsmaterial für Kunden produziert, die bereit sind, für Nachhaltigkeit ein wenig mehr zu zahlen. In letzter Zeit haben sie sich Größerem zugewendet – Dingen, die zu 100 Prozent aus Pilzen bestehen. Im Boden bildet das Myzel Schichten aus einem Geflecht wurzelähnlicher Fäden; wenn es an die Luft kommt, bildet es Pilze. Ecovative fand heraus, wie man das Myzel dazu bringen kann, eine stabile Mikroschicht nach der anderen zu produzieren. „Das ist wie ein biologischer 3-D-Drucker“, sagt Bayer. Mit dem Geld von Investoren sowie 9,2 Millionen Dollar der DARPA, der Forschungsagentur des US-Verteidigungsministeriums, baut Ecovative ein Labor aus und will herausfinden, wie man alle möglichen Dinge züchten kann – Schuhsohlen, veganes Leder, künstliche Steaks – aus Myzel. In der Cradle-to-Cradle-Vision existiert Abfall nicht einmal als Konzept. Alles Material ist entweder gut konstruierter „technischer Nährstoff“, der endlos recycelt werden kann, oder ein biologischer, den man gefahrlos essen oder kompostieren kann. Bayer teilt diese Ansicht – wettet aber, dass in Zukunft die meisten Dinge biologisch sein werden. „Biologisch gewonnene Stoffe passen zur Funktionsweise der Erde“, sagt er. „Das Raumschiff Erde kann das Zeug verdauen.“
Jenseits von Gut und Böse
Der ganze Müll, den wir produzieren, ist kein Zeichen dafür, dass wir böse sind. Es ist ein Zeichen dafür, dass wir ein bisschen dumm sind, sagte Michael Braungart mir in seinem Büro in Hamburg. Er hatte seine Karriere als Greenpeace-Aktivist begonnen, Proteste vor Chemiewerken organisiert und seitdem viele Unternehmen beraten. „Mit Cradle-to-Cradle kämpfen wir gegen ein kulturelles Erbe, das auf religiösen Überzeugungen beruht“, sagte er. Das Vermächtnis, das monotheistische Religionen dem Umweltschutz hinterlassen haben, so Braungart, sei die Idee, dass die Natur gut sei und die Menschen mit ihrem Einfluss auf die Natur grundsätzlich böse. Das Beste, was wir tun können, sei Schadensbegrenzung. Für Braungart ist diese Idee fehlgeleitet und unzureichend. Der Chemiker ist überzeugt, dass wir die Natur verbessern können. Einmal entwarf er eine biologisch abbaubare Eiscremeverpackung, die Samen seltener Pflanzen enthielt und bei Raumtemperatur schmilzt. Man könnte sie wegwerfen, und etwas Schönes würde daraus erwachsen.
Außerhalb von Amsterdam besuchte ich den neun Hektar großen Büropark Park 20/20. McDonoughs Unternehmen hatte ihn geplant, und Braungart war an der Auswahl der Materialien beteiligt. Park 20/20 ist zu etwa drei Vierteln fertig, die Fassaden sind abwechslungsreich und fantasievoll gestaltet, die Plätze sonnig und einladend; die Energie ist komplett erneuerbar, das Abwasser wird vor Ort behandelt und recycelt. Eines der coolsten Merkmale ist weniger sichtbar: Anstelle üblicher Böden aus Betonplatten haben die Gebäude dünnere Hohlböden mit Stahlträgern. Das bedeutet, sieben Stockwerke passen in die übliche Höhe von sechs Etagen. 30 Prozent weniger Material werden benötigt. Im Winter fließt aus dem benachbarten Kanal warmes Wasser, das seit dem vorhergehenden Sommer unterirdisch gespeichert wurde, durch die Fußbodenheizungen und heizt den jeweils darüber liegenden Raum. Im Sommer fließt kühles Kanalwasser vom vorhergehenden Winter durch Rohre in den Zimmerdecken und kühlt die Räume. Anders als Betonplatten sind die vorgefertigten Boden-Decken-Platten so konstruiert, dass man sie zerlegen und wiederverwenden kann, sollte das Gebäude umgestaltet oder abgerissen werden müssen. Die Gebäude im Park 20/20 sind „Materiallager“, anderswo landet Bauschutt auf Deponien und macht dort die größte Abfallmenge aus.
Der Traum von der Kreislaufwirtschaft inspiriert viele Menschen, coole Sachen zu machen. Aber ich muss diese Reise leider mit einer Enttäuschung beenden: Noch ist es nicht so weit. Richtet man den Blick fort von den Lichtblicken auf die nackten Zahlen, die der Holländer de Wit gezeigt hat, dann sieht man die „Kreislauf-Lücke“ wachsen. Sie schrumpft nicht. Unsere Nutzung natürlicher Ressourcen könnte sich bis 2050 verdoppeln. Unsere Kohlendioxidemissionen steigen weiter. „Ob es schnell genug geht? Nicht wirklich“, sagt Marc de Wit. „Alle Indikatoren sind im roten Bereich.“ Der Aufbau einer Kreislaufwirtschaft wird einen gewaltigen kulturellen Paradigmenwechsel erfordern, im Ausmaß vergleichbar mit der industriellen Revolution. „Man braucht Stehvermögen“, bestätigt de Wit. „Mein Gefühl sagt mir: Wir schaffen das nicht, solange die jetzige Generation am Ruder ist.“ Es war meine Generation, die er möglichst schnell absetzen wollte. Aber ich nahm das nicht persönlich. Stimmt – wir werden die Radieschen schon lange von unten betrachten, bevor die Kreislaufwirtschaft da ist. Aber auf diese Weise tragen wir ja auch ein bisschen dazu bei.
Aus dem Englischen von Karin Rausch.
Der Artikel erschien in voller Länge in der März 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins. Jetzt ein Abo abschließen
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