Solastalgie: Ein Wort, das es gar nicht geben sollte

Verändert sich die Heimat durch Umweltzerstörung, erleiden wir einen emotionalen Schmerz, der mit dem Gefühl von Heimweh vergleichbar ist.

Von Pete Muller
Veröffentlicht am 20. Mai 2020, 14:00 MESZ
Zerstörte Siedlung  in Paradise nach Großbrand

Die Siedlung in Paradise, Kalifornien, wurde 2018 durch das sogenannte Camp Fire zerstört. Der verheerendste Großbrand in der Geschichte des Bundesstaats forderte 86 Todesopfer, machte Zehntausende obdachlos und fast den gesamten Ort Paradise (Bevölkerungszahl: 26 800) dem Erdboden gleich.

Foto von Kara Capaldo, Stock.adobe.com

Als Kohleminen Anfang der 2000er Jahre tiefe Furchen ins australische Hunter Valley fraßen, fing das Telefon in Glenn Albrechts Büro an zu läuten. Der Professor für Environmental Studies wollte mehr über die emotionalen Auswirkungen des Tagebaus auf die Anwohner erfahren. Früher war die Region für ihre malerischen Felder, Farmen und Weingüter bekannt gewesen. Der Kohlebergbau gehörte zur regionalen Wirtschaft, doch hatte er sich rasant ausgebreitet, seit das Tal aufgrund wachsender weltweiter Nachfrage und neuer Fördermöglichkeiten von einer Welle neuer Bergbaubetriebe überrollt wurde.

Anwohner erzählten Albrecht von Sprengungen, die den Boden wanken ließen, vom ständigen Dröhnen der Maschinen, dem gespenstischen Leuchten der Industriescheinwerfer, die die Nacht erhellten, und von schwarzem Staub, der durch alle Ritzen drang und ihre Häuser außen wie innen mit einem dicken Rußfilm überzog. Sie sorgten sich um die Luft, die sie atmeten, und um das Wasser, das sie tranken. Ihre Heimat verschwand, und sie fühlten sich der fortschreitenden Zerstörung machtlos ausgeliefert. Einige Bewohner des Tals prozessierten, um dem Abbau Grenzen zu setzen, gleichzeitig waren viele auf die Arbeitsplätze in den Minen angewiesen. Die finanzstarken Bergwerksbetreiber setzten letztlich ihre Interessen durch. Die Landschaft und mit ihr ein Großteil des darauf bestehenden Sozialgefüges wurde zum Kollateralschaden.

Mit der Ausdehnung der Minen registrierte Albrecht einen Grundtenor in den emotionalen Reaktionen der Talbewohner: Sie wussten, dass die Zechen Ursache ihres Leids waren, doch fiel es ihnen schwer, die Gefühle in Worte zu fassen. „Niemand hatte die Heimat verlassen,“ sagt Albrecht „trotzdem schienen sie unter einer Art Heimweh zu leiden.“ Die physische Zerstörung des Tals zersetzte das Heimatgefühl, das die Menschen empfunden hatten. Und während die Minen immer mehr grüne Felder grau färbten, gab Albrecht dem Verlustempfinden einen Namen: „Solastalgie“ bezeichnet den Schmerz über den Verlust tröstlicher heimatlicher Geborgenheit. Zusammengesetzt ist die Wortschöpfung aus dem lateinischen solacium („Trost“) und dem altgriechischen algos („Schmerz“).

Die Mount-Thorley-Warkworth-Mine ist nur eine von mehreren „Super Pit Clusters“, einer Konzentration mehrerer Kohleminen, im australischen Hunter Valley. Die Zeche ist 365 Tage im Jahr in Betrieb und gibt rund 1300 Menschen Arbeit. Viele Anrainer sagen, die gigantische Mine habe bei ihnen ein Gefühl großer Trauer ausgelöst. „Es ist Trauer um das, was war, was hätte sein können und nun niemals sein wird,“ sagt eine Anwohnerin.

Foto von Taras Vyshnya, Stock.adobe.com

Neologismen: Wenn Sprache nicht ausreicht

Das ungewöhnliche Wort begegnete mir mehr als ein Jahrzehnt später in einem Film über Dürrekatastrophen. Eine Online-Recherche erbrachte Zehntausende Treffer: wissenschaftliche Artikel, Konferenzen und Zeitungsberichte. Der Begriff Solastalgie hatte Eingang in die Kunstszene gefunden. Es gab eine Skulpturenausstellung in New Jersey, ein Popalbum in Australien, ein klassisches Konzert in Estland – alles inspiriert von Albrechts Wortschöpfung. Wir alle wissen, dass der Mensch unseren Planeten verändert, doch hier, in diesem neuen Wort, fand sich ein Hinweis darauf, wie diese Veränderungen wiederum uns verändern. „Wenn die Sprache nicht ausreicht, um die Dinge angemessen beschreiben und verstehen zu können – nun, dann müssen wir eben einen Begriff dafür erfinden“, sagt Albrecht. Insbesondere, wenn das Gefühl „intensiv und unverwechselbar ist, es weltweit in verschiedensten Zusammenhängen erlebt und wahrscheinlich seit Tausenden von Jahren unter ähnlichen Umständen erlebt wird.“ 

BELIEBT

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    Unwiederbringliche Zerstörung

    Seit Menschengedenken haben Überschwemmungen, Großbrände, Erdbeben und Vulkanausbrüche ebenso wie expandierende Kulturen und Armeen lieb gewonnene, vertraute Landschaften dauerhaft verändert und bestehende Gesellschaften zerstört. Die Industrielle Revolution veränderte die Landschaften durch wachsende Städte, Eisenbahnen und Fabriken. Als im 19. Jahrhundert das Hudson Valley in New York gerodet wurde, um Platz für Ackerbau und den Aufbau einer blühenden Gerberei-Industrie zu schaffen, beklagte der Maler Thomas Cole die Zerstörung seiner geliebten Wälder: „Ich kann nicht umhin, meinen Kummer darüber zum Ausdruck zu bringen, dass die Schönheit solcher Landschaften so rasch vergeht“, schrieb er. „Das Wüten der Äxte nimmt von Tag zu Tag zu – die prächtigsten Landstriche werden verwüstet, oftmals mit einer Schamlosigkeit und Grausamkeit, wie man sie bei einer zivilisierten Nation kaum für möglich halten möchte.“

    Meine Mutter wuchs auf Long Beach Island auf, einer schmalen, sandigen Landzunge vor der Südküste des US-Bundesstaates New Jersey. In den dortigen unberührten Feuchtgebieten entdeckte sie ihre Liebe zur Flora und Fauna und zum Meer, die sie ihr Leben lang begleiten sollte. In den 1950er-Jahren jedoch griff die Immobilienentwicklung um sich: Immer mehr wohlhabende Urlauber kauften hier Land und errichteten Ferienhäuser. „Ich ahnte sofort, was sich da abspielte“, sagte sie. „Ich war wütend. Immer wieder zog ich die Stöcke der Landvermesser aus dem Boden.“ Binnen weniger Jahrzehnte war die Vergangenheit nur noch in den Nestern der Fischadler erkennbar. Sie saßen auf den Strommasten, die das elektrische Licht den Häusern lieferten, die die Wildnis verdrängt hatten.

    Männer des peruanischen Volkes der Paruro während des jährlichen Qoyllur- Riti-Festes vor einem Gletscher. „Qoyllur Riti“ bedeutet in der Quechua-Sprache so viel wie „Schneestern“. Jedes Frühjahr pilgern Hunderttausende zu diesem Hochland in der Region Cusco, um das Wiedererscheinen des Sternbilds der Plejaden zu feiern. 

    Foto von Martin Schneiter, Stock.adobe.com

    Neue Studien: Geschwindigkeit des Wandels erzeugt emotionale Probleme

    Es liegt in der Natur unserer Spezies, Landschaften so umzugestalten, dass sie unseren Bedürfnissen und Wünschen entsprechen. Doch das Ausmaß und die Geschwindigkeit des Wandels im 21. Jahrhundert sind neu. Während die Weltbevölkerung sich rasch der Acht-Milliarden- Grenze nähert, verändert der Mensch den Planeten stärker als jemals zuvor. Als Folge davon bekommen wir es mit katastrophalen Hitzewellen, Flächenbränden, Sturmfluten, schmelzenden Gletschern, steigenden Meeresspiegeln und anderen Formen der Umweltzerstörung zu tun. Zusammengenommen führt all dies zu politischen, logistischen und finanziellen Verwerfungen. Und es verursacht oft übersehene emotionale Probleme. Erst in den letzten Jahren haben Wissenschaftler damit begonnen, sich intensiver mit den Folgen von Umweltveränderungen auf die mentale Gesundheit zu befassen.

    In der bislang größten empirischen Studie untersuchte ein Team unter Leitung von Forschern des MIT und der Harvard University die Auswirkungen des Klimawandels auf die psychische Verfassung von annähernd zwei Millionen stichprobenartig ausgewählter US-Amerikaner in den Jahren 2002 bis 2012. Unter anderem fanden sie heraus, dass die Belastung durch Hitze und Dürre das Selbstmordrisiko erhöhte und die Zahl der Patienten in psychiatrischen Einrichtungen ansteigen ließ. Dazu kommt, dass Hurrikan- und Flutopfer ein höheres Risiko für Posttraumatische Belastungsstörungen und Depressionen hatten. Menschen, die die traumatische Erfahrung durchleben, eine Landschaft zu verlieren, tun sich oft schwer damit, ihre Gefühle auszudrücken. „Der Schmerz, ein Land zu verlieren, lässt sich nur schwer teilen“, erzählt mir Chantel Comardelle, als ich ihre Gemeinde an der Küste von Louisiana besuche, wo der Meeresspiegel beängstigend rasch ansteigt und das Land überflutet.

    Wissen kompakt: Klimawandel mit Bill Nye

    Comardelle kam auf der Isle de Jean Charles zur Welt, einem schrumpfenden Eiland, dem 98 Prozent seiner Landmasse seit 1955 abhandengekommen sind. Zur Zeit ihrer Elterngeneration lebten die Bewohner, zumeist Native Americans, von der Jagd und vom Ackerbau. Heute ist die Gemeinschaft zerbrochen. „Es ist nicht so, wie wenn man einen geliebten Menschen verliert oder etwas Materielles, was andere Leute leicht nachvollziehen können“, sagt sie. Angesichts der zunehmenden Auflösung der Isle de Jean Charles beschlossen Comardelle und weitere Bewohner, sich an Menschen zu wenden, die ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen. „In Alaska gibt es eine Gemeinde, die dasselbe durchmacht“, sagt sie und bezieht sich damit auf das Yupik-Dorf Newtok, das gleichfalls mit akuter Bodenabsenkung und Landverlust konfrontiert ist. „Wir konnten uns zusammensetzen und reden … und es waren fast dieselben Gefühle, dieselben Emotionen“, sagt sie. „Es war dieses: Okay, ich bin nicht allein. Das ist nichts, was ich mir nur einbilde. Es war tatsächlich so.“

    Solastalgie ist rund um den Globus verbreitet

    In den letzten Jahren habe ich von der Arktis bis zu den Anden Landschaften bereist, die eine drastische Umgestaltung durchliefen. Nur eine Handvoll Menschen, die ich traf, hatten den Begriff Solastalgie je gehört, doch sehr viele teilten die quälenden Erfahrungen, die der Begriff in ein Wort zu fassen sucht. Sie ringen mit den beängstigenden, konkreten Herausforderungen, die der Verlust einer Landschaft mit sich bringt, und mit der komplexen seelischen Belastung, ihr Heimatgefühl zu verlieren. Das Wort Solastalgie findet langsam Eingang in den Sprachgebrauch, zumindest ins Englische. „Es ist ein Wort, das es eigentlich gar nicht geben sollte, das aber aufgrund widriger Umstände kreiert werden musste“, sagt Albrecht. „Inzwischen ist es rund um den Globus verbreitet. Das ist schrecklich … Schaffen wir es aus der Welt. Beseitigen wir die Umstände, die Kräfte, die Solastalgie auslösen.“

     

    Aus dem Englischen von Dr. Eva Dempewolf

    Pete Mullers Fotos von Jungen im Übergang zum Erwachsenenalter erschienen in der Januarausgabe 2017. Diese Arbeit wurde von einer National Geographic Society Fellowship gefördert.

     

    Der Artikel wurde ursprünglich in der April 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins veröffentlicht. Jetzt ein Abo abschließen!

     

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