Chalk: Wie umweltschädlich ist das Hilfsmittel der Kletterer?
Klettern erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Doch mit der wachsenden Popularität werden auch die schädlichen Folgen des Nischensports für die Umwelt sichtbarer.
Magnesia wird von vielen Kletterern, wie hier Jakob Schubert, benutzt. Die chemische Zusammensetzung des Hilfsmittels steht jedoch im Verdacht, Pflanzen zu schädigen, die an den Felswänden wachsen.
Am 3. Juni 2017 gelang Alex Honnold eine Sensation: In unter vier Stunden erklomm der professionelle Kletterer den El-Capitan im Yosemite-Nationalpark in Kalifornien auf der Freerider-Route als erster Mensch Free Solo, also ohne sichernde Seile. Doch schon vor diesem Ereignis erfreute sich Sportklettern immer größerer Beliebtheit. Im Jahr 2021 wurde dieser wachsenden Popularität Rechnung getragen: Zum ersten Mal in der Geschichte war Klettern eine olympische Disziplin.
Doch der Nischensport und seine Schwester, das Bouldern, bei dem Felsen ungesichert in Absprunghöhe erklommen werden, haben auch ihre Schattenseiten. Ein Aspekt ist besonders in den Fokus derer gerückt, die negative Folgen für die natürlichen Lebensräume an den bekletterten Felsen befürchten: Der Einsatz eines so allgegenwärtigen wie essenziellen Kletterhilfsmittels namens Magnesia, auch bekannt als Chalk.
Was ist Magnesia?
Die in fester, flüssiger und Pulverform erhältliche Substanz besteht hauptsächlich aus einer Mischung aus Magnesiumkarbonat und Magnesiumhydroxid, die als Magnesium alba oder weißes Magnesium bekannt ist. Vermischt mit Talkum kommt sie auch beim Turnen oder Gewichtheben zum Einsatz, wo sie, auf die Hände aufgebracht, den Schweiß trocknet, die Haut härter macht und so für einen besseren Halt am Sportgerät sorgt. In die Welt des Kletterns hielt Magnesia in den 1950er Jahren durch John Gill Einzug, der das Hilfsmittel aus dem Turnsport kannte, und begann, es beim Bouldern zu benutzen. Seitdem bauen sowohl Amateure als auch Profi-Kletterer auf die schweißtrocknende, haltbringende Wirkung von Magnesia – und hinterlassen auf den Felswänden der ganzen Welt weißen Spuren.
Die Beeinträchtigung des Landschaftsbilds durch diese Magnesia-Graffiti hat dermaßen überhandgenommen, dass laut dem Deutschen Alpenverein (DAV) in vielen Klettergebieten der Einsatz von Chalk inzwischen reglementiert wird. Im Erzgebirge und Göttinger Wald etwa ist die Benutzung von Magnesia beim Klettern teilweise untersagt, im Elbsandsteingebirge und in der Nördlichen Frankenjura komplett verboten. In anderen Gebieten gilt ein Verzicht oder eine Beschränkung auf bestimmte Formen der Kletterhilfe. Und nicht nur die Optik spielt in dieser Hinsicht eine Rolle: Abhängig von der Art des Gesteins kann sich Magnesia auf die Felsstruktur auswirken, indem es die Poren der Oberfläche verstopft. Ein vormals griffiger Stein wird dadurch glatt, was insbesondere bei Sandstein der Fall ist.
Ein Kletterer folgt einem Chalk-Pfad entlang einer Felswand in Arico im Süden Teneriffas, einem der beliebtesten Klettergebiete auf den Kanarischen Inseln.
Doch Chalk scheint sich auch noch in anderer Weise auf die Natur auszuwirken. Laut neuesten Forschungsergebnissen kann sein Einsatz die Pflanzen schädigen, die an und im Umfeld der Kletterfelsen wachsen. Eine Studie, die sich mit den Effekten von Magnesia beschäftigt hat und im Oktober 2020 veröffentlicht wurde, kam zu dem Ergebnis, dass jeweils vier Farn- und Moosarten durch den starken Kontakt mit Chalk beeinträchtigt und bei der Keimung behindert werden. Die Pflanzen können sogar absterben.
Im Mittelpunkt der Forschungen zu der Studie standen Findlinge: große Felsstücke, die am Ende der Eiszeit mittels Gletschern über die Welt verteilt wurden. Sie sind oft Lebensraum für einzigartige Ökosysteme, kleine Inseln der Vegetation, die sich von ihrer Umgebung unterscheiden und dadurch Informationen über die Eiszeit und die Verbreitung der auf ihnen lebenden Pflanzen liefern können.
Dabei ist noch nicht vollständig geklärt, ob Magnesia die Kletterleistung tatsächlich verbessert. Es gab Untersuchungen, nach denen Chalk den Halt am Felsen nicht merklich erhöht, andere Studien belegten das Gegenteil. Laut Daniel Hepenstrick, Co-Autor der Studie aus dem Jahr 2020 und Doktorand an der ETH Zürich, nehmen manche Kletterer Magnesia tatsächlich als unerlässliche Hilfe bei der Ausübung ihres Sports wahr – wahrscheinlich jedoch am meisten auf psychologischer Ebene. „Wenn man sich am Felsen in einer Problemsituation wiederfindet, was macht man da?“ fragt er. „Man reibt seine Hände mit Chalk ein und weiter geht’s.“
Problemstoff Chalk
Ein anderer Faktor, der Magnesia zu einem problematischen Produkt macht, ist seine Herstellung. Magnesiumkarbonat (MgCO3) wird aus dem Mineral Magnesit gewonnen, das tief in der Erde vorkommt. Laut der Zeitschrift „Climbing” stammen mehr als 70 Prozent des Magnesias auf dem Weltmarkt aus Minen in der chinesischen Liaoning Provinz. Auf Satellitenbildern kann man rund um die Abbauareale und die Fabriken große Haufen des Pulvers erkennen, das aus diesem Blickwinkel aussieht wie Schnee.
Um die schädlichen Umwelteinflüsse zu reduzieren, hat die chinesische Regierung strengere Bergbaugesetze verabschiedet und eine Renaturalisierung in Aussicht gestellt. De-Hui Zeng, Ökologe an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Liaoning, ist nach Untersuchungen der Substanz jedoch zu demselben Ergebnis gekommen wie Daniel Hepenstrick. In Bodenproben aus den Abbaugebieten konnten ihm zufolge erhöhte Magnesiumwerte festgestellt werden, der Nährstoffgehalt war geringer als in Vergleichsproben und es war kaum noch mikrobielles Leben zu finden, dafür aber Reste toter Pflanzen.
Daniel Hepenstrick betont, dass seine Forschungen – die ersten, die die Auswirkungen von Magnesia auf die Umwelt untersuchten – noch lange nicht abgeschlossen seien. Um zu umfassenden Erkenntnissen zu gelangen, sei noch viel wissenschaftliche Arbeit nötig. Und das ist leichter gesagt als getan.
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Über die Konsequenzen des Kletterns für die Umwelt ist generell noch nicht viel bekannt. Da die wenigsten Wissenschaftler auch Kletterer sind, finden sie nur schwer Zugang zu den zu erforschenden Gebieten. Selbst auf relativ leicht zugänglichen Routen ist es eine Herausforderung, den Effekt zu messen, den der Sport auf die Natur hat. „Die einzelnen Mechanismen zu bestimmen, die möglicherweise einen Effekt auf das sensible Ökosystem an den Klippen haben könnten, ist kompliziert“, sagt Peter Clark, Doktorand an der University of Vermont, der sich auf Klippenökologie spezialisiert hat.
Klettergruppen wie die Beratungsorganisation Access Fund, die Richtlinien für die Klettergemeinde erstellen, wollen weitere Ergebnisse abwarten, bevor sie aufgrund von Daniel Hepenstricks Bericht Änderungen an ihrem Regelwerk vornehmen. „Noch sind es Zahlen“, sagt Vorstandsmitglied Chris Winter. „Wenn es aus Sicht des Naturschutzes Bedenken gibt, nehmen wir diese sehr ernst.“
Klettern für den Naturschutz
Laut Daniel Hepenstrick, der selbst ab und zu Klettern geht, liegt bis zum Erlangen neuer Erkenntnisse die Verantwortung bei den Kletterern, denen „die Natur wichtig ist“. Diese „muss man darüber informieren, dass der Einsatz von Magnesia unter Umständen der Natur schadet, so dass sie es sich zu Herzen nehmen können.“
Der Beeinträchtigung des Landschaftsbildes kann durch die Benutzung von Magnesia in der Farbe des Gesteins abgemildert werden. Das ist laut Shawn Axelrod, Inhaber von Climbing Addicts, außerdem ein guter Weg, um den Entdeckergeist beim Klettern aufrechtzuerhalten. „Sonst zeichnen die Magnesiaspuren dir den Weg vor”, erklärt er. Indem man die Sichtbarkeit dieser Pfade reduziert, gewinnt der Sport einen seiner ursprünglichen Reize zurück: das eigenständige Problemlösen. „Ohne das gibt es beim Klettern keine Individualität, keine Kreativität, nicht die Herausforderung selbst herauszufinden, welchen Schritt man als Nächstes machen soll“, sagt Shawn Axelrod.
Alex Honnold reibt am 18. Juni 2019 seine Hände vor dem Klettern mit Magnesia ein. Sowohl Amateure als auch Kletter-Profis nutzen das Mittel gegen feuchte Hände und für einen besseren Halt am Felsen.
Auch wenn farbiges Chalk die optischen Spuren der Kletterer reduziert, ändert es doch nichts an den dadurch verursachten möglichen Umweltschäden. Zusätzlich zu dem Befolgen der sieben sogenannten Leave No Trace-Regeln, haben Sportler noch andere Optionen, wenn sie die Natur schützen wollen. Laut Magnesia-Pionier John Gill benutzten die Kletterer zu seiner Zeit zunächst Baumharz (Pof), das natürlich aus Bäumen austritt, oder, wenn verfügbar, die pulvrigen Pollen von Pinien, mit denen sie ihre Hände einrieben. Magnesia verdrängte diese Alternativen, doch sie existieren natürlich weiterhin.
Statt Magnesia durch andere Mittel zu ersetzen, kann man aber auch eine andere, radikalere Idee verfolgen: den vollständigen Verzicht auf diese Art von Kletterhilfen. „Das war eine andere Welt damals. Ein paar Spuren hier, ein paar dort – die fielen gar nicht auf“, erinnert sich John Gill an seine frühe Sportlerzeit. „Mein Freund, Patagonia-Gründer Yvon Chouinard, hat sich immer dagegen gewehrt, beim Bouldern Hilfsmittel zu benutzen – er nannte es Schummeln. Wer weiß, was er heute sagen würde. Schandfleck, vielleicht. Oder Schlimmeres.“
Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht
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