Die Luft, die wir atmen, steckt voller Überraschungen

Sie hat unsere Geschichte geformt, Zivilisationen angetrieben und könnte es uns ermöglichen, die globale Erwärmung zu verlangsamen.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:41 MEZ, Aktualisiert am 24. Nov. 2020, 11:05 MEZ
Aleppo
Fritz Haber hat entdeckt, wie man Inhaltsstoffe für Dünger aus der Luft ziehen kann, und so Millionen von Leben gerettet. Aber er bereitete auch den Weg für den Einsatz chemischer Waffen wie jenen, die im Februar in den tödlichen Giftgasangriffen in der syrischen Stadt Aleppo zum Einsatz kamen.
Foto von Iliya Pitalev, Sputnik, via Ap

Die Gase in der Luft sind unsichtbar, aber ihren Einfluss kann man überall entdecken. Wusstet ihr zum Beispiel, dass ihr genau jetzt vermutlich Luft von Caesars letztem Atemzug im Jahre 44 einatmet?  Oder dass giftige Gase Albert Einstein dazu inspirierten, einen Kühlschrank zu erfinden? Oder dass ein Mann in Paris zur Jahrhundertwende berühmt wurde, weil er seine eigenen Flatulenzen kontrollieren konnte?

Das sind nur einige der faszinierenden Fakten, die der Wissenschaftsautor Sam Kean in seinem neuen Buch „Caesar‘s Last Breath“ (dt. Caesar‘s letzter Atemzug) erklärt. National Geographic unterhielt sich mit Kean in seinem Zuhause in Washington, D.C., und er erklärte, warum die Untersuchung der Atmosphäre fremder Planeten der beste Weg ist, um intelligentes Leben zu finden, wie ein deutscher Physiker den Gaskrieg ermöglichte und warum man die globale Erwärmung vielleicht verlangsamen könnte, indem man die Atmosphäre mit Schwefeldioxid anreichert.

Die Vorstellung, dass wir noch immer den letzten Hauch aus dem Mund des sterbenden Julias Caesar einatmen könnten, ist ein netter Einfall für einen Buchtitel. Aber es gibt dafür keine wissenschaftliche Grundlage, oder?

Soweit wir wissen, ist das eine berechtigte Vermutung. Es ist gewissermaßen eine unvermeidbare Konsequenz, wenn man erstens bedenkt, wie viele Moleküle man mit jedem Atemzug einatmet, und zweitens, wie lange diese Moleküle in unserer Atmosphäre verbleiben. Das ist keine Garantie dafür, dass das auf jeden Atemzug zutrifft. Aber im Schnitt ist es unvermeidbar, dass man im Laufe des Tages ein paar derselben Moleküle einatmet.

Bei Zimmertemperatur und normalem Luftdruck atmet man bei jedem Atemzug etwa 25 Trilliarden Moleküle ein. Das ist eine 25 mit 21 Nullen. Das ist eine ungeheure Zahl! Wenn man jeden heute lebenden Menschen auf dem Planeten nehmen würde – alle sieben Milliarden – und sich vorstellt, dass jeder davon sieben Milliarden Nachfahren hätte, also sieben Milliarden mal sieben Milliarden, dann müsste man das Ergebnis immer noch mal 500 nehmen, um auf diese Zahl zu kommen. Und das atmet man mit jedem Atemzug ein.

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    Als Caesar seinen letzten Atemzug aushauchte, verteilten sich alle diese Moleküle über der Erde, zuerst als Band vorherrschender Winde auf demselben Breitengrad wie Italien, dann über die gesamte nördliche Hemisphäre. Im Laufe von etwa zwei Jahren hätten sie sich durch die Luftströmungen und Umwälzungen vermutlich über die ganze Welt verteilt.

    Foto von Caesar's Last Breath, Sam Kean

    Sie schreiben: „Luft hat viel mehr geformt als nur unsere grundlegende Biologie – sie hat auch die menschliche Zivilisation geformt.“ Stellen Sie uns ein paar Highlights dieser Entwicklung vor.

    Als erstes kann man da an Dampf denken, also die generelle Nutzung von Dampf oder Gasen, um Dinge zu bewegen. Für die industrielle Revolution waren viele Zutaten nötig, aber das Wichtigste war, Energie zu bekommen. Und Dampf war der am weitesten verbreitete Weg, um die Webstühle, Dampfschiffe und Lokomotiven anzutreiben, die wiederum der Motor der industriellen Revolution waren.

    Sprengstoffe waren ein anderer, sehr wichtiger Faktor. Der Bau von Eisenbahntunneln und andere Bauprojekte waren auf Sprengstoffe angewiesen, die eine weitere Möglichkeit darstellten, die Kraft von Gasen produktiv zu nutzen. Ähnlich war es bei der Stahlrevolution. Henry Bessemer patentierte und verbreitete das Konzept, dass man Luft nutzen konnte, um die Kohlenstoffmoleküle aus Eisen zu ziehen und es so zu dem formbareren, stärkeren Metall zu machen, das wir als Stahl bezeichnen.

    Einsteins Relativitätstheorie feiert in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag. Ich vermute aber, dass nur wenige Leute wissen, dass er auch an der Erfindung eines Kühlschranks beteiligt war. Wie passt das in die Geschichte des großen Physikers?

    [Lacht] Das ist eine seltsame kleine Fußnote in Einsteins Geschichte. Zu der Zeit ließ er sich gerade scheiden und heiratete danach wieder, musste also zwei Familien versorgen. Er befand sich also in einer finanziellen Notlage und brauchte ein zusätzliches Einkommen. Eines Tages las er einen Artikel über eine Familie, die erstickt war, weil der Kühlschrank in ihrer Wohnung ein Leck hatte. Die Kühlgase zu jener Zeit waren alle giftig. Einstein fand das schrecklich und kontaktierte einen Freund, Leo Szilard, und sagte: „Das muss sich doch irgendwie besser lösen lassen. Lass uns versuchen, was zu erfinden.“ Also setzten sich die zwei hin und entwarfen eine neue Art von Kühlschrank, die zwei ungiftige, miteinander vermischte Flüssigkeiten nutzte.

    Leider arbeitete eine rivalisierende Gruppe bei General Motors auch am Kühlsystem und löste das Problem der giftigen Gase, indem sie ein Kältemittel namens Freon erfanden. Das war als Gas viel sicherer und eignete sich auch als Kühlmittel sehr gut. Man fand erst später heraus, dass Freon ziemlich schädlich ist, dass es Ozon vernichten kann und somit zum Loch in der Ozonschicht und zum Klimawandel beiträgt. Der Welt wäre es vermutlich besser ergangen, wenn wir auf Einstein gehört und sein Kühlschrankdesign genommen hätten. Aber die Geschichte verlief eben anders.

    Sie bezeichnen einen anderen deutschen Wissenschaftler, Fritz Haber, als „eine der größten Faust-Figuren der Wissenschaftsgeschichte“. Erzählen Sie uns von seinen Leistungen – und warum die Chlorgasattacke in Syrien letzten Endes auf ihn zurückgeht.

    Haber war eine dieser zweischneidigen Figuren der Wissenschaft. Er hat richtig großartige Arbeit geleistet, aber er hat auch an furchtbaren Dingen gearbeitet, die uns heute noch erschaudern lassen. Er hat den größten Beitrag zum sogenannten Haber-Bosch-Verfahren geleistet, bei dem der Luft Stickstoff entzogen und daraus Ammoniak synthetisiert wird. Das kann dann in Düngemitteln verwendet werden, die heute noch einen Beitrag leisten, um Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt zu ernähren.

    Leider spielte er auch eine entscheidende Rolle bei der Erfindung des Gaskriegs im Ersten Weltkrieg. Schon vor ihm hatte man in Kriegen Gas eingesetzt, aber er revolutionierte den Einsatz unter anderem durch die Verwendung von Chlor und machte das Gas zu der grauenvollen Waffe, die es heute ist. Wenn wir von den Giftgasattacken in Syrien hören, können wir sie direkt 100 Jahre bis zu Haber zurückverfolgen.

    Einer der amüsanten kleinen Fakten aus ihrem Buch, den ich besonders genossen habe, ist, dass „ein Erwachsener im Schnitt drei Pints [etwa anderthalb Liter] pro Tag pupst, in etwa 20 Einheiten.“ Erzählen Sie uns mehr von der Wissenschaft der Flatulenzen – und von dem erstaunlichen Fall von Le Petomane.

    [Lacht] Das ist eines der Dinge, von denen ich annahm, dass sich dafür jeder interessieren würde. Es ist vermutlich das Gas, das uns täglich am häufigsten begegnet. Ein verbreiteter Irrglaube ist, dass Methan das Molekül ist, das bei Pupsen den schlechten Geruch erzeugt. Das ist aber nicht der Fall. Methan ist ein brennbares, aber geruchloses Gas. Der größte Teil des Geruchs entsteht durch ein paar andere Moleküle wie Methanthiol und Dimethylsulfat, die mit Methan verwandt, aber eben nicht dasselbe sind.

    Um 1900 herum war der bestbezahlteste Künstler im Moulin Rouge Joseph Pujol. Er konnte Luft durch seinen Anus einziehen und dann wieder auspupsen. [Lacht] Aber nicht nur das, er konnte so auch Vögel, Hunde und andere Tiere imitieren, Instrumente spielen und Zigarettenrauch „einatmen“ und wieder ausblasen. Ein paar ziemlich intellektuelle Menschen haben ihn geliebt. Angeblich hatte Freud ein Bild von Le Petomane an seiner Wand und stützte sich auf ihn, als er seine Theorie zur analen Fixierung aufstellte. Renoir, Matisse, Sarah Bernhardt und der Komponist Maurice Ravel schwärmten für ihn!

    Lokomotiven wie George Stephensons Rocket von 1929 nutzten Dampfkraft, um das Reisen zu revolutionieren.
    Foto von Historica Graphica Collection, Heritage Images, Getty Images

    Es gibt nun schon seit einer Weile Ideen dazu, an der Atmosphäre herumzuspielen, um Dürre oder Hurrikans zu verhindern. Erzählen Sie uns von einigen der Experimente diesbezüglich. Könnten diese Techniken uns dabei helfen, den Klimawandel zu verlangsamen?

    Die Idee, das Wetter zu kontrollieren, gab es im ganzen 20. Jahrhundert immer mal wieder. Wissenschaftler haben in der Vergangenheit zum Beispiel Silberiodid in Wolken gestreut in der Hoffnung, dass die Regentropfen sich um die Silberiodidmoleküle sammeln würden, bis sie schwer genug waren, um als Regen herabzufallen: Niederschlag auf Wunsch. Sie haben sogar geglaubt, dass sie Hurrikans und andere große Stürme so kontrollieren konnten, indem sie sie auflösten, bevor sie auf Land trafen.

    Heutzutage geben die meisten Meteorologen nicht viel darauf. Die Vorstellung, dass man das Wetter kontrollieren kann, hat mittlerweile einen zweifelhaften Ruf. Aber sie hat in einer anderen Form überlebt und wird nun wiederbelebt, indem man hofft, den Klimawandel kontrollieren zu können. Es gibt da den Gedanken, etwas wie Schwefeldioxid in den oberen Atmosphärenschichten zu verteilen. Das würde dann das Sonnenlicht zurück ins Weltall reflektieren und die Erde womöglich kühler halten. Das unterscheidet sich natürlich von der Idee, Regen zu erzeugen. Aber es ist immer noch ein Herumspielen an der Atmosphäre, das den Menschen Macht über die Zukunft des Wetters und des Klimas verleihen soll.

    Galerie: Weltraumwetter aus dem Labor

    Gegen Ende Ihres Buches stellen Sie die Frage: „Welche anderen Formen der Luft gibt es in der Unendlichkeit des Weltraums? Was für Luft atmen außerirdische Lebensformen?“ Beantworten Sie Ihre eigenen Fragen, Sam, und erklären Sie uns, warum die Untersuchung der Atmosphäre anderer Planeten der beste Weg ist, um herauszufinden, ob es außerirdisches Leben gibt.

    Wie die meisten Leser vermutlich wissen, entdecken wir gerade Planeten, die um fremde Sterne kreisen. Manche davon sind erdähnlich und die große Frage ist, ob es auf diesen anderen Planeten Leben gibt. Mal abgesehen davon, eine Sonde hinzuschicken, für deren Rückkehr keiner der heute lebenden Menschen mehr am Leben wäre, ist die Untersuchung der Atmosphäre der einzige Weg, um das herauszufinden.

    Man sucht dann nach Gasen, von denen wir annehmen, dass sie durch Lebewesen produziert werden. Eine Zeitlang dachte man, wenn man reinen Sauerstoff finden würde, wäre das ein sicheres Zeichen für Leben, weil fast aller Sauerstoff hier von Pflanzen und anderen Lebewesen produziert wird. Aber Sauerstoff allein würde nicht ausreichen, um mit Sicherheit zu sagen, dass es Leben auf einem Planeten gibt. Man müsste nach einer Kombination aus Sauerstoff und anderen Molekülen suchen. Eine beträchtliche Menge von Sauerstoff und Methan wäre ein gutes Zeichen dafür, dass irgendetwas die beiden Gase regelmäßig produziert – und Leben wäre da die wahrscheinlichste Option.

    Man könnte das auch vom anderen Ende des Spektrums her angehen und nach Zeichen für intelligentes Leben suchen, indem man Ausschau nach Gasen hält, die nicht durch natürliche Prozesse entstehen können. Darunter fallen beispielsweise Freon, Fluorkohlenwasserstoffe und andere Schadstoffe, die fortschrittliche Zivilisationen als Nebenprodukte erzeugen. Das sind die beiden Enden des Spektrums, die wir uns ansehen.

    Was hat Sie bei der Recherche für Ihr Buch am meisten überrascht und schockiert?

    Wenn wir an Gase denken, denken wir an Stickstoff und Sauerstoff, weil diese beiden etwa 99 Prozent aller Moleküle ausmachen, die wir einatmen. Ich habe mich gefragt, was ich über das restliche eine Prozent sagen würde. Aber je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr habe ich begriffen, dass diese anderen Gase, die nur einen winzigen Bestandteil der Luft ausmachen, eine facettenreiche Geschichte haben, wenn man genauer hinsieht.

    Ich vergleiche diese anderen Gase mit den Molekülen, die Wein seinen komplexen Geschmack verleihen. Den größten Teil des alkoholischen Getränks machen Wassermoleküle aus. Aber niemand würde je sagen, dass Wein nur aus Wasser und Alkohol besteht. Es braucht all diese anderen Moleküle, damit er seinen komplexen Geschmack und Abgang erhält.

    Ebenso verhält es sich mit der Luft. Ob es nun um Anästhesie geht, um Kühlschränke, radioaktiven Niederschlag nach einer nuklearen Explosion oder um die Erzeugung von Stahl – diese kleinen Moleküle sind wirklich wichtig. Am meisten hat mich schockiert, dass wir all diese verschiedenen Gase einatmen, aber nicht darüber nachdenken, welche Rolle sie nicht nur im menschlichen Leben, sondern auch in der menschlichen Geschichte spielen.

    Das Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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