Ansteckende Krebsarten bei Meerestieren geben Rätsel auf

Manche der bösartigen Erkrankungen können von einer Tierart auf eine andere überspringen – eine Entdeckung, die unser Bild von Krebs auf den Kopf stellt.

Von Douglas Main
Veröffentlicht am 12. Nov. 2019, 13:52 MEZ
Pazifische Miesmuscheln (Mytilus trossulus), hier abgebildet am Strand von Vancouver Island in British Columbia, sind für ...
Pazifische Miesmuscheln (Mytilus trossulus), hier abgebildet am Strand von Vancouver Island in British Columbia, sind für zwei übertragbare Krebsarten anfällig.
Foto von Cheryl-Samantha Owen

Vor langer Zeit – wir wissen nicht genau, wie lange – bildete eine Pazifische Miesmuschel irgendwo auf der Nordhalbkugel eine leukämieartige Krebserkrankung aus. Es begann mit einer Mutation in einer einzigen Zelle, die sich wieder und wieder kopierte und sich so durch die Hämolymphe ausbreitete, die blutartige Flüssigkeit im Körper des Tieres.

Aber dann tat der Krebs etwas, das er eigentlich gar nicht tun sollte: Irgendwie übertrug er sich durch das Wasser auf andere Muscheln. In seinen neuen Wirten klonte er sich abermals und infizierte immer neue Exemplare.

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Noch seltsamer war aber, dass es nicht bei Pazifischen Miesmuscheln blieb. Mittlerweile tritt er auch in zwei anderen Schalentieren an völlig unterschiedlichen Orten auf: in den Gemeinen Miesmuscheln Frankreichs und ihrer südamerikanischen Schwesterart in Chile und Argentinien.

Die Befunde wurden in einer Studie im Fachmagazin „eLife“ publiziert. Es ist nur die jüngste in einer Reihe von Forschungsarbeiten, die zeigen, dass übertragbare Krebserkrankungen häufiger als gedacht vorkommen – insbesondere im Meer. Dieses neue Forschungsfeld könnte dabei helfen, die Entwicklung von Krebserkrankungen bei Menschen und anderen Tieren besser zu verstehen. Es bringt aber  auch mehr Licht in das größtenteils noch unerforschte Leben der Meerestiere.

„Die Tatsache, dass er auf zwei neue Arten übergesprungen ist, ist ziemlich faszinierend und besorgniserregend“, sagt Elizabeth Murchison, die an der University of Cambridge übertragbare Krebserkrankungen erforscht. Muscheln sind nicht nur für ihr Ökosystem wichtig, sondern in vielen Kulturen auch ein beliebtes Nahrungsmittel. Derzeit gibt es keine Hinweise darauf, dass der Verzehr von mit Krebs befallenen Schalentieren sich auf die menschliche Gesundheit auswirkt.

Ansteckende Krebserkrankungen im Meer und an Land

Übertragbare Krebserkrankungen, die beim Menschen nicht natürlich vorkommen, wurden in den letzten Jahrzehnten erstmals bei zwei Landtieren festgestellt. 2006 entdeckten Forscher, dass die Krebsart DFTD, die dem bedrohten australischen Beutelteufel zusetzt, durch Bisse auf Artgenossen übertragbar ist. Da solche Bisse zum normalen Verhalten der Tiere gehören, wurden mittlerweile mehr als 80 Prozent der Individuen mit dieser und einer zweiten, ähnlichen Krebsart infiziert. Die Art droht auszusterben.

Ebenfalls 2006 entdeckten Wissenschaftler, dass Haushunde Genitaltumore verbreiten können. Wie bei allen übertragbaren Krebsarten sind die krankhaften Zellen auch in diesem Fall Kopien und gehen auf eine einzige Zelle eines Hundes zurück, der vor etwa 11.000 Jahren lebte.

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    Diese Entdeckungen veränderten unser Bild von Krebs grundlegend, denn zuvor war man davon ausgegangen, dass sich die Zellmutationen auf das jeweilige Individuum beschränken, in dem sie auftreten. Bereits zuvor war bekannt, dass verschiedene Virustypen die Krebswahrscheinlichkeit erhöhen können, beispielsweise Humane Papillomviren (HPV) und das Feline Leukämievirus. Trotzdem war die Erkenntnis, dass sich einzelne Krebszellen innerhalb einer Population ausbreiten können, ein Schock für die Wissenschaft.

    Im letzten Jahrzehnt haben Forscher ein halbes Dutzend weitere Krebsarten gefunden, mit denen sich Schalentiere infizieren können. Michael Metzger, der Hauptautor der neuen Studie und ein Forscher am Pacific Northwest Research Institute in Seattle, hat mehrere von ihnen selbst identifiziert. Eine davon tritt in einer Miesmuschelpopulation (Mytilus trossulus) in British Columbia auf.

    Eine Krebsart, die in Pazifischen Miesmuscheln auftritt, hat sich irgendwie auf zwei weitere Arten von Miesmuscheln ausgebreitet.
    Foto von Joël Sartore, National Geographic Photo Ark

    Vor ein paar Jahren begann er eine Zusammenarbeit mit französischen und argentinischen Laboren, die in lokalen Muschelpopulationen eine neue Krebsart entdeckt hatten. Die Krebszellen fielen unter dem Mikroskop durch ihre einzigartige, rundliche Form auf. Was Metzger zunächst für zwei unterschiedliche Krebsarten hielt, stellte sich so als eine Art heraus: Die Erkrankung der französischen (Mytilus edulis) und chilenischen Muscheln (Mytilus chilensis) war identisch. Und sie ging eindeutig auf die Pazifischen Miesmuscheln (Mytilus trossulus) zurück, denn die Krebszellen enthielten noch die genetische Signatur dieser Art.

    Allerdings leben Pazifische Miesmuscheln nur auf der Nordhalbkugel an den Küsten Europas und Nordamerikas. In den Bereichen rund um den Äquator kommen sie nicht vor, sodass sich die Krankheit über die Hülle und das Ballastwasser von Schiffen ausgebreitet haben muss, erklärt Metzger.

    „Es ist ziemlich verblüffend, dass sich diese einzelne Krebsart […] über einen Ozean hinweg ausgebreitet hat“, sagt Murchison, der an der Studie nicht beteiligt war. „Vermutlich sollten wir uns mehr Gedanken darum machen, wie solche Krebsarten durch menschliche Aktivitäten verbreitet werden können.“

    Das Rätsel der Ausbreitung

    Ähnliche übertragbare Krebserkrankungen, die allesamt die Hämolymphe befallen und Leukämie ähneln, wurden in Sandklaffmuscheln wie Mya arenaria und europäischen Herzmuscheln wie der Gemeinen Herzmuschel gefunden. Darüber hinaus entdeckten Metzger und seine Kollegen, dass ein Krebs, der die Goldene Teppichmuschel (Polititapes aureus) befällt, zuerst in der Getupften Teppichmuschel (Venerupis corrugata) auftrat.

    Das waren die ersten Hinweise darauf, dass solche Krebserkrankungen von einer Art auf eine andere übergehen können. Die jüngsten Befunde sind allerdings noch außergewöhnlicher, weil sie zeigen, dass der Krebs sogar auf zwei neue Arten übertragen wurde.

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    Die betreffenden Muscheln sind zwar eng miteinander verwandt und weisen daher ähnliche Schwachstellen und Anfälligkeiten auf, aber „wir wissen nicht, wo die Grenze liegt“, sagt Metzger. Wahrscheinlich verbreiten sich die Krebszellen, wenn sie ins Wasser abgegeben werden. Andere Muscheln nehmen sie dann auf, wenn sie Detritus aus dem Wasser filtern. Abgesehen davon ist bislang nichts über ihre Verbreitung bekannt.

    Bisher scheint es nicht so, als wäre der Krebs verheerend für die Bestände der Tiere, auch wenn er für die infizierten Individuen oft tödlich endet. Metzger zufolge befällt der neu entdeckte Krebs der Gemeinen Miesmuscheln und ihrer chilenischen Schwesterart um die 10 Prozent der lokalen Populationen.

    „Derzeit können wir nicht sagen, wie bedrohlich [der Krebs] sein könnte“, sagt er. „Er scheint zumindest keine ganzen Bestände auszulöschen.“

    Ökologische Folgen

    Allerdings handelt es sich um weit verbreitete Muschelarten. Viele von ihnen sind von kommerzieller Bedeutung und werden von Menschen und zahlreichen Tierarten verzehrt. Obwohl sie für Menschen ungefährlich sind, befürchten die Wissenschaftler, dass die Krebsarten sich auf andere Tierarten auswirken könnten. Da die Erforschung dieser Krankheiten erst am Anfang steht, treten sie wahrscheinlich viel häufiger auf, als es derzeit den Anschein macht.

    „Ich mache mir große Sorgen um die Ökologie“, sagt Jose Tubio vom spanischen Forschungszentrum für Molekularmedizin und chronische Krankheiten. Er erforscht übertragbare Krebserkrankungen im Meeresökosystem. Tubios Gruppe wird vom Europäischen Forschungsrat gefördert, um neue Krebsarten zu identifizieren. Bislang haben sie bereits fünf neue Krebsarten in Herzmuscheln entdeckt – die entsprechende Forschung dazu wurde aber noch nicht veröffentlicht.

    „Wahrscheinlich haben viele Muscheln ihre eigenen übertragbaren Krebsarten“, sagt Tubio. „Aber wir verstehen noch nicht, welche Folgen das hat.“

    Beata Ujvari ist eine Forscherin an der australischen Deakin University in Victoria. Ihr zufolge könnten diese Krebsarten eine weitere der zahlreichen Bedrohungen für die Meereslebewesen darstellen. Womöglich verschlimmern der sinkende Sauerstoffgehalt im Meer und die Erwärmung des Wassers durch den Klimawandel die Situation sogar noch, da Krebszellen eine solche Umgebung bevorzugen.

    Auch der beabsichtigte oder unbeabsichtigte Transport von Muscheln zwischen unterschiedlichen Meeresregionen kann neue Krebsarten in Ökosysteme einbringen, wo sie verheerenden Schaden anrichten könnten, so Tubio.

    Krebs entsteht für gewöhnlich durch eine Mutation in einer einzelnen Körperzelle. Wenn das Immunsystem die Mutation nicht erkennt und zerstört, wächst daraus ein Tumor. Aber die meiste Zeit über ist ein einzelner Tumor nicht tödlich. Erst, wenn der Krebs metastasiert, sich also im Körper ausbreitet, wird er zur tödlichen Gefahr.

    Aber im Falle der Muscheln „ist es fast so, als würde sich die Metastase über einen einzelnen Wirt hinaus erstrecken“, sagt Murchison.

    Wenn wir verstehen, wie die Krebszellen den Transport überleben […], könnten wir damit potenziell das Geheimnis metastatischer Krebszellen entschlüsseln“, sagt Ujvari.

    „Die Erforschung der zugrundeliegenden Mechanismen könnte zu unserem generellen Verständnis dafür beitragen, wie der Krebs es schafft, dem Immunsystem zu entgehen“, sagt sie. Und die Ergebnisse könnten eventuell neue Behandlungsmöglichkeiten für jede Art hervorbringen, die von Krebs befallen wird – einschließlich dem Menschen.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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