Dinosaurier aus dem digitalen Labor: Wie die Urzeit zu neuem Leben erwacht

Mit der Kooperationsausstellung „Edmonds Urzeitreich“ will das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt ein 66 Millionen Jahre altes Ökosystem rekonstruieren. Der Clou: Die Grabungsarbeiten finden direkt vor den Augen der Öffentlichkeit statt.

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 27. Mai 2020, 15:08 MESZ, Aktualisiert am 9. Apr. 2021, 16:03 MESZ
Edmontosaurus-Mumie

Edmonds Urzeitreich wird lebendig: Die berühmte Edmontosaurus-Mumie in Frankfurt.

Foto von Janosch Boerckel

Im Stein liegt die Wahrheit. Manche Menschen lesen darin wie in einem Buch. Schubladen voller Gesteinssplitter türmen sich in Philipe Havliks Büro. Grau, staubig und unscheinbar sehen die Brocken aus. Doch als Havlik einen davon zwischen die Fingerspitzen nimmt, beginnen seine Augen zu leuchten. „Der Zahn eines Triceratops“, sagt er und lächelt. Vorsichtig legt er das Stück zurück. Rund 66 Millionen Jahre alt ist das versteinerte Dinosaurier-Relikt.

Havlik greift in eine Pappschachtel. Unzählige Steinchen finden sich darin, viele kaum größer als ein Spielewürfel. Erst wer ganz genau hinschaut, erkennt die merkwürdigen Maserungen. „Das hier ist unverkennbar der Wirbel eines urzeitlichen Krokodils“, erklärt der Paläontologe und Ausstellungskoordinator der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung in Frankfurt.

Dann deutet er auf ein handtellergroßes flaches Gebilde, das an eine Diskusscheibe erinnert. „Der vordere Fingerknochen eines Edmontosauriers“, so Havlik. Der Erhaltungszustand ist erstaunlich gut, selbst die Nervenkanäle sind klar zu erkennen. Das Sammelsurium auf Havliks Schreibtisch gleicht dem Inhalt einer Schatzkiste, gefüllt mit steinernen Zeugen einer längst erloschenen Welt – darunter auch Fragmente früher Säugetiere, Fischschuppen, Pflanzenreste, Bernstein oder Holzkohle.

Steinerner Sarkophag aus der Urzeit

Sie alle entstammen einer einzigen Fundstelle im US-Staat Wyoming. Unter Havliks Leitung hat ein Senckenberg-Team dort in Zusammenarbeit mit dem Wyoming Dinosaur Center Thermopolis im vergangenen Jahr einen riesigen Gesteinsblock geborgen, der reich an Fossilien ist. Die Fundstücke in Havliks Büro sind nur ein Vorgeschmack auf das, was die Paläontologen eigentlich erwarten. „Im Grunde genommen handelt es sich hier um Beiwerk“, betont der Dino-Forscher, „um die Bruchstücke, die wir bei der Freilegung des Gesteinsblocks in Wyoming gefunden haben.“ Der eigentliche Schatz lagert sicher verschlossen in einem Container auf dem Museumsgelände.

Um ihn so genau wie möglich untersuchen zu können, hatten ihn die Forscher noch in Wyoming in 16 tonnenschwere Quader zersägt und die kostbare Fracht nach Frankfurt verschifft. Im Rahmen einer neuen Kooperationsausstellung werden die eingeschlossenen Fossilien seit Juni 2020 in einem eigens dafür vom Künstlerkollektiv YRD.Works konstruierten und in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Kunstverein entworfenen Grabungspavillon am Museum vor den Augen der Öffentlichkeit freigelegt und analysiert.

Durch die umfassende Analyse in Frankfurt wollen Havlik und sein Team ein geheimnisvolles Ökosystem rekonstruieren: „Edmonds Urzeitreich“. Denn neben zahlreichen anderen Fossilien enthält das Gestein auffällig viele Knochen des bis zu 13 Meter langen und vier Tonnen schweren Pflanzenfressers Edmontosaurus, der in der späten Kreidezeit in großen Herden durch die Ebenen Nordamerikas zog.

Edmonds Urzeitreich: Wie verschifft man ein Stück Dinosaurier-Friedhof?
Irgendwo im Nirgendwo der amerikanischen Prärie müssen um die 40 Tonnen an uralten Knochen und Gestein gehoben, zerteilt, verladen und verschifft werden – eine logistische Herausforderung der Extraklasse. (Kamera: Jonas Eiden)

„Die Ausgrabung ex situ – also außerhalb des eigentlichen Fundortes – ist etwas ganz Besonderes, freut sich der Ausstellungsleiter. „1000 bis 2000 Objekte werden wir da rausholen.“ Jedes Einzelne könnte von unschätzbarem Wert sein. Mithilfe akribischer Grabungsmethoden und digitaler Labortechnik in Frankfurt erhoffen sich die Senckenberg-Forscher detaillierte Informationen über jedes noch so winzige Fundstück.

T-Rex im 3D-Scanner

Der Weg dorthin ist mühsam. Das weiß Ausstellungsassistent Manuel Gerhart nur zu gut. „Wir werden jeden einzelnen Gesteinsblock direkt vor den Augen der Öffentlichkeit langsam und ganz vorsichtig mit speziellen Druckluftwerkzeugen und Schabern abtragen.“ Die Geräte sind mit millimeterfeinen Nadeln bestückt, um die erhofften Fundstücke möglichst unbeschädigt freilegen zu können. Pro Block rechnen die Experten mit zwei bis drei Wochen Arbeit. Danach werden die Fundstücke akribisch gewaschen und präpariert.

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„Die Grabungs- und Ausstellungstechnik hat sich in den letzten Jahren geradezu revolutioniert“, betont Havlik. „Die Digitalisierung verschafft uns völlig neue Möglichkeiten. Wir wollen unseren Besuchern zeigen, wie Forschung tatsächlich funktioniert.“ Robin Kunz vom Senckenberg-Labor gibt eine Kostprobe. Mithilfe von Computertomographie-Scans hat er aus einem winzigen Bruchstück den gut 12 Zentimeter langen Zahn eines Tyrannosaurus rex rekonstruiert. Per 3D-Drucker entsteht daraus ein Exponat für die Museumsausstellung.

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Wie in der Humanmedizin liefern hochauflösende Bildgebungsverfahren auch Paläontologen verblüffende Details, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben. „Wir finden oft winzige Fragmente, die sich nur digital zusammensetzen lassen“, sagt Kunz. „So etwas bleibt bei herkömmlichen Grabungen meist auf der Strecke.“

Damit wird klar: Die Arbeit im digitalen Labor ist ebenso wichtig wie die eigentliche Grabung. Und die Chance, dabei bislang unbekannte Arten zu entdecken, ist immer da. „Das Großartige daran ist, dass die Ausstellungsbesucher live dabei sein werden“, unterstreicht Havlik. Vielfältige digitale und interaktive Elemente sollen sie dabei begleiten, wenn Edmonds Urzeitreich zu neuem Leben erwacht.

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