Bis zum nächsten Mal: Werden wir aus Corona lernen?

Jahrzehntelang haben wir die Bedrohung durch Pandemien ignoriert. Werden wir aus Corona lernen?

Von Robin Marantz Henig
Veröffentlicht am 5. Aug. 2020, 15:35 MESZ
Was werden wir aus Corona lernen?

SARS beschränkte sich 2003 weitgehend auf Asien, MERS 2012 überwiegend auf den Nahen Osten und Ebola 2014 hauptsächlich auf Westafrika. Während der Kelch immer wieder an uns vorüberging, führten wir die Anfälligkeit anderer Länder auf Verhaltensmuster zurück, die es bei uns nicht gab.

Foto von sdecoret, Stock.adobe.com

Die Fehler, die wir alle begangen hatten – in den ersten Wochen der Coronavirus-Pandemie ertrug ich es nicht, darüber zu lesen. Was nützte es uns denn zu erfahren, dass der jetzige Zustand hätte vermieden werden können? Doch ich fühlte mich auch persönlich betroffen. Jeder Artikel über die übersehenen Warnzeichen für ein verheerendes neues Virus erinnerte mich daran, dass Wissenschaftler sich schon vor Jahrzehnten besorgt geäußert und einige wenige Wissenschaftsjournalisten darüber geschrieben hatten.

Corona: Viren als unsere Rivalen?

Zu denen gehöre ich. Als ich 1990 mit den Recherchen zum Thema begann, hatte der junge Virologe Stephen Morse gerade den Begriff Emerging Viruses geprägt. Er sollte in meinem Buch „A Dancing Matrix“, das drei Jahre später erschien, die Hauptrolle spielen. Ich beschrieb ihn damals als einen Unidozenten wie aus dem Bilderbuch: ernsthaft, bebrillt, vergeistigt. Morse und andere Wissenschaftler erforschten, welche Bedingungen zur Verbreitung von Mikroben beitragen konnten, die es im Menschen noch nicht gegeben hatte und die daher besonders tödlich waren.

Gemeint waren Klimawandel, rasante Urbanisierung, die Nähe von Menschen zu Nutz- oder Waldtieren, die den Viren als Reservoir dienen. Sie warnten, dass sich diese Killerpathogene dank einer zunehmend globalisierten Wirtschaft, der internationalen Luftfahrt und Migration aufgrund von Hungersnöten und Kriegen schnell auf der ganzen Welt verbreiten könnten. Klingt das vertraut? „Viren sind unsere einzigen Rivalen um die Herrschaft über diesen Planeten“ – die Mahnung des Molekularbiologen und Nobelpreisträgers Joshua Lederberg ziterte ich in der Einleitung meines Buchs. Der Satz klingt heute erschreckend weitsichtig.

Vorhergesagte Grippe-Pandemie

Als die Todesfälle durch COVID-19 in den USA noch bei unter tausend lagen, rief ich Morse an, um ihn zu fragen, wie er zurechtkäme. Er lehrt Epidemiologie an der Columbia University und gehört heute zu der Altersgruppe, die am anfälligsten für einen schweren Verlauf der Krankheit ist (ich selbst übrigens auch). Er befand sich mit seiner Frau in freiwilliger Quarantäne in ihrer Wohnung in Manhattan, nur wenige Kilometer von meiner entfernt. „Es entmutigt mich, dass wir nach all dem nicht besser vorbereitet sind und dass wir das alles immer noch nicht wahrhaben wollen“, sagte Morse. Dann brachte er sein Lieblingszitat, eine Äußerung des Management-Gurus Peter Drucker, der einmal gefragt wurde, was der schlimmste Fehler sei, den man machen könne. Drucker habe geantwortet: „Richtig zu liegen, bevor die Zeit gekommen ist.“ Morse und ich lagen nicht richtig, weder vor der Zeit noch überhaupt. Niemand tat das.

Wenn ich auf Lesereise gefragt wurde, was die nächste Pandemie verursachen würde, sagte ich, die meisten der mir bekannten Experten gingen von Influenza aus. „Listen habe ich nie gemocht“, meinte Morse während unseres Telefonats. Er habe immer gewusst, dass die nächste Seuche von überallher kommen konnte. Doch Anfang der Neunzigerjahre konzentrierten er und seine Kollegen sich überwiegend auf Influenza, also tat ich dasselbe. Vielleicht war das ein Fehler. Die nächste Pandemie würde durch ein Influenzavirus verursacht werden? Das beunruhigte wenig. „Grippe? Die kommt doch jedes Jahr. Dagegen haben wir einen Impfstoff.“

Fiktive Szenarien vs. Realität

Vielleicht war es zu einfach, Warnungen als „nur eine Grippe“ oder als Katastrophenszenario einer überreizten Autorin abzutun. Doch andere Bücher wurden zu Bestsellern, etwa „Hot Zone“ von Richard Preston und „Die kommenden Plagen“ von Laurie Garrett, die ein Jahr nach meinem erschienen. Zu den neueren Titeln gehört „Spillover“ von David Quammen, die Fortsetzung einer Reportage über Zoonosen, die er 2007 für NATIONAL GEOGRAPHIC geschrieben hat. Überall breiteten die Autoren dieselben düstere Szenarien, dieselben Planspiele, dieselben Warnungen aus. Warum reichte das alles nicht? Vielleicht hätte der verstorbene Edwin Kilbourne etwas dazu zu sagen gehabt. Er gehörte zu den führenden Grippeimpfstoffforschern.

Auf einer Konferenz Mitte der Achtzigerjahre trug er ein Szenario mit einem fiktiven schrecklichen Virus vor, dessen Eigenschaften es zum ansteckendsten, tödlichsten und unkontrollierbarsten aller Viren machen würden. Er nannte es „maximal malignes Monstervirus“ oder kurz MMMV. Im Szenario verbreitete sich das fiktive MMMV durch die Luft wie Influenza, war umweltstabil wie Polio und brachte seine eigenen Gene direkt in den Zellkern des Wirtes wie HIV.

Coronavirus schlimmer als Influenza

Das neuartige Coronavirus ist nicht Kilbournes dämonisches MMMV, aber es hat einige seiner schlimmsten Eigenschaften. Es wird durch die Luft übertragen, vermehrt sich in den unteren Atemwegen und überlebt wahrscheinlich tagelang auf Oberflächen. Dazu verlaufen manche Fälle mild oder asymptomatisch; obwohl die Erkrankten infektiös sind, fühlen sie sich häufig gesund genug, um nach draußen und zur Arbeit zu gehen. In dieser Hinsicht ist es sogar schlimmer als Influenza und noch schwieriger einzudämmen. Auch Kilbourne sagte mir vor 30 Jahren, dass er MMMV zu Illustrationszwecken heraufbeschworen habe, nicht als Prophezeiung. „Es ist eine tückische Angelegenheit, die Evolutionswege und das Auftreten von Viren vorhersagen zu wollen. Schon wenige Veränderungen können zu großen Unterschieden im Verhalten der Mikroben führen“, warnte er.

BELIEBT

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    In reichen westlichen Ländern haben wir uns vielleicht an die Bedrohung durch eine weltweite Pandemie gewöhnt, weil wir schon so viele Ausbrüche tödlicher Epidemienmiterlebt haben, die aber auf beruhigend ferne Regionen begrenzt blieben. Bis auf AIDS haben sich die meisten verheerenden Epidemien nicht weltweit ausgebreitet: SARS beschränkte sich 2003 mehr oder weniger auf Asien, MERS blieb 2012 überwiegend im Nahen Osten und Ebola suchte 2014 vor allem Westafrika heim.

    Während der Kelch immer wieder an uns vorüberging, war es einfach für uns, die Anfälligkeit anderer Länder auf Umstände und Verhaltensmuster zurückzuführen, die es bei uns nicht gab. Die meisten von uns ritten nun mal nicht auf Kamelen, aßen keine Affen und fassten auf Tiermärkten keine lebendigen Fledermäuse oder Zibetkatzen an. Diese „innere Distanz“ gegenüber der Bedrohung war in vieler Hinsicht unser Verderben. Als ich kürzlich mein Buch noch einmal las, fand ich einen Satz, der die Beständigkeit dieser beschämenden Haltung unterstreicht. „Fragt man einen Feldvirologen, was nötig ist, damit eine Epidemie als untersuchenswert gilt“, schrieb ich, „so wird er mit berufseigenem Zynismus antworten: ‚Der Tod eines Weißen.‘“

    Was können wir aus Corona lernen?

    Wie fühlte ich mich nun angesichts der Coronavirus- Pandemie ? Nachdem ich vor fast drei Jahrzehnten geschrieben hatte, dass eine Pandemie sich ziemlich genau so abspielen würde, verursachte mir das Erlebnis Schwindel. Es setzte eine mir bislang unbekannte Selbstfokussierung in Gang, die bis zur Frage führte: Hätte ich damals vehementer auf Überwachung und Vorbereitung gedrungen – hätte ich also ein besseres Buch geschrieben –, wären wir dann heute trotzdem in dieser Situation? Es ist erhellend, die Berichte über die Epidemien des letzten Jahrhunderts nachzulesen. Immer wieder tauchten neue Viren auf und wüteten in Populationen, bis sie schließlich ausstarben. Seit der Grippepandemie 1918/19 hat es allerdings keine mehr in dieser Größe gegeben und überhaupt noch nie eine mit dieser bösartigen Mischung aus Übertragbarkeit und Letalität. In den Neunzigerjahren haben wir beinahe die richtigen Lehren gezogen, sie dann aber ignoriert – vielleicht bleiben sie diesmal präsent, da die Vorhersagen eingetreten sind?

    Aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow

    Robin Marantz Henig lebt in New York. Sie ist Wissenschaftsjournalistin und Autorin von neun Büchern. In unserer diesjährigen Januar-Ausgabe schrieb sie über das neue Forschungsgebiet der Mikrobiomik.

    In der August-Ausgabe des NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins findest Du eine große Titelgeschichte zum Thema Pandemien und viele interessante Reportagen. Keine Ausgabe verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

    Foto von National Geographic Magazin

    Der Artikel "Bis zum nächsten Mal: Werden wir aus Corona lernen?" wurde in der Juli 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins veröffentlicht. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

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