Lektionen aus der Spanischen Grippe: Wie man die Kurve abflacht

Analysen der Maßnahmen verschiedener US-Städte zeigen, was am besten gegen Pandemien hilft – und was passiert, wenn man zu früh mit Social Distancing aufhört.

Von Nina Strochlic, Riley D. Champine
Veröffentlicht am 3. Apr. 2020, 13:18 MESZ

Am 17. September 1918 wurde in Philadelphia der erste Fall einer tödlichen Grippe bekannt, die sich wie ein Lauffeuer durch die USA verbreitete. Am darauffolgenden Tag starteten die Vertreter der Stadt eine große Kampagne gegen das öffentliche Husten, Spucken und Niesen, um die Verbreitung des Virus aufzuhalten. Zehn Tage später – und trotz der Gefahr einer Epidemie – hielt die Stadt trotzdem eine Parade ab, der 200.000 Menschen beiwohnten.

Grafik: Todesfälle Spanische Grippe

Im Vergleich: Todesfälle während der Spanischen Grippe.

Foto von Riley D. Champine, Ng Staff

Die Erkrankungsfälle nahmen zu, bis am 3. Oktober schließlich Schulen, Kirchen, Theater und öffentliche Versammlungsplätze geschlossen worden. Nur zwei Wochen nach dem ersten offiziellen Fall waren mindestens 20.000 weitere Menschen erkrankt.

Die Influenza-Pandemie von 1918, auch bekannt als die Spanische Grippe, dauerte bis 1920 an und gilt als die tödlichste Pandemie der modernen Geschichte. Nun, da das Coronavirus die Welt zwangsentschleunigt, suchen Forscher auch in den historischen Aufzeichnungen zur Spanischen Grippe nach Hinweisen darauf, wie sich globale Pandemien am effektivsten stoppen lassen. Die Maßnahmen, die damals umgesetzt wurden, um die Ausbreitung der Krankheit in den amerikanischen Städten aufzuhalten, könnten Lektionen für die Bekämpfung der aktuellen Krise bereithalten.

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    Grafik: Todesfälle Spanische Grippe

    Im Vergleich: Todesfälle während der Spanischen Grippe.

    Foto von Riley D. Champine, Ng Staff

    Der erste bekannte Fall der Spanischen Grippe in den USA trat im März 1918 in einer Militärbasis in Kansas auf. Von dort aus verbreitete sich die Krankheit über das Land. Kurz nachdem Philadelphia Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit erlassen hatte, wurde ein Fall St. Louis bekannt. Nur zwei Tage später verbot die Stadt die meisten öffentlichen Zusammenkünfte und verhängte eine häusliche Quarantäne für die Erkrankten. Als die Pandemie endlich überstanden war, hatte sie weltweit zwischen 50 und 100 Millionen Todesopfer gefordert, darunter auch mehr als 500.000 US-Amerikaner. Die Sterberate in St. Louis war aber nur halb so hoch wie die in Philadelphia. In St. Louis starben in den ersten sechs Monaten der Pandemie pro 100.000 Einwohner schätzungsweise 385 an dem Virus. Im Vergleich dazu waren es in Philadelphia 807 Opfer pro 100.000 Einwohner.

    Die dramatischen demografischen Verschiebungen der letzten 100 Jahre machen es jedoch zunehmend schwierig, eine Pandemie einzudämmen. Die zunehmende Globalisierung, die Verstädterung und die größere Zahl und Dichte der Stadtbevölkerung können dafür sorgen, dass sich ein Virus binnen weniger Stunden über einen ganzen Kontinent ausbreitet. Die Werkzeuge, um einen solchen Ausbruch einzudämmen, sind aber beinahe dieselben geblieben. Damals wie heute sind das wichtigste Mittel zur Bekämpfung einer Ausbreitung staatliche Gesundheitsmaßnahmen – zumindest, solange kein Impfstoff verfügbar ist. Diese Maßnahmen beinhalten die Schließung von Schulen, Geschäften und Restaurants, Einschränkungen im Transport, Social Distancing und ein Verbot öffentlicher Versammlungen.

    Die ersten offiziellen Fälle der Spanischen Grippe von 1918 wurden im US-Militärcamp Funston in Kansas dokumentiert, ...

    Natürlich ist es eine Sache, solche Verordnungen zu erlassen, und eine ganz andere, dafür zu sorgen, dass sich die Bürger daran halten: 1918 schoss ein Gesundheitsbeamter in San Francisco auf drei Menschen, weil sich einer von ihnen geweigert hatte, den vorgeschriebenen Mundschutz zu tragen. In Arizona verhängte die Polizei ein Bußgeld von zehn Dollar für jeden, der ohne solche Schutzmasken unterwegs war. Schlussendlich zahlten sich aber die strengsten und umfassendsten Maßnahmen aus. Am schnellsten reagierten die Städte St. Louis, San Francisco, Milwaukee und Kansas City mit strengen Versammlungsverboten und Geschäftsschließungen. Die Maßnahmen schienen die Übertragungsrate um 30 bis 50 Prozent zu senken. New York City hatte von allen Städten am frühesten auf die Krise reagiert und sowohl Quarantäne als auch eingeschränkte Öffnungszeiten angeordnet. Die Stadt hatte insgesamt die niedrigste Sterberate an der Ostküste.

    Zwei Studien, die 2017 in „Proceedings of the National Academy of Sciences” erschienen, wollten analysieren, wie die Reaktionen auf die Krankheit deren Ausbreitung in verschiedenen Städten beeinflusst haben. Die Forscher verglichen die Sterberaten, die öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen und den zeitlichen Verlauf der Pandemie. Sie fanden heraus, dass die Sterberate in Städten, die frühzeitig Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatten, etwa 50 Prozent niedriger war als in Städten, die sich nur spät oder gar nicht zu entsprechenden Maßnahmen durchgerungen hatten. Den größten Effekt hatte die gleichzeitige Schließung von Schulen, Kirchen, und Theatern sowie ein Verbot öffentlicher Versammlungen. Diese Maßnahmen verringerten den Druck auf das öffentliche Gesundheitssystem und überbrückten die Zeit bis zur Entwicklung eines Impfstoffs.

    Die Studien kommen aber auch noch zu einer anderen wichtigen Schlussfolgerung: Wenn die Maßnahmen zu früh gelockert werden, kann die stabilisierte Situation in einer Stadt schnell wieder außer Kontrolle geraten. St. Louis war beispielsweise ob ihrer niedrigen Sterberate so zuversichtlich, dass die Stadt weniger als zwei Monate nach Beginn des Ausbruchs das öffentliche Versammlungsverbot wieder aufhob. Wenig später folgte eine Welle von neuen Krankheitsfällen. Jene Städte, die ihre Maßnahmen aufrechterhielten, erlebten keine zweite Welle von Todesfällen.

    Den Studien zufolge lag der Schlüssel zur Abflachung der Kurve im Social Distancing. Wahrscheinlich wird das auch 100 Jahre später bei der aktuellen Coronavirus-Pandemie noch so sein. „Wir haben hier eine Fundgrube an historischen Daten von unschätzbarem Wert, und wir haben gerade erst angefangen, diese Daten bei unseren eigenen Entscheidungen mit einzubeziehen“, schrieb der Epidemiologe Stephen S. Morse von der Columbia University in einer Analyse der Daten. „Wenn wir aus den Lektionen von 1918 lernen, könnte uns das dabei helfen, dieselben Fehler nicht noch einmal zu machen.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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