Exklusiv: Schädelrekonstruktion aus rätselhafter Ritualstätte

Dieser Mann lebte vor etwa 8.000 Jahren ein langes Leben in Schweden, ehe sein Schädel für eine nebulöse Zeremonie ausgewählt wurde.

Von Kristin Romey
Veröffentlicht am 23. Juni 2020, 12:51 MESZ
Das Schädelbruchstück, mit dem das Gesicht dieses Mannes rekonstruiert wurde, wurde um 6000 v. Chr. zusammen ...

Das Schädelbruchstück, mit dem das Gesicht dieses Mannes rekonstruiert wurde, wurde um 6000 v. Chr. zusammen mit anderen menschlichen Schädeln und tierischen Kieferknochen in einem schwedischen See deponiert. Der Künstler entschied sich, dem Mann einen Mantel aus Wildschweinhaut zu geben – eine der Tierarten, deren Kiefer in dem See gefunden wurde.

Foto von Oscar Nilsson

Er ist eine eindrucksvolle Erscheinung, irgendwo in seinen Fünfzigern, mit einem drahtigen grauen Bart, der in seinem Wildschweinmantel verschwindet. Seine breite Brust ist mit Kreide betupft und seine blassblauen Augen sind leicht verengt – als ob er in der Ferne etwas erspäht. „Ludvig“ lebte vor etwa 8.000 Jahren in Nordeuropa.

Schade nur, dass Ludvig nicht sprechen kann, denn die Forscher haben viele Fragen an ihn.

Gesicht einer alten Königin erstmals enthüllt
Fast 1.200 Jahre nach ihrem Tod rekonstruierten Wissenschaftler das Gesicht einer peruanischen Königin. Die 2002 entdeckte Frau war in einem Grab bestattet worden, in dem noch 57 weitere adelige Frauen lagen. Mit Hilfe eines 3D-Drucks ihres Schädels wurden ihre Gesichtszüge von Hand nachgebaut.

Er ist die erste Gesichtsrekonstruktion aus jenen menschlichen Überresten, die vor etwa einem Jahrzehnt in Schweden in Kanaljorden ausgegraben wurden. An der sonderbaren archäologischen Stätte wurden irgendwann um 6000 v. Chr. Tier- und Menschenknochen auf einer versunkenen Steinplattform in der Mitte eines kleinen Sees angeordnet. Kanaljorden machte 2018 international Schlagzeilen, als Forscher einen Bericht über die Ausgrabung veröffentlichten. Darin stellten sie fest, dass im Inneren zweier Schädel Holz erhalten geblieben war – ein Hinweis darauf, dass zumindest einige der Schädel auf Pfähle gespießt worden waren. So etwas hatten die Wissenschaftler noch nie zuvor gesehen.

„Diese Stätte ist sehr faszinierend und ziemlich komplex“, sagt Fredrik Hallgren, Direktor des Kanaljorden-Projekts der schwedischen Stiftung für Kulturerbe.

Die Gesichtsrekonstruktion wurde vom Charlottenborgs slott in Auftrag gegeben, einem Museum in der nahegelegenen Stadt Motala. Das Museum befindet sich in einem Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert, das von Graf Ludvig Wierich Lewenhaup erbaut wurde – dem Namensvetter des prähistorischen Ludvig.

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BELIEBT

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    Hannah Graffman ist die Leiterin der Kultur- und Freizeitabteilung von Motala. Sie sagt, die Rekonstruktion werde den Menschen in Motala die Möglichkeit geben, zu sehen, wie einer ihrer frühesten Bewohner aussah. Sein Spitzname, räumt sie ein, sei „allerdings nicht wirklich ein Name aus der Steinzeit“.

    Kanaljorden wurde zwischen 2009 und 2014 ausgegraben und ist eine besonders faszinierende Stätte für Archäologinnen, die das skandinavische Mesolithikum untersuchen. In diesem Zeitalter hatten sich die letzten Gletscher gerade aus der Region zurückgezogen, und vor etwa 11.000 Jahren begannen Jäger und Sammler vom westlichen Festland und aus Nordosteuropa damit, die Gegend zu erschließen.

    Die Knochenfunde von Kanaljorden unterscheiden sich aber von den meisten anderen mesolithischen Gräbern Skandinaviens, die zumeist Bodenbestattungen sind. Hier wurden um 6000 v. Chr. die Schädel von neun Männern und Frauen im See platziert – womöglich auf Pfählen aufgespießt. Rundherum wurden Kieferknochen (aber keine Schädel) mehrerer lokaler Tierarten angeordnet, darunter Wildschweine, Bären, Hirsche und Dachse.

    „Es wirkt fast so, als würden sich Mensch und Tier symbolisch ergänzen“, sagt Hallgren.

    Die ungewöhnlichen Funde von Kanaljorden geben nicht nur den Archäologen zu denken, sondern auch dem Bildhauer Oscar Nilsson. Er studierte Fotografien von der Stätte, um zu verstehen, was die Menschen damals dazu getrieben haben mag, die Knochen so sorgfältig zu arrangieren und zu versenken.

    „Wenn man sich die Schädel anschaut, wie sie platziert wurden, taucht man in ihre Vorstellungswelt, ihre Religion ein“, sagt er.

    Die Forscher konnten DNA-Daten aus sechs der neun Schädel extrahieren und so auf die Farbe der Haut, Haare und Augen dieser Menschen schließen. Einige Europäer des Mesolithikums hatten wahrscheinlich eine dunklere Hautfarbe als die heutigen Bewohner, was sich in den jüngsten Nachbildungen von zwei Frauen widerspiegelt, die zur Zeit Ludvigs oder später in Skandinavien lebten. Während Ludvig helle Haut und Augen hat, deutet die DNA eines weiblichen Schädels, der im nächsten Jahr rekonstruiert wird, darauf hin, dass die Frau blond war und dunklere Haut hatte. Diese Unterschiede zeugen von der genetischen Komplexität Skandinaviens zu jener Zeit.

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    Graffman ist gespannt darauf, wie die Einwohner von Motala auf Ludvig reagieren werden. Sie betrachtet die Rekonstruktion als eine Möglichkeit, über Raum und Zeit hinweg Brücken zwischen den Menschen zu schlagen.

    „Das ist es, was wir in den verschiedensten Bereichen versuchen. Ob es nun so etwas [wie die Rekonstruktion] ist oder wenn wir Bücher über andere Menschen lesen oder Kunst sehen, die uns verbindet“, sagt sie. „Ich glaube, es ist wichtig, die Dinge zu finden, die die Menschen verbinden.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

    Archäologie

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