In Sibirien explodiert der Permafrost

Seit 2014 wurden 17 gewaltige Krater in Sibirien entdeckt. Forscher ergründen, welcher Mechanismus diese Löcher in den Permafrost sprengte.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 28. Sept. 2020, 16:59 MESZ
Der neu entdeckte Krater gehört zu den bisher größten und ist etwa 50 Meter tief.

Der neu entdeckte Krater gehört zu den bisher größten und ist etwa 50 Meter tief.

Foto von Evgeny Chuvilin

Bei einem Flug über die weitläufige sibirische Tundra entdeckte ein russisches Fernsehteam eine faszinierende Erscheinung: einen 50 Meter tiefen Krater, der im gefrorenen Boden klaffte. Eis- und Dreckbrocken, die anscheinend aus dem Boden gesprengt worden waren, lagen im Umkreis von Hunderten von Metern um das Loch verstreut.

Es ist nicht der erste solche Krater, der in der sibirischen Arktis entdeckt wurde. Das erste Phänomen dieser Art wurde 2014 dokumentiert. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Krater durch Methan- und Kohlendioxidgase entstehen, die in Schmutz- und Eishügeln eingeschlossen sind – ein Phänomen, das mit der Erwärmung des Klimas immer häufiger auftreten könnte. Doch vieles bleibt ungewiss.

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„Wir wissen immer noch nicht, was da passiert“, sagt Sue Natali, eine Permafrost-Expertin am Woodwell Climate Research Center in Falmouth, Massachusetts. „Und ob es noch anderswo passieren wird.“

Jüngste Studien an anderen Kratern deuten auf den wahrscheinlichen Mechanismus hinter diesen Aktivitäten hin: Kryovulkanismus. Dabei ereignen sich die vulkanischen Ausbrüche eher in Form von frostigem Schlamm oder Schneematsch als von feurigem, geschmolzenem Gestein. Solche Phänomene sind anderswo in unserem Sonnensystem gut bekannt, wie zum Beispiel auf dem wässrigen Saturnmond Enceladus. Auf der Erde gilt Kryovulkanismus jedoch als Seltenheit. Die Untersuchung der sibirischen Krater könnte Hinweise darauf liefern, was auf diesen weit entfernten Welten geschieht.

Forscher suchten den Krater kurz nach seiner Entdeckung auf, um besser zu verstehen, wie diese Merkmale entstehen.

Foto von Evgeny Chuvilin

Darüber hinaus macht ihre Entdeckung deutlich, wie viel es über unseren blauen Planeten noch zu lernen gibt – insbesondere, da die Wissenschaftler die Folgen einer deutlich wärmeren Zukunft erst noch ergründen. „Es können Prozesse auftreten, über die wir noch nicht einmal nachgedacht haben“, sagt Natali. „Vielleicht gibt es da draußen noch mehr; man weiß eben nur das, was man weiß.“

Durchlöcherte Arktis

Der erste sibirische Krater wurde im Juli 2014 entdeckt – und sofort gab es zahlreiche Theorien zu seinem Ursprung, von einem Meteoriteneinschlag über Raketenbeschuss bis zu – natürlich – Aliens. 

In den vergangenen Jahren haben Forscher 15 weitere Krater identifiziert, die mutmaßlich durch natürliche Explosionen entstanden. Das neueste Loch mit der Nummer 17 könnte das bisher größte sein, sagt Evgeny Chuvilin, ein Permafrost-Experte am russischen Skoltech Center for Hydrocarbon Recovery. Die Untersuchung dieser arktischen Krater ist jedoch schwierig. Nach ihrem Entstehen füllen sie sich langsam mit Wasser und ähneln dann den vielen Seen, die die Region durchziehen.

Kurz nach der jüngsten Entdeckung beeilten sich Chuvilin und seine Kollegen deshalb, Proben aus dem eisigen Krater auf der Jamal-Halbinsel in Nordwestsibirien zu entnehmen. Vor dem grau-gelb-grünen Hintergrund der Tundra ob sich das klaffende Loch „wie ein Außenseiter“ ab, sagt Chuvilin. „Wenn man in die Nähe eines neuen Kraters kommt, ist man zunächst einmal von seiner Größe beeindruckt.“ Man hört Geräusche des langsam tauenden Erdbodens der fast senkrechten Wände, der in die Tiefe bröckelt. „Es wirkt fast so, als sei er lebendig“, sagt er.

Das Team „bearbeitet“ nun „fieberhaft die Proben für einen wissenschaftlichen Artikel“, erklärt er per E-Mail.

Die Forscher hoffen, nicht nur den Prozess hinter den Explosionen besser zu verstehen, sondern auch vorherzusagen, wo sie in Zukunft stattfinden könnten. Immerhin könnten die Explosionen eine Gefahr für die Einheimischen darstellen. Sie haben berichtet, dass sie in der Nähe des Fundortes neuer Krater ein Dröhnen hörten oder Flammen sahen, sagt Andrey Bychkov, ein Geochemiker an der Moskauer Lomonossow-Universität. Er selbst hat schon andere Krater untersucht, den neu entdeckten aber noch nicht besucht. Im Jahr 2017 wurde berichtet, dass ein Krater in der Nähe eines Lagers von Nenzen-Rentierzüchtern explodiert sein soll. Die Gefahr erstreckt sich möglicherweise auch auf die reichlich vorhandene Öl- und Gasinfrastruktur der Region.

Kryovulkanismus in Sibirien

Analysen anderer Krater, einschließlich der Entnahme von Proben aus ihren eisigen Wänden, haben einige Anhaltspunkte dafür geliefert, was hier vor sich geht: Im Jahr 2018 stellten Bychkov und seine Kollegen die Hypothese auf, dass es sich bei den Explosionen um eine Form von Kryovulkanismus handele, in dessen Mittelpunkt eine explosive Kombination aus Gas, Eis, Wasser und Schlamm steht.

Die Krater bilden sich im Permafrost, der normalerweise den ganzen Sommer über gefroren bleibt und 23 Millionen Quadratkilometer der nördlichen Hemisphäre bedeckt. Sie scheinen ihren Anfang in tiefen Taschen ungefrorenen Bodens zu nehmen, sogenannten Taliks. Solche Taliks bilden sich oft unter Seen, da das darüber liegende Wasser den darunter liegenden Boden wärmt und isoliert. Da der umgebende Permafrost gefriert und auftaut, verändern sich die Merkmale der Seen ständig, sodass sie sich immer wieder füllen oder ganz abfließen können. Wenn ein See abfließt, beginnt der Boden zu vereisen.

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Foto von National Geographic

„Er kann von unten, von den Seiten und von oben her gefrieren, also friert er aus allen Richtungen ein“, erklärt Katey Walter Anthony, eine Ökologin an der University of Alaska Fairbanks. Da Eis mehr Platz als Wasser einnimmt, drückt das Wachstum des Eises den nicht gefrorenen Schlamm und das Wasser zusammen, verdichtet das Gas und unter Druck und wölbt sich schließlich ein Hügel an der Oberfläche auf, der Pingo genannt wird.

Aber nicht alle Krater entstehen durch Seen, sagt Natali. Taliks können sich auch in anderen Situationen bilden, zum Beispiel in einer unterirdischen Zone mit hohem Salzgehalt. Das Salz senkt die Temperaturgrenze, bei der Wasser gefriert. Und einige Pingos werden beständig durch von unten aufsteigendes Grundwasser gespeist.

Pingos sind in der gesamten Arktis verbreitet – mehr als 11.000 Stück durchziehen die Nordhalbkugel. Aber kraterbildende Explosionen, so scheint es, sind viel seltener. Sie sind bislang nur auf den sibirischen Halbinseln Jamal und Gydan beobachtet worden. Und diese Explosionen erfordern einen Überschuss an einer bestimmten Zutat: Gas.

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Erdgas ist in Westsibirien reichlich vorhanden, und ein Teil davon steigt wahrscheinlich entlang von Rissen und porösen Zonen im Boden auf und direkt in schlammige Taliks hinein. Aber es gibt noch andere mögliche Gasquellen: Mikroben zersetzen organisches Material und stoßen dabei Methan oder Kohlendioxid aus. Ein Teil des Gases kann auch aus dem Zerfall von kristallinem Methanhydrat stammen.

„Es ist vielleicht nicht immer das Gleiche“, sagt Natali. Verschiedene Hügel könnten von unterschiedlichen Gasquellen gespeist werden, aber die Gase dienen wahrscheinlich alle einem ähnlichen Zweck: Druckaufbau. Irgendwann – entweder wegen des steigenden Gasdrucks oder wegen der Destabilisierung der darüber liegenden Eiskappe – entlädt sich das System in einer mächtigen Explosion. Sie schleudert den Schlamm über die Oberfläche und hinterlässt einen steilwandigen Krater.

„Wie bei einer Champagnerflasche“, sagt Bychkov.

Der Faktor Klimawandel

Die Untersuchung der Explosionen könnte dazu beitragen, mehr über einige der eisigen Eruptionen auf anderen Körpern im Sonnensystem zu lernen. Insbesondere die sibirischen Krater könnten sich als ein faszinierendes Analogon für den Kryovulkanismus auf dem Zwergplaneten Ceres erweisen. Im Gegensatz zu vielen anderen eisigen Welten mit Kryovulkanismus gibt es dort einige der gleichen Zutaten wie in der Arktis, sagt Lynnae Quick. Die planetare Geophysikerin hat sich am Goddard Space Flight Center der NASA auf Kryovulkanismus spezialisiert.

„Ceres ist wirklich interessant, weil es eine felsige Bodenkomponente hat, die an diesen Prozessen beteiligt ist, die wir auf anderen Eismonden nicht sehen“, sagt Quick. „Wir versuchen immer noch herauszufinden, was wir dort sehen.“

Ebenso bleiben noch Fragen zu den sibirischen Kratern offen. Eine davon ist ein möglicher Zusammenhang mit dem Klimawandel. Die Arktis hat in den letzten Jahren außergewöhnlich warme Temperaturen erlebt. Allein im Sommer 2020, am 20. Juni, kletterte das Thermometer in der kleinen russischen Stadt Werchowjansk auf über 37 °C – die höchste Temperatur in der Region seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1885.

Zwar scheinen sich die Krater seit ihrer Entdeckung im Jahr 2014 gemehrt zu haben, aber das Phänomen könnte bereits Tausende von Jahren alt sein und wir haben es einfach erst vor Kurzem bemerkt, sagt Walter Anthony. Flüge über die Region sind häufiger geworden, und vor allem die Bevölkerung auf Jamal ist enorm gewachsen. „Jetzt gibt es dort Bahnverbindungen und große Städte“, sagt Bychkov.

Ein wärmeres Klima kann jedoch zu häufigeren Explosionen beitragen, da die Eiskappen auf den Gasblasen durch Tauprozesse destabilisiert werden und eine Explosion auslösen können. Tauprozesse könnten auch „Schornsteine“ schaffen, durch die die Gase aus tieferen Bodenschichten leichter nach oben in die Taliks aufsteigen können, fügt Walter Anthony hinzu.

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Im großen System der Treibhausgasemissionen sind die kurzen Ausstöße von Methan und Kohlendioxid, die bei jeder Explosion freigesetzt werden, wahrscheinlich unbedeutend. Aber die Explosionen können einen „kurzfristigen Einblick in ein längerfristiges Phänomen geben“, so Walter Anthony.

Der Klimawandel hat bereits einen Tribut von der Arktis gefordert, die sich mindestens doppelt so schnell erwärmt wie der Rest des Planeten. Eine immer dickere Schicht des kohlenstoffreichen Permafrostes taut jedes Jahr auf – und an manchen Orten gefriert der Boden selbst in den Wintermonaten nicht wieder. Ein solches Auftauen ermöglicht es den Mikroben, das einst gefrorene organische Material zu verwerten und Kohlendioxid oder Methan auszustoßen. Aber es wirft auch größere Bedenken auf: Der Permafrost wirkt wie ein Deckel auf den geologischen Methangasspeichern tief unter der Erde und verlangsamt ihren Weg in die Atmosphäre, erklärt Walter Anthony. Wenn der Permafrost taut, erhält dieser Deckel immer mehr Löcher, durch die das Methan an die Oberfläche entweichen kann.

Walter Anthony untersucht dieses Phänomen in arktischen Seen und erklärt, dass jüngste Studien zur Kraterbildung ein weiterer Beweis dafür sein könnten, dass tiefes Gas bereits an die Oberfläche aufsteigt. „Wenn wir den Permafrost weiter in einen Block Schweizer Käse verwandeln, sollten wir mehr davon sehen“, sagt sie.

„In der Geschichte des Klimawandels ist das ein unberechenbarer Faktor.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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