38 °C in der Arktis: Die Folgen der sibirischen Hitzewelle

Das Rekordhoch ist weit mehr als ein klimatischer Ausrutscher für die Arktis, wo die monatelange Hitze gefährliche Konsequenzen nach sich zieht.

Von Alejandra Borunda
Veröffentlicht am 29. Juni 2020, 11:42 MESZ
Kinder spielen am 5. Juli 2019 am Ufer des Flusses Kolyma in der sibirischen Stadt Syrjanka, ...

Kinder spielen am 5. Juli 2019 am Ufer des Flusses Kolyma in der sibirischen Stadt Syrjanka, Russland. Der Klimawandel verändert die Landschaft und die Wirtschaft Sibiriens.

Foto von Michael Robinson Chavez, The Washington Post/Getty Images

Eine ungewöhnlich lange Hitzewelle hat die russische Arktis seit Monaten im Griff. Die Temperaturen im russischen Werchowjansk – nördlich des Polarkreises – stiegen am 20. Juni, dem offiziellen ersten Sommertag in der nördlichen Hemisphäre, auf 38 °C. Dieses Rekordhoch ist ein Signal dafür, dass sich der Planet rapide und kontinuierlich erwärmt – und ein Vorgeschmack darauf, wie sich die Erwärmung der Arktis in einer immer heißeren Zukunft fortsetzen wird, sagen Wissenschaftler.

„Wir sagen schon seit Langem, dass es mehr Wetterextreme wie starke Hitzewellen geben wird“, sagt Ruth Mottram, Klimawissenschaftlerin am Dänischen Meteorologischen Institut. „Es ist ein bisschen so, als würden sich die Vorhersagen erfüllen – und zwar eher, als wir gedacht haben.“

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Der Rekord vom Samstag war nicht nur ein kurzer Ausschlag, ehe in der russischen Arktis wieder normalere Sommertemperaturen Einzug halten. Die Hitzewelle wird voraussichtlich noch mindestens eine weitere Woche anhalten. Die 38 °C waren die höchste Temperatur in der Stadt seit Beginn der Aufzeichnungen 1885.

Hitzestau in der Arktis

Heiße Sommertage sind in der Arktis keine Seltenheit. Die Küsten neigen durch das maritime Klima dazu, etwas kühler zu bleiben, aber im Landesinneren steigen die Sommertemperaturen mitunter an. Fort Yukon in Alaska verzeichnete 1915 den allerersten Tag nördlich des Polarkreises mit 37,7°C, und 1988 erreichte Werchowjansk 37,3°C.

„Zu dieser Jahreszeit, um die Sommersonnenwende herum, hat man dort 24 Stunden lang Sonnenlicht“, sagt Walt Meier, Klimawissenschaftler am National Snow and Ice Data Center. „Das ist eine Menge Sonnenenergie, die da draufstrahlt. In diesen Gebieten in den hohen Breitengraden sind 26 °C bis 32 °C nicht ungewöhnlich.“

Aber der Klimawandel lässt die Wahrscheinlichkeit für extreme Temperaturen steigen, wie sie im Juni gemessen wurden, sagt er. Die Arktis erwärmt sich mehr als doppelt so schnell wie der Rest des Planeten: Die Grundtemperatur in der Hocharktis ist in den letzten hundert Jahren um 2 bis 3 °C gestiegen. Etwa 0,75 °C davon entfallen allein auf das letzte Jahrzehnt.

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    Das bedeutet, dass sämtliche Hitzewellen, die die Region treffen, durch die zusätzliche Erwärmung verstärkt werden. Die durchschnittliche Wärme eines Sommers nimmt also zu – ebenso wie die Wetterextreme.

    Der superheiße Tag dieses Monats ergab sich aus einer potenten Mischung verschiedener Faktoren. Zum einen hat der Klimawandel die Durchschnittstemperaturen in die Höhe getrieben. Zusätzlich erlebte Westsibirien einen der heißesten Frühlinge aller Zeiten, so die Klimaforscher des europäischen Erdbeobachtungsprogramms Copernicus. Seit Dezember 2019 liegen die Lufttemperaturen in der Region im Schnitt fast 6 °C über dem Durchschnitt der Jahre 1979 bis 2019. Die Hitze dürfte auch weit über dem Durchschnitt liegen, der in einem ähnlichen Sechsmonatszeitraum seit 1880 gemessen wurde. Im Mai lagen die Lufttemperaturen etwa 10 °C über dem „normalen“ Mai-Durchschnitt von 1 °C – ein Ereignis, das wahrscheinlich nur einmal in 100.000 Jahren auftreten würde, wenn der menschengemachte Klimawandel das Klimasystem nicht durcheinandergebracht hätte.

    „Es war wirklich bizarr mit anzusehen“, sagt Ivana Cvijanovic, eine Klimawissenschaftlerin am Barcelona Supercomputing Center. „In ganz Sibirien hält die Hitze jetzt schon so lange an. Januar, dann Februar, dann März, dann April. Das Muster ist wirklich auffällig.“

    Der warme Winter und heiße Frühling führten dazu, dass der Schnee, der normalerweise den Boden in weiten Teilen der Region bedeckt, etwa einen Monat früher als sonst schmolz. Der strahlend weiße Schnee spielt eine entscheidende Rolle dabei, Teile der Arktis kühl zu halten, indem er die einfallende Wärme der Sonne reflektiert. Sobald er verschwand, absorbierten Erdboden und Pflanzen die Hitze.

    Dann kamen verhängnisvolle Wetterbedingungen zusammen. Ein großes Hochdrucksystem schob sich über Westsibirien, wo es zum Stillstand kam. Solche Systeme gehen oft mit einem klaren, wolkenlosen Himmel einher – so kann die Sonnenwärme ungehindert auf den heißen sibirischen Boden treffen.

    „Die Luft ist dort gewissermaßen eingeschlossen. Das ist wie bei einem Ofen, der über dem Gebiet hängt und es immer weiter aufheizt, je länger er dortbleibt“, sagt Meier.

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    In den letzten Jahren sind die Auswirkungen solcher stagnierenden Hitzewellen in der Arktis immer offensichtlicher geworden. Im Jahr 2012 wurden 97 Prozent der Oberfläche des Grönländischen Eisschilds so warm, dass sie im Wesentlichen zu Schneematsch wurden. 2016 war es auf Spitzbergen in Norwegen so heiß, dass den Winter über teils Regen statt Schnee fiel. Im vergangenen Sommer war die Tauperiode an den Rändern des Grönländischen Eisschilds bis zu drei Monate länger – auf seiner Oberfläche bildeten sich klare, blaue Pfützen. Schmelzfluten sprudelten vom Rand des Kontinents herunter, und in seinen kargen Landschaften brachen Brände aus, nachdem eine Hitzewelle wochenlang über der Insel gehangen hatte.

    Es gibt eine lebhafte wissenschaftliche Debatte darüber, ob diese Art von Hitzewellen in den oberen Breitengraden aufgrund des Klimawandels heute länger anhalten oder häufiger werden als in der Vergangenheit. Was aber kaum jemand infrage stellt, ist, dass der Arktis in Zukunft viel extremere Hitze bevorsteht. Die winterlichen Durchschnittstemperaturen in der Region haben die im Pariser Klimaabkommen festgelegte Schwelle von 2 °C bereits überschritten. Und Vorhersagen deuten darauf hin, dass die jährliche Durchschnittstemperatur in der Arktis innerhalb weniger Jahrzehnte ebenfalls diese Grenze überschreiten wird.

    „Bei einem extremen Erwärmungsszenario würden wir bis 2100 jedes Jahr mit einem Ereignis wie diesem rechnen“, sagt Robert Rohde, ein Klimaforscher von Berkeley Earth.

    Ähnliche Muster zeigen sich auch am Südpol. An einem in Standort auf der Antarktischen Halbinsel wurden im Januar – zur Sommerzeit – um die 18 °C gemessen.

    Polare Verstärkung

    Die Pole erwärmen sich aufgrund eines Phänomens namens „Polare Verstärkung“ schneller als der Rest der Erde. Das Meereis, das früher einen großen Teil des Arktischen Ozeans bedeckte, bildete eine leuchtend weiße Schicht über den nördlichsten Gebieten des Planeten. Wie der Schnee, der die einfallende Sonnenstrahlung in Sibirien reflektiert, reflektiert auch das Eis die Sonnenwärme zurück in Richtung Weltraum.

    Doch seit sich die Erde erwärmt hat, bedeckt weniger Meereis den Arktischen Ozean. Die dunkle Wasseroberfläche absorbiert viel mehr Wärme. Auf diesem warmen Wasser wird die Bildung von Meereis noch weiter erschwert, was dazu führt, dass das Wasser noch mehr Sonnenwärme absorbiert – ein sich selbst verstärkender Teufelskreis.

    Es lässt sich kaum mit Sicherheit sagen, ob nun diese oder jene Hitzewelle wegen des Klimawandels schlimmer war – und bisher hat noch niemand eine entsprechende Analyse der aktuellen sibirischen Wettersituation durchgeführt. Aber im Falle jener Hitzewelle, die im vergangenen Sommer in Grönland und ganz Nordeuropa eine übermäßige Eisschmelze zur Folge hatte, fanden Forscher verräterische Spuren des vom Menschen verursachten Klimawandels. Die Hitze im Juni 2019 – als die Temperaturen in Frankreich auf über 45 °C kletterten – trat aufgrund menschlicher Einflüsse mit mindestens fünfmal größerer Wahrscheinlichkeit auf. Und rund 60 Prozent der ungewöhnlichen arktischen Wärme im Jahr 2016 waren auf den menschengemachten Klimawandel zurückzuführen, fanden Wissenschaftler heraus.

    Öl und Feuer

    Das heiße Wetter dieser Saison hat Konsequenzen. Unter der Erde ist ein großer Teil der russischen Arktis von Permafrost bedeckt – kohlenstoffreiche Torfböden, die von einer Eisschicht überzogen sind, welche normalerweise für einen Großteil des Jahres oder das ganze Jahr über gefroren bleibt. Doch die hohe Lufttemperatur erwärmte den gefrorenen Boden, teils mit fatalen Folgen.

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    Im Juni haben aufgetaute Böden womöglich den Einsturz eines Dieseltanks in Sibirien verursacht, bei dem 20.000 Tonnen Kraftstoff in einen nahegelegenen Fluss geflossen sind. Eine kürzlich durchgeführte Studie legt nahe, dass dies bei Weitem kein Einzelfall bleiben muss: Laut Wissenschaftlern sind bis zum Jahr 2050 riesige Bereiche der Infrastruktur in der Arktis gefährdet, weil der Boden unter ihnen langsam auftaut und absackt. Tausende von Kilometern an Pipelines und Straßen, Gebäude und Lagertanks, Ölfelder, Flughäfen und vieles mehr – sie alle könnten den Halt verlieren, wenn der Boden unter ihnen durch die steigenden Temperaturen auftaut.

    Auch Brände wüteten in der russischen Arktis. Der übermäßig warme Frühling trocknete sowohl den Boden als auch die Vegetation aus. Anfang Juni standen nach Angaben des russischen Forstdienstes über 12 Millionen Hektar in Flammen.

    „Es gibt eine ganze Menge Vegetation und Wald in Sibirien“, sagt Meier. „Und wenn es über so lange Zeit so heiß ist, trocknet alles aus und wird zu einem regelrechten Pulverfass.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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