mRNA gegen Krebs? Impfstoff-Technologie schenkt neue Hoffnung

Die Corona-Pandemie hat mRNA-Impfstoffe in das Licht der Öffentlichkeit gerückt. Klinische Studien zeigen, dass die Technologie sich auch als wirksame Waffe im Kampf gegen Tumore herausstellen könnte.

Von Stacey Colino
Veröffentlicht am 16. Juli 2021, 10:57 MESZ
Schwarzer Hautkrebs, hier pink eingefärbt, ist eine der gefürchtetsten Krebsarten beim Menschen.

Schwarzer Hautkrebs, hier pink eingefärbt, ist eine der gefürchtetsten Krebsarten beim Menschen. Er breitet sich schnell aus und kann fast jedes andere Organ im Körper befallen – hier im Bild die Lunge. Die abgebildeten Farben entsprechen nicht der wahren Pigmentierung der Zellen.

Foto von Dr. Cecil H. Fox, Science Source

Molly Cassidy lernte gerade für ihr Staatsexamen, als sie im Februar 2019 plötzlich einen starken Schmerz in ihrem Ohr spürte. Er zog durch den Kieferknochen, bis hin zu einem Knoten unter ihrer Zunge. „Mehrere Ärzte haben mir damals gesagt, das läge am Stress. Ich steckte in den Vorbereitungen zu meinem Examen und ich hatte einen zehn Monate alten Sohn“, sagt sie. Erst mehrere Arztbesuche später wurde bei ihr eine aggressive Form des Kopf-Hals-Krebs festgestellt, der eine intensive Behandlung nötig machte.

Ärzte entfernten einen Teil ihrer Zunge und 35 Lymphknoten. Molly Cassidy unterzog sich 35 Bestrahlungen und durchlief drei Chemotherapien. Doch zehn Tage nach der letzten Behandlung bemerkte sie einen murmelgroßen Knoten an ihrem Schlüsselbein. Der Krebs war zurück, schlimmer als zuvor: Er hatte sich über ihren Hals bis in die Lungen ausgebreitet. „Keine Behandlung war erfolgreich gewesen, ich hatte keine Optionen mehr“, erinnert sich die 38-jährige aus Tucson in Arizona. „Im Sommer 2019 war der Krebs so weit fortgeschritten, dass man mir riet, alles zu erledigen, was noch zu erledigen war. Ich habe meine Beerdigung geplant.”

Von den Ärzten, die den Tumor aus ihrem Schlüsselbein entfernten, erfuhr sie, dass das Krebszentrum der University of Arizona eine klinische Studie durchführte, für die sie in Frage kommen könnte. Getestet wurde die Wirkung von mRNA-Impfstoffen in Verbindung mit Immuntherapien bei der Behandlung von Dickdarm- und Kopf-Hals-Krebs. Die Impfstoffe, die heute im Fall von COVID-19 zur Prävention eingesetzt werden, kamen hier therapeutisch zum Einsatz. Molly Cassidy meldete sich sofort für die Studie an. „Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort,“ sagt sie.

Boten-RNA – eine vielseitige Technologie

Die ersten Berichte über die Wissenschaft hinter den mRNA-Impfstoffen von BioNTech und Moderna lasen sich wie Science Fiction. Doch so neu war die revolutionäre Technologie gar nicht. Schon lange bevor COVID-19 die Welt erschütterte, arbeiteten Forscher an einem mRNA-Vakzin, das Krebs und Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose bekämpfen und gegen Infektionskrankheiten wie das Humane Respiratorische Synzytial-Virus schützen sollte. „Die Idee gab es schon eine Weile. COVID hat jedoch den Beleg dafür geliefert, dass mRNA-Impfstoffe eine wirksame und sichere Technologie für Millionen Menschen sind“, sagt Daniel Anderson, führender Forscher auf dem Gebiet von Nanotherapie und Biomaterial am Massachusetts Institute of Technology und Mitglied des Koch Institute for Integrative Cancer Research.

Derzeit sind Forscher auf der Suche nach Probanden für mehrere Phase I- und Phase II-Studien. Andere Studien sind bereits angelaufen. In ihnen wird die Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit des therapeutischen Einsatzes von mRNA-Impfstoffen zur Behandlung verschiedener Krebsarten getestet: Schwarzer Hautkrebs, Nicht-kleinzellige Bronchialkarzinome, Magen-Darm-Krebs, Brustkrebs, Eierstockkrebs und Bauchspeicheldrüsenkrebs.

So entsteht ein Medikament

„Einer der großen Vorteile der Technologie ist, dass sie unabhängig von der Krebsart eingesetzt werden kann. Ob es sich um Brust- oder Lungenkrebs handelt ist unerheblich, solange es möglich ist, die Mutationen zu identifizieren“, erklärt Van Morris, Mediziner und Assistenzprofessor für Magen-Darm-Krebsmedizin am MD Anderson Cancer Center der University of Texas in Houston. Er leitet eine in Phase II befindliche klinische Studie, in der individualisierte mRNA-Impfstoffe bei Dickdarmkrebs-Patienten eingesetzt werden, die sich im zweiten oder dritten Stadium befinden. „Ein besonders aufregender Aspekt ist die Anpassungsfähigkeit der Technologie an den Krebs und seine grundlegende Biologie.“

Molly Cassidy wurden über einen Zeitraum von 27 Wochen neun Injektionen eines individualisierten mRNA-Impfstoffs verabreicht. Begleitend dazu erhielt sie intravenöse Infusionen des immuntherapeutischen Arzneistoffs Pembrolizumab. Ihre Ärztin, Julie E. Bauman, stellvertretende Leiterin des Krebszentrums der University of Arizona, überwachte die Behandlung. Sie untersuchte Molly Cassidy zunächst einmal in der Woche, später alle drei Wochen, auch unter dem Einsatz von Computertomographie. Nach jeder Verabreichung des Impfstoffs bekam Molly Cassidy Fieber, fühlte sich müde und hatte körperliche Schmerzen. Die Nebenwirkungen hielten jedes Mal etwa 24 Stunden an. „Mein Immunsystem lief auf Hochtouren – und das war genau der Effekt, den wir erreichen wollten, damit es den Krebs bekämpfen konnte“, erklärt sie.

Als die Behandlung im Oktober 2020 beendet war, zeigte die Computertomographie keine Spuren von Krebs mehr in ihrem Körper.

Impfstoff hilft dem Immunsystem auf die Sprünge

Einfach ausgedrückt ist es das Ziel, mit dem mRNA-Vakzin das Immunsystem in Alarmbereitschaft zu versetzen, sodass es den Tumor im System bemerkt und ihn angreift. „Man muss sich das wie biologische Software vorstellen“, erklärt John Cooke, medizinischer Leiter des Zentrums für RNA-Therapie am Houston Methodist Hospital. „Impfstoffe werden aktuell für die Krebsarten entwickelt, für die es derzeit keine guten Behandlungsmöglichkeiten gibt, oder bei denen sehr wahrscheinlich Metastasen gebildet werden.“

Manche mRNA-Impfstoffe haben eine standardisierte Herangehensweise. Sie sind Allrounder und so programmiert, dass sie nach bestimmten Targetproteinen auf der Oberfläche von Krebstumoren suchen. Darüber, wie zuverlässig diese Herangehensweise ist, kann nur spekuliert werden. Einige Experten haben jedenfalls Bedenken. „Die Frage ist doch: Was genau ist das Angriffsziel? Damit der Impfstoff wirken kann, muss er die Antwort darauf kennen“, sagt David Braun, Onkologe am Dana-Faber Cancer Institute der Harvard Medical School, spezialisiert auf Immuntherapien. Einen klar umrissenen Angriffspunkt wie das Spike-Protein bei COVID-19 sucht man beim Krebs vergebens und die DNA-Mutationen der Krebszellen gestalten sich von Patient zu Patient unterschiedlich.

An dieser Stelle kommen die individualisierten mRNA-Krebsimpfstoffe ins Spiel, die laut Experten um einiges vielversprechender sind. Für ihre Herstellung wird eine Gewebeprobe des Tumors entnommen und gemeinsam mit der DNA des Patienten analysiert. So werden Mutationen identifiziert, die die Krebszellen von gesunden Zellen unterscheiden. Darauf aufbauend wird im nächsten Schritt ein individuelles mRNA-Molekül hergestellt und zu Impfstoff verarbeitet. Der Prozess dauert im Schnitt vier bis acht Wochen. „Es ist ein technischer Kraftakt”, sagt Robert A. Seder, Leiter der Zellimmunologie-Abteilung des Impfforschungsinstituts des National Institute of Allergy and Infectious Diseases in Maryland.

Nachdem der Impfstoff verabreicht wurde, befiehlt die enthaltene mRNA, auch Boten-RNA genannt, den Zellen des Patienten, Proteine zu produzieren, die den spezifischen Mutationen des Tumors entsprechen. Diese Fragmente können nun vom Immunsystem des Patienten gelesen werden, erklärt Van Morris den Prozess. Die T-Zellen des Immunsystems – also die weißen Blutkörperchen, die Viren bekämpfen – werden von der Boten-RNA so geschult, dass sie bis zu 20 verschiedene Mutationen erkennen und die entsprechenden Krebszellen zerstören können.

„Der Krebs signalisiert dem Immunsystem, dass es sich ruhig verhalten soll, damit er nicht gefunden wird und sich ungestört verbreiten kann“, erklärt Daniel Anderson. „Das Ziel des mRNA-Vakzins ist es, das System wieder in Alarmbereitschaft zu versetzen und ihm die nötigen Informationen über die Tumorzellen zu geben, damit es damit beginnen kann, sie anzugreifen.“

„Die individualisierten Krebs-Impfstoffe mobilisieren spezielle Killerzellen, die abnorme Zellen erkennen und sie unschädlich machen“, sagt Julie E. Bauman. „Die Idee ist, unser eigenes Immunsystem als Waffe gegen den Krebs einzusetzen.“

“Das ist der Gipfel der individualisierten Medizin“, ergänzt Van Morris. „Ein extrem individueller, hochspezifischer Ansatz, keine uniforme Behandlung.“

Die Kombination macht’s

Obwohl diese Art der Krebsbehandlung sehr vielversprechend klingt und großen Enthusiasmus auslöst, darf man laut Robert A. Seder nicht vergessen, dass die Entwicklung noch ganz am Anfang steht. „Wir werden nicht so unmittelbar Erfolge sehen wie beim COVID-19-Impfstoff“, sagt er. Das liegt zum einen daran, dass die mRNA-Krebsvakzine nicht in derselben Rekordzeit verfügbar sein werden, wie es die COVID-19-Impfstoffe dank Notfallzulassung waren. Einer Zulassung von mRNA-Impfstoffen zur Behandlung von Krebs werden Jahre voller der Tests und klinischer Studien vorausgehen.

Breakthrough - Aufbruch in unsere Zukunft - Kampf gegen Krebs

Ein großer Unterschied zwischen Krebsimpfstoffen und COVID-19-Vakzin ist die Einsatzart. Im Fall von COVID-19 sollen Patienten vor einer Infektion mit dem Virus geschützt werden: Dem Immunsystem wird eine Vorschau auf das Spike-Protein des Virus gezeigt, sodass es weiß, was und wo es angreifen muss, wenn es auf den echten Erreger trifft. Im Gegensatz dazu sind die mRNA-Krebsimpfstoffe zur Behandlung der Krankheit gedacht. Sie sollen das Immunsystem des Patienten dazu bringen, Tumorzellen anzugreifen, die bereits in seinem Körper existieren.

Um die Boten-RNA in die Zelle zu transportieren, werden sie in Nanopartikel gehüllt. „Ohne die schützende Einbettung in Nanopartikel wäre die mRNA nicht in der Lage, in die Zelle einzudringen, und würde vom Körper rapide abgebaut“, erklärt Daniel Anderson. „Indem wir sie im Inneren eines Lipid-Nanopartikels transportieren, stellen wir sicher, dass sie den Zielort intakt erreicht.“ Derzeit kommen in klinischen Studien mit mRNA-Krebsvakzinen am häufigsten Nanopartikel mit Lipidhülle zum Einsatz.

Dass Boten-RNA das Allheilmittel gegen jede Form von Krebs ist, ist unwahrscheinlich. Doch sie könnte ein vielversprechender Baustein im Kampf gegen fortgeschrittene oder unheilbare Krebserkrankungen sein. Deshalb untersuchen Forscher die Wirksamkeit von mRNA-Vakzinen in Kombination mit immunbasierten Therapieformen wie Immun-Checkpoint-Inhibitoren, die die Krebszellen daran hindern sollen, die körpereigene Abwehr zu unterdrücken. Oder adoptiver T-Zell-Therapie, bei der T-Zellen aus dem Blut des Patienten entnommen und genetisch so verändert werden, dass sie nach der Rückführung Tumorzellen erkennen und zerstören können.

Bisher gibt es zwar nur wenige Studien zur Anwendung von mRNA-Krebsimpfstoffen am Menschen, doch diese geben Anlass zur Hoffnung. In einer Phase I-Studie wurde eine Kombination aus Boten-RNA und Immun-Checkpoint-Inhibitoren zur Behandlung von Kopf-Hals- und Dickdarmkrebs getestet. Laut Julie E. Bauman schrumpften dadurch bei fünf von zehn Patienten mit Kopf-Hals-Karzinomen die Tumore. Bei zwei der Probanden konnten bei der abschließenden Untersuchung keine Krebszellen mehr nachgewiesen werden. Unter den 17 getesteten Dickdarmkrebs-Patienten jedoch zeigte die Kombi-Behandlung bei keinem eine Wirkung.

“Die Idee ist, unser eigenes Immunsystem als Waffe gegen den Krebs einzusetzen.”

von Julie E. Bauman, Krebszentrum der University of Arizona

„Beim Dickdarmkrebs sind die Krebszellen im Körper besser versteckt. Daher war die Aktivität des Immunsystems nicht hoch“, erklärt Julie E. Bauman. „Es scheint also Arten von Krebs zu geben, bei denen es nicht ausreicht dem Immunsystem zu zeigen, wie die Tumorzelle aussieht.“

Studien mit Tieren lieferten in den vergangenen Jahren einige vielversprechende Ergebnisse auf dem Gebiet. Für eine dieser Studien, die 2018 in der Zeitschrift „Molecular Therapy“ veröffentlicht wurde, setzten Forscher ein mRNA-Vakzin in Verbindung mit monoklonalen Antikörpern ein, die künstlich im Labor hergestellt werden. Dann prüften sie die Wirkung der Kombination auf dreifach negativen Brustkrebs, eine besonders aggressive Krebsart mit einer hohen Neigung zur Metastasierung und schlechten Heilungschancen. Die Anti-Tumor-Reaktion des Immunsystems von Mäusen, die mit der untersuchten Kombination behandelt wurden, war im Vergleich zu anderen, die entweder nur mit der Boten-RNA oder den monoklonalen Antikörpern behandelt wurden, signifikant höher. Eine andere Studie aus dem Jahr 2019, die in der Zeitschrift „ACS Nano“ erschien, testete eine Kombination aus mRNA-Impfstoff und einem Immun-Checkpoint-Inhibitor-Medikament. Das Wachstum der Tumore im Lymphgewebe der Mäuse ließ durch die Behandlung stark nach. Bei 40% der Tiere entwickelten sich die Tumore komplett zurück.

Wird Krebs vermeidbar?

Sollten mRNA-Vakzine sich als effektiv herausstellen, könnten diese weiterentwickelt werden, um bestimmte Krebsarten zu behandeln, um Rückfälle zu vermeiden und im besten Fall die Entstehung von genetisch bedingten Krebsarten ganz zu verhindern. „Für die Onkologie sind sie eine neue potentielle Waffe gegen den Krebs“, sagt John Cooke. „Sollte sich außerdem herausstellen, dass Krebsimpfstoffe auch prophylaktisch wirken, würde das Krebs zu einer vermeidbaren Krankheit machen.“

Molly Cassidy ist von der Wirksamkeit von mRNA-Vakzinen zur Behandlung aggressiver Krebsarten überzeugt. Es geht ihr heute gut und sie genießt ihr Leben als Hausfrau und Mutter mit ihrem dreijährigen Sohn, ihrem Mann und ihren Stiefkindern. „Laut meiner Ärztin bin ich zwar noch nicht geheilt, aber sie ist sehr zufrieden mit meinem jetzigen Zustand“, sagt sie. „Die Behandlung hat mir das Leben gerettet. Ich bin unglaublich dankbar.“

Experten halten es für vorstellbar, dass die Food and Drug Administration (FDA), die in den USA für die Zulassung neuer Medikamente zuständig ist, innerhalb der nächsten fünf Jahre einen mRNA-Krebsimpfstoff zulassen könnte. „Der Tag wird kommen, an dem wir dem Immunsystem die Macht verleihen, den Krebs zu bekämpfen“, sagt Julie E. Bauman. „Ich freue mich jetzt schon darauf.“

Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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