Impfstoffentwicklung zwischen Föten & Versuchskaninchen
Die Geschichte einiger Impfstoffe ist bizarr und wenig ruhmreich – trotzdem retteten sie Millionen von Menschenleben.
Vor der Erfindung von Impfstoffen starben Millionen von Kindern jedes Jahr einen schrecklichen Tod durch Krankheiten wie Keuchhusten, Polio oder Masern. Doch dank dieses medizinischen Fortschritts konnten viele dieser Krankheiten praktisch ausgerottet werden. Trotzdem lehnen noch immer Menschen aus allen Teilen der Welt Impfstoffe ab. In den USA weigern sich immer mehr Eltern, ihre Kinder impfen zu lassen, weil sie der bereits widerlegten Theorie anhängen, dass Impfstoffe Autismus verursachen. Derweil werden Mitarbeiter im Gesundheitsbereich in Pakistan und Afghanistan regelmäßig Ziel von Angriffen, weil manche Menschen glauben, dass Impfstoffe Teil einer westlichen Verschwörung sind, um Muslime unfruchtbar zu machen.
In ihrem Buch „The Vaccine Race” erforscht Meredith Wadman die bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen, die zu der Entwicklung einiger wichtiger Impfstoffe beigetragen haben – aber auch die ethischen und institutionellen Grabenkämpfe, die darüber ausgetragen wurden. Im Interview erklärt sie, weshalb sich die Wissenschaftler mittlerweile darüber einig sind, dass Impfstoffe keinen Autismus auslösen, wie Gefangene als menschliche Versuchskaninchen missbraucht wurden und warum die Zellen einer schwedischen Frau noch heute genutzt werden, um zahlreiche der weltweiten Impfstoffe zu entwickeln.
Robert Kennedy Jr. hat [2017] behauptet, Donald Trump hätte ihm den Vorsitz einer Kommission für Impfsicherheit angeboten. Kennedy gilt als „Impfstoff-Verschwörungstheoretiker“. Fußen seine Ansichten auf irgendeiner wissenschaftlichen Grundlage?
Da würde ich gerne gleich korrigieren. Kennedy wurde zum Trump Tower bestellt und traf sich dort mit dem gewählten Präsidenten und ein paar Beratern für etwa eine Stunde. Als er rauskam, erzählte er der Presse, dass er zum Vorsitzenden einer Kommission für Impfsicherheit und wissenschaftliche Integrität ernannt wurde. Binnen weniger Stunden erklärte eine Sprecherin von Trump, dass das noch keine finale Entscheidung sei und dass es sich außerdem um ein Komitee für Autismus handele. Das Wort Impfstoffe erwähnte sie überhaupt nicht.
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Der Umstand, dass Trump gewisse Ängste bezüglich Impfstoffen kommuniziert hat, ist aus mehreren Gründen sehr bedenklich. Einer davon ist, dass Kennedy und andere „Impfstoffverweigerer“, wie ich sie nennen würde, einer vollständig widerlegten Theorie anhängen. Die Idee, dass Impfstoffe bei Kindern Autismus auslösen, wurde aus allen Blickwinkeln untersucht und entbehrt jeglicher Grundlage. Es gibt aber den unglücklichen Umstand, dass Autismus bei Kindern etwa zu jener Zeit auftritt, in der sie ihre Impfungen erhalten, also etwa mit ein bis zwei Jahren. Natürlich sagen die Eltern da: Mein Kind wurde geimpft und hat dann Autismus bekommen. Mein Mitgefühl gilt allen Eltern, deren Kinder an Autismus leiden. Das kann furchtbar sein. Allerdings haben sich zahlreiche evidenzbasierte, wissenschaftliche Studien mit dieser Frage befasst. Keine davon hat Beweise dafür gefunden, dass der MMR-Impfstoff oder andere Kinderimpfungen Autismus verursachen.
Abtreibungen sind ein weiteres heiß diskutiertes Thema. Ohne sie wären viele Impfstoffe aber nie entwickelt worden. Erzählen Sie uns etwas über WI-38-Zellen und die außergewöhnliche Geschichte von Mrs. X.
1962 beschloss in Schweden eine Frau mit mehreren Kindern und einem nicht sehr einfachen Ehemann, dass sie kein weiteres Kind haben wollte. Mrs. X, wie ich sie nenne, war fast vier Monate lang schwanger, bis sie einen Termin für eine Abtreibung bekam. Der abgetriebene Fötus wurde im Karolinska-Institut seziert, im Labor des Virologen Sven Gard.
Derweil hatte sich ein junger Biologe namens Leonard Hayflick am Wistar Institute in Philadelphia abgetriebene Föten vom University of Pennsylvania Hospital auf der anderen Straßenseite besorgt. Hayflick wollte aus dem Lungengewebe eines abgetriebenen Fötus eine Zelllinie erschaffen – eine Gruppe sich selbst reproduzierender Zellen. Er sah eine solche Zelllinie als ein hervorragendes Werkzeug für die Entwicklung von Impfstoffen in einer sauberen und sicheren Umgebung an.
Damals wurden Nierenzellen von Affen verwendet, um die Salk- und Sabin-Polioimpfstoffe zu entwickeln, die als großer Erfolg für die öffentliche Gesundheit galten. Allerdings waren in den Zellen aus den Affennieren immer mal wieder Viren enthalten. Ein solcher Virus namens SV40 löste bei Laborhamstern tödliche Krebserkrankungen aus. Millionen von amerikanischen und britischen Kindern war ein Salk-Impfstoff verabreicht worden, der womöglich solche SV40-Viren enthalten hatte. Die Regulierungsbehörden waren deshalb äußerst alarmiert. Genau deshalb wollte Hayflick Zellen aus einem menschlichen Fötus. Wenn er sicherstellen konnte, dass die Zellen keine Gefahr bargen und keinen Krebs auslösen würden, hätte er damit eine saubere, sichere Mikrofabrik für die Entwicklung antiviraler Impfstoffe.
Das Lungengewebe des abgetriebenen Fötus von Mrs. X wurde nach Philadelphia geflogen. Hayflick gewann daraus die Zelllinie WI-38, wobei das WI für das Wistar Institute steht. Das Besondere daran ist unter anderem das exponentielle Wachstum. 1962 hat Hayflick ungefähr 800 kleine Ampullen angefertigt. In jeder Ampulle befanden sich ein paar Millionen Zellen, und jede der Zellen konnte sich potenziell 40 bis 50 Mal teilen. Das wurde als Hayflick-Limit bekannt, weil normale Zellen im Labor danach aufhören, sich zu teilen, und sterben. Wenn man das durchrechnet, sieht man, dass man mit einem halben Liter dieser Zellen ungefähr 20 Millionen Tonnen neue Zellen schaffen kann. Es gibt also einen fast unerschöpflichen Vorrat, weshalb diese Zelllinie immer noch verwendet wird. Allerdings wurden auch viele Impfstoffe ohne diese Zelllinie entwickelt.
Die Geschichte von Leonard Hayflick ist das Herzstück ihres Buches. Stellen Sie uns diesen Wissenschaftler doch mal vor und erzählen Sie uns von dem langen Kampf, den er mit der US-Regierung über die Eigentumsrechte an den WI-38-Zellen führte.
Leonard Hayflick war ein brillanter, ambitionierter und beharrlicher junger Wissenschaftler. Er wuchs in Philadelphia im Arbeitermilieu auf, nur eine Generation nach den verarmten Migranten. Er war fest entschlossen, sich in der Welt der Biologie einen Namen zu machen. Er war erst 34 Jahre alt, als er die Zelllinie WI-38 entwickelte.
Vier Monate zuvor hatte er einen Vertrag mit der US-Regierung geschlossen, genauer gesagt mit den National Institutes of Health (NIH). Die Zelllinie wurde also im Rahmen dieses Vertrags entwickelt. Darin gab es eine Klausel, dass das Eigentumsrecht auf die Zellen nach Beendigung des Vertrags an die US-Regierung zurückgehen würde. Im Jahr 1968 lief der Vertrag aus.
Damals waren noch ungefähr 375 Ampullen übrig. Jede davon enthielt ein paar Millionen Zellen und barg enormes Wachstumspotential. Man einigte sich darauf, dass Hayflicks ehemaliger Vorgesetzter am Wistar Institute, Hilary Koprowski, zehn Ampullen behalten konnte. Hayflick durfte weitere zehn behalten und der Rest ging zurück an die US-Regierung. Aber als Hayflick quer durchs Land fuhr, um seine neue Stelle in Stanford anzutreten, befand sich auf dem Rücksitz seines Familienwagens neben zwei seiner drei Kinder ein kleiner Kühlschrank mit allen verbliebenen WI-38-Ampullen.
Ein viele Jahre währender Rechtsstreit begann. Die NIH bezeichneten Hayflicks Handeln als Diebstahl. Der Wissenschaftler ließ sich von einem Top-Anwalt aus dem Silicon Valley vertreten, Bill Fenwick, der sich auf geistiges Eigentum spezialisiert hatte und später auch Steve Jobs vertrat. Hayflick kündigte seine Stelle bei Stanford, weil er dort nicht unterstützt wurde. Nun war er ein arbeitsloser Familienvater ohne Einkommen, weil ihn niemand anstellen wollte. Einige Menschen aus der Forschergemeinde waren wütend darüber, dass die Regierung Hayflick zu einem Dieb erklärt hatte. Aber 1974 wendete sich das Blatt für ihn. Er schloss einen Vertrag mit dem deutschen Pharmaunternehmen Merck, der ihm eine Millionen Dollar einbrachte. Dafür lieferte er Zellen an das Unternehmen, mit deren Hilfe ein Impfstoff gegen die Röteln entwickelt wurde. Ich glaube, dass das der Todesstoß für die Regierung war – zumindest im Hinblick darauf, wie hart sie mit Hayflick ins Gericht ziehen konnten.
Während und nach dem Zweiten Weltkrieg testeten Wissenschaftler Impfstoffe an Menschen, was heute undenkbar wäre. Erzählen Sie uns etwas über den damaligen kulturellen Kontext und einige der schlimmsten Fälle.
Mitten im Zweiten Weltkrieg wurde es plötzlich unerlässlich, die Ausbreitung von Infektionskrankheiten an der Front zu bekämpfen. Vor allem Menschen in benachteiligten Positionen wurden für Tests verpflichtet. Junge Delinquenten mussten beispielsweise einen experimentellen Grippeimpfstoff über Gasmasken einatmen. Oder sie wurden mit Typhus infiziert – mit furchtbaren Ergebnissen. Als der Krieg endete, hielt man an der Mentalität fest, dass man diese Menschen für das übergeordnete Wohl der Gesellschaft benutzen konnte. Diese Einstellung fand man aber nicht nur im medizinischen Betrieb und unter bedeutsamen Forschern wie Jonas Salk, sondern auch an Institutionen wie den NIH.
Roderick Murray, der später der Leiter für die Regulierung von Impfstoffen in den USA wurde, infizierte gesunde junge Männer in Bundesgefängnissen mit dem tödlichen Hepatitis-B-Virus. Er wollte herausfinden, ob das Virus auch durch das Blut von Menschen übertragen wurde, die früher an Gelbsucht gelitten hatten. Also injizierte er die Gefangenen damit. Ein guter Teil dieser ehemals gesunden jungen Männer zog sich auf diese Weise eine ernste und oft tödliche Krankheit zu. So war die Ethik damals. Im Jahr 1964 testete das Wistar Institute seinen neuen Rötelnimpfstoff zuerst in einem Waisenhaus, das von der Erzdiözese von Philadelphia betrieben wurde. Der Erzbischof segnete die Versuche sogar persönlich ab.
Die Zellen von Mrs. X haben Millionen von Leben gerettet. Merck verdient an den Impfstoffen, der mithilfe ihrer Zellen entwickelt wurde, enorme Summen. Sie selbst wurde trotzdem nie bezahlt. Ist das nicht ungerecht? Haben Sie versucht, sie zu treffen?
Im Sommer 1962, kurz nach der Entwicklung der WI-38-Zelllinie, erkannte Hayflick, dass er die Krankheitsgeschichte der Eltern des Fötus brauchte. Nur so konnte er den Behörden versichern, dass es in der Familie keine Abnormitäten, Krebs oder Infektionskrankheiten gab, die sowohl die Impfstoffhersteller als auch die Behörden verunsichern würden. Eine junge schwedische Epidemiologin namens Margareta Böttiger wurde von Sven Gard losgeschickt, um Mrs. X zu finden und sie zu ihrer medizinischen Vorgeschichte zu befragen. Erst dadurch erfuhr Mrs. X, dass ihre Zellen für diese Forschung benutzt wurden. ned that her cells were being used in this research.
Ich konnte Mrs. X schließlich 2013 mithilfe meines schwedischen Übersetzers ausfindig machen. Ich erfuhr, dass sie keine Interviews geben wollte. Verständlicherweise wollte sie dieses Kapitel ihres Lebens hinter sich lassen. Eine Sache hat sie aber trotzdem gesagt: „Niemand hat mich je gefragt. Heutzutage wäre so etwas nicht mehr erlaubt.“ Merck verdient jedes Jahr mehr als eine Milliarde Dollar an Impfstoffen, die aus diesen Zellen entwickelt wurden. Der Fötus von Mrs. X wurde aber ohne ihr Einverständnis oder ihr Wissen benutzt. Ich kann nur sagen, dass sie in bescheidenen Verhältnissen lebt und nie irgendeine finanzielle Vergütung für die Nutzung ihrer Zellen erhalten hat.
Wird noch immer Gewebe von abgetriebenen Föten benutzt, um Impfstoffe zu entwickeln? Welchen Herausforderungen sehen wir uns heute gegenüber?
Die Zelllinie WI-38 und eine andere Linie (MRC-5), die 1966 aus dem Lungengewebe eines abgetriebenen Fötus entwickelt wurde, sind noch in solchen Mengen vorhanden, dass es nicht nötig ist, neue fetale Zelllinien zu entwickeln. Eine chinesische Firma hat das letztes Jahr trotzdem gemacht, weil sie um ihren Zugang zu MRC-5-Zellen besorgt war. Mittlerweile gibt es aber auch neue Technologien, die die Nutzung von Zellen aus abgetriebenen Föten überflüssig machen.
Es tauchen fortwährend neue Viren auf – oder alte Krankheiten flammen wieder auf. Der Kampf ist noch lange nicht vorbei. Und obwohl es neue Technologien gibt, handelt die Politik nicht immer schnell genug, um Impfstoffe herzustellen. Im Sommer 2016 gab es aufgrund politischer Verwicklungen eine Stagnation, die tragische Konsequenzen hatte. Damals wurden hunderte Babys mit Zika geboren, weil der US-Kongress nicht in der Lage oder aus politischen Gründen nicht willens war, Ausgaben in Höhe von mehr als einer Milliarde Dollar zu genehmigen, die Präsident Obama beantragt hatte, um die Entwicklung eines Impfstoffes voranzutreiben. Es ist wichtig, dass bestimmte nationale oder internationale Geldmittel im Notfall zur Verfügung stehen, damit die Forschung nicht verzögert wird.
Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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