Hat der Amazonas-Regenwald die Kleine Eiszeit ausgelöst?

Laut einer Analyse aus dem Jahr 2019 soll die Regeneration des Waldes im Amazonasgebiet in Folge der Kolonialisierung das Klima beeinflusst haben. Eine neue Studie widerlegt diese Theorie nun.

Von Tim Vernimmen
Veröffentlicht am 2. Sept. 2021, 15:12 MESZ
Der Maciel-See im Mamirauá-Reservat für nachhaltige Entwicklung im brasilianischen Bundesstaat Amazonas.

Der Maciel-See im Mamirauá-Reservat für nachhaltige Entwicklung im brasilianischen Bundesstaat Amazonas. Die Analyse von Pollen aus Gewässern im Amazonas-Regenwald lieferte neue Erkenntnisse über eine kurze, aber intensive Phase der globalen Abkühlung im 17. Jahrhundert.

Foto von Mauro Pimentel, AFP via Getty Images

Im späten 15. Jahrhundert begannen die Europäer damit, Amerika zu besiedeln. In den darauffolgenden 100 Jahren verloren Schätzungen zufolge mehr als 50 Millionen Angehörige der indigenen Bevölkerung durch Krieg, eingeschleppte Krankheiten und Sklaverei ihr Leben. Diese unfassbare, menschengemachte Tragödie könnte nicht nur bei den Ureinwohnern des Kontinents Spuren hinterlassen haben, sondern auch in der Landschaft – und beim globalen Klima.

Basierend auf einer Analyse kamen britische Forscher im Jahr 2019 zu dem Ergebnis, dass die Dezimierung der indigenen Bevölkerung zu Zeiten der amerikanischen Kolonialisierung zu einem erhöhten Nachwachsen der Wälder auf dem Doppelkontinent führte. Diese nahmen massive Mengen Kohlenstoff aus der Atmosphäre auf und speicherten ihn, wodurch es im 17. Jahrhundert zu einem rasanten Abfall des CO2-Gehalts in der Erdatmosphäre kam. Diese auffällige Anomalie soll den Wissenschaftlern zufolge einer der Auslöser für die Kleine Eiszeit gewesen sein.

Eine aktuelle Studie, die in der Zeitschrift „Science“ veröffentlicht wurde, konnte für dieses Szenario im Amazonasgebiet jedoch keinerlei Belege finden.

Der Regenwald erholt sich

Um herauszufinden, ob zwischen der Regeneration des Amazonas-Regenwalds und der hohen Sterberate in der indigenen Bevölkerung ein Zusammenhang besteht, analysierten Mark Bush, Paläoökologe am Florida Institute of Technology, und Crystal McMichael von der Universiteit van Amsterdam Sedimente aus 39 Seen im Amazonas-Becken.

„Die Sedimente am Boden der Seen sind ein Abbild der Geschichte dieses Gebiets“, erklärt Mark Bush. „Die ältesten Schichten findet man am Boden, die jüngsten obenauf.“ Mithilfe der Radiokarbonmethode bestimmten die Forscher das Alter der einzelnen Schichten und untersuchten die Proben sorgfältig auf Pollen und Kohle. „In diesem Teil des Amazonas-Regenwalds brennt es nicht auf natürliche Weise. Kohle ist also ein klares Zeichen für die Anwesenheit von Menschen.“

Anhand der Pollen konnten die Wissenschaftler ermitteln, welche Pflanzen zu unterschiedlichen Zeiten in der Nähe des Sees gewachsen sind. Crystal McMichael zufolge ist ein höheres Aufkommen von Gras-, Kräuter- und Getreidepollen gegenüber einem niedrigen Aufkommen von Baumpollen als ein Zeichen für Abholzung zu deuten. „Mais- und Maniokpollen haben wir oft gefunden, aber auch Pollen von Kürbis- und Süßkartoffelpflanzen.“

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Zu Beginn des Renaturalisierungsprozesses des Amazonas-Regenwalds finden sich in den Sedimenten vor allem Pollen des Ameisenbaums, der lokal den Namen Yarumo trägt. „Diese Bäume wachsen unglaublich schnell“, sagt Mark Bush. „Innerhalb von zwei Jahren erreichen sie eine Höhe von 5 Metern. Aufgrund dieser Geschwindigkeit sind sie innen quasi hohl und werden oft von Ameisen bewohnt. Sie leben ein paar Jahrzehnte bis sie von anderen Baumarten verdrängt werden. In der Zwischenzeit produzieren sie riesige Pollenmengen.“

In vier von fünf Fällen konnten durch die Analyse von Kohle und verschiedenen Pollenarten in den Sedimentschichten Vorkommen von Waldlichtungen, Bränden und Landwirtschaft zur Zeit des Erscheinens der Europäer nachgewiesen werden. „Das bedeutet natürlich nicht, dass 80 Prozent der Fläche des Amazonas-Regenwalds entwaldet waren“, sagt Mark Bush. „Die Menschen haben lediglich bevorzugt in der Nähe von Seen gesiedelt.“

Bevölkerungsrückgang im Amazonas: Früher als gedacht

Bei ihren Untersuchungen stellten die Forscher jedoch fest, dass die Phasen, in denen der Regenwald sich stark regenerierte, hunderte Jahre vor der Ankunft der Europäer lagen. „Es gibt große Schwankungen“, erklärt Mark Bush, „was wir aber herausfinden konnten, ist, dass die stärkste Entwaldung zwischen den Jahren 350 und 750 stattgefunden hat. Danach verlangsamt sich der Prozess. Etwa im Jahr 1000 beginnt der Wald, sich zu erholen.“ Für die Zeit während oder nach dem Massensterben in der indigenen Bevölkerung gibt es hingegen kaum Belege für ein Nachwachsen des Waldes.

Diese Ergebnisse deuten Mark Busch zufolge darauf hin, dass – anders als vermutet – der damalige Regenerationsprozess des Amazonas-Regenwalds wohl eher keinen Einfluss auf die globale CO2-Menge und damit die Kleine Eiszeit hatte. „Um einen derartig starken Effekt herbeizuführen, hätte es zu dieser Zeit in einem sehr großen Gebiet des Amazonas-Regenwalds extrem große Veränderungen geben müssen. Eine solche Konzentration ist aber zu keinem Zeitpunkt festzustellen – der Prozess erstreckt sich über einen längeren Zeitraum und ein weitläufiges Gebiet.“

Er fügt jedoch hinzu, dass uns das keineswegs die Sorge vor den negativen Folgen der derzeitigen Entwaldung des Amazonasgebiets nehmen dürfe. „Das Ausmaß der Rodung und Abholzung des Regenwalds ist im Vergleich zu damals viel größer. Meiner Meinung nach ist die Gefahr, dass ein Punkt erreicht wird, an dem der Amazonas-Regenwald mehr CO2 ausstößt, als er speichert, leider sehr real.“

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BELIEBT

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    Alexander Koch, Geograph an der Hong Kong University, leitete im Jahr 2019 die Studie, die nahelegte, dass zwischen der Kleinen Eiszeit und dem Massensterben der Indigenen ein Zusammenhang besteht. „Die Pollen-Daten zeigen lediglich, dass der Wald an bestimmten Stellen nachgewachsen ist“, sagt er. Die neue Studie „würde nicht die Haupthypothese seiner Arbeit widerlegen“, die sich auf den gesamten Doppelkontinent bezogen hätte, so Alexander Koch.

    Ihm zufolge leistet die neue Studie zwar einen wichtigen Beitrag zu der Forschung, der Einfluss, den der Amazonas-Regenwald auf das Absinken des CO2-Gehalts hatte, war jedoch wahrscheinlich sehr viel geringer als der anderer Regionen. Sowohl Mexiko als Mittelamerika und die Anden hätten im Vergleich unter einem stärkeren Bevölkerungsrückgang gelitten. „Große Teile des Amazonas-Regenwalds waren damals nur schwer zugänglich, was einen gewissen Schutz vor den Kolonialmächten und eingeschleppten Krankheiten geboten haben dürfte“, sagt Alexander Koch. Laut seiner eigenen Analyse hatte das Geschehen im Amazonas-Regenwald nur einen vierprozentigen Anteil an dem damaligen Rückgang des CO2-Gehalts.

    „Die Ankunft der Europäer war ein Prozess, kein plötzliches Ereignis“, erklärt Crystal McMichael. Ihr zufolge könnten die Folgen der Kolonialisierung für die indigenen Bewohner des Amazonasgebiets später eingetreten sein als etwa in Mexiko und den Anden, wo die Sterblichkeitsrate schon bald nach Beginn der europäischen Invasion anstieg.

    Was ist mit den indigenen Völkern geschehen?

    Mark Bush und Crystal McMichael vermuten, dass die Bevölkerungszahl im Amazonasgebiet lange vor der Kolonialisierungsphase ihren Höhepunkt erreicht hat. Nach dem Bevölkerungsrückgang stabilisierte sich die Zahl der Indigenen dann auf einem niedrigeren Niveau, wodurch dem Regenwald die Chance gegeben wurde, sich zu erholen.

    Manuel Arroyo-Kalin, Archäologe am University College in London, war nicht an der Studie beteiligt, hat aber anhand von archäologischen Hinweisen die damaligen Bevölkerungstrends rekonstruiert. Er stimmt Mark Bush und Crystal McMichael zu und verweist auf ethnohistorische Belege für den Einbruch der indigenen Bevölkerungszahlen in Folge der Kolonialisierung. Seine eigenen Untersuchungen zeigten, dass die Bevölkerungszahl der Indigenen Jahrhunderte vor Eintreffen der Europäer ihren höchsten Punkt erreicht hätte.

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    Doch wenn es nicht die fremden Eroberer waren, die die Dezimierung der indigenen Bevölkerung im Amazonas-Regenwald verursacht hatten, was war es dann? In ihrer Studie erwähnen Mark Bush und Crystal McMichael Belege für eine wachsende feindselige Stimmung in den benachbarten Anden in den Jahren zwischen 1000 und 1200: Sie fanden „eingeschlagene Schädel“ und „Reste von Befestigungsanlagen“. Die Hinweise auf befestigte Siedlungen im Amazonasgebiet würden sich wissenschaftlichen Berichten zufolge nach 1200 häufen, so Mark Bush. „Das deutet darauf hin, dass sich die Menschen in bestimmten Gegenden zusammengeschlossen und organisiert haben, um sich im Verbund besser verteidigen zu können“, sagt er. Zu diesem Zweck hätten sie sich von den Grenzgebieten ferngehalten, wodurch der Wald in diesen Bereichen erholt hätte.

    Eine andere Theorie ist die einer Tuberkulose-Welle in den Anden zwischen 1000 und 1300, die sich durch Handelsbeziehungen in das Amazonasgebiet verbreitet haben könnte. „Es ist durchaus plausibel, dass sich die indigenen Völker im Amazonas-Regenwald ähnlichen Herausforderungen gegenübersahen wie ihre Nachbarn in den Anden, die damals extrem turbulente Zeiten durchgemacht haben“, sagt Tiffiny Tung, Anthropologin an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. Sie erforscht die Turbulenzen, denen die Völker der Anden zu jener Zeit ausgesetzt waren, hat jedoch an der aktuellen Amazonas-Studie nicht mitgewirkt.

    Sie findet den Versuch, Pollen-Daten aus den Seen der Tiefebene mit Hinweisen auf Krankheiten und Gewalt im Hochland in Verbindung zu bringen, schwierig. „Ich hoffe darauf, dass wir noch bessere Umweltdaten aus den Gebieten mit großem archäologischen Reichtum erhalten werden – und umgekehrt“, sagt sie.

    Dasselbe Ziel haben auch Mark Busch und Crystal McMichael. „Wir arbeiten jetzt mit Archäologen zusammen“, erklären sie. „Der nächste Schritt wird sein, Ausgrabungsstellen in der Nähe der Seen zu besuchen, um zu sehen, was wir dort finden können.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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