Der Amazonas stößt nun mehr Treibhausgase aus, als er absorbiert

Die weitreichenden Eingriffe in das komplexe Waldsystem scheinen ihren Tribut zu fordern: Die Fähigkeit des artenreichsten Dschungels der Welt, Treibhausgase zu speichern, wurde stark dezimiert.

Von Craig Welch
Veröffentlicht am 16. März 2021, 09:45 MEZ
Aufgrund menschlicher Eingriffe scheint der Amazonas-Regenwald inzwischen mehr klimawärmende Gase freizusetzen als zu speichern.

Aufgrund menschlicher Eingriffe scheint der Amazonas-Regenwald inzwischen mehr klimawärmende Gase freizusetzen als zu speichern.

Foto von Jak Wonderly, Nat Geo Image Collection

Der Amazonas-Regenwald trägt nun höchstwahrscheinlich zur Erwärmung des Planeten bei. Zu diesem Schluss kommt eine beispiellose Analyse von mehr als 30 Wissenschaftlern.

Seit Jahren äußern Forschende die Sorge, dass steigende Temperaturen, Trockenheit und Abholzung die Fähigkeit des größten Regenwaldes der Welt verringern, Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu absorbieren und die Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe auszugleichen. Jüngste Studien legen sogar nahe, dass einige Teile der tropischen Landschaft bereits mehr Kohlenstoff freisetzen, als sie speichern.

Doch das Ein- und Ausatmen von CO2 ist nur ein Weg, wie dieser feuchte Dschungel – der artenreichste der Erde – das globale Klima beeinflusst. Sowohl natürliche als auch vom Menschen verursachte Aktivitäten im Amazonasgebiet können den Beitrag des Regenwaldes signifikant verschieben, indem sie die Luft direkt erwärmen oder andere Treibhausgase freisetzen, die das tun.

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Das Austrocknen von Feuchtgebieten und die Bodenverdichtung durch Abholzung können beispielsweise die Emissionen von Distickstoffmonoxid erhöhen, auch bekannt als Lachgas. Brandrodungen setzen kleine Rußpartikel frei, die das Sonnenlicht absorbieren und die Erwärmung erhöhen. Die Abholzung von Wäldern kann die Niederschlagsmuster verändern, wodurch der Wald weiter austrocknet und sich aufheizt. Regelmäßige Überschwemmungen und der Bau von Dämmen setzen Methan frei, ebenso wie die Viehzucht, die einer der Hauptgründe für die Zerstörung von Wäldern ist. Etwa 3,5 Prozent des weltweit freigesetzten Methans werden auf natürliche Weise von den Bäumen des Amazonas abgesondert.

Bisher hatte jedoch noch kein Team versucht, die kumulativen Auswirkungen dieser Prozesse abzuschätzen, zumal sich die Region rasant verändert. Die beispiellose Forschungsarbeit wurde von der National Geographic Society unterstützt und in „Frontiers in Forests and Global Change“ veröffentlicht. Sie schätzt, dass die atmosphärische Erwärmung aus all diesen Quellen zusammengenommen nun den natürlichen Kühleffekt des Waldes zu übertreffen scheint.

„Das Abholzen des Waldes stört seine Kohlenstoffaufnahme, das ist ein Problem“, sagt der Hauptautor Kristofer Covey, Professor für Umweltstudien am Skidmore College in New York. „Aber wenn man diese anderen Faktoren neben dem CO2 betrachtet, lässt sich nur schwer erkennen, wie der Nettoeffekt in etwas anderem bestehen kann als darin, dass der Amazonas als Ganzes tatsächlich das globale Klima erwärmt.“

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    Der Schaden könne immer noch rückgängig gemacht werden, sagen er und seine Kollegen. Ein Stopp der globalen Emissionen von Kohle, Öl und Erdgas würde helfen, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Aber die Eindämmung der Abholzung des Amazonas ist ein Muss, zusammen mit der Reduzierung des Baus von Staudämmen und stärkeren Aufforstungsbemühungen. Würde die Abholzung im derzeitigen Tempo fortgesetzt, wird das die Erwärmung für die gesamte Welt mit Sicherheit verschlimmern.

    „Wir haben dieses System und wir haben uns darauf verlassen, dass es unsere eigenen Fehler abfedern kann. Aber wir haben die Kapazitäten des Systems überschritten, einen zuverlässigen Dienst zu leisten“, sagt die Mitautorin Fiona Soper, eine Assistenzprofessorin an der McGill University.

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    Derselbe Reichtum, der den Amazonas so wunderbar artenreich macht und Zehntausende von Insekten pro Quadratkilometer beheimatet, macht es extrem schwer, ihn zu verstehen. Grün schimmernde Blätter saugen CO2 aus der Luft und wandeln es durch Photosynthese in Kohlenhydrate um, die in den Stämmen und Ästen der Bäume landen. In Bäumen und kohlenstoffreichen Böden speichert der Amazonas das Äquivalent von vier oder fünf Jahren der vom Menschen verursachten Kohlenstoffemissionen – bis zu 200 Gigatonnen CO2.

    Aber der Amazonas ist auch enorm feucht. Jedes Jahr fluten Überschwemmungen von mehreren Metern Höhe den Waldboden. Mikroben in diesen durchnässten Böden produzieren Methan, das als Treibhausgas 28- bis 86-mal wirksamer ist als CO2. Bäume agieren wie Schornsteine und leiten dieses Methan in die Atmosphäre.

    Derweil wird Feuchtigkeit aus dem Atlantischen Ozean, die als Regen fällt, von Pflanzen aufgesaugt und für die Photosynthese verwendet. Im Anschluss wird sie von den Blättern durch dieselben Poren ausgeatmet, die auch CO2 aufnehmen. Zurück in der Atmosphäre fällt sie wieder als Regen.

    Der Mensch verkompliziert diese natürlichen Zyklen nicht nur durch den Klimawandel, sondern auch durch Abholzung, den Bau von Stauseen, Bergbau und Landwirtschaft. Die Abholzung in Brasilien ist in den letzten Jahren explodiert und erreichte 2020 ein Zwölf-Jahres-Hoch – eine fast 10-prozentige Steigerung zum Vorjahr.

    Einige dieser Prozesse ziehen Treibhausgase aus der Atmosphäre ab, während andere die Gase aufsteigen lassen, und sie alle beeinflussen sich gegenseitig. Bis vor kurzem hatte niemand versucht, dieses Gleichgewicht zu verstehen. „Es ist ein System aus interagierenden Teilen, die alle auf unterschiedliche Weise, auf unterschiedlichen Zeitskalen und von unterschiedlichen Leuten gemessen werden“, sagt Soper.

    Klar ist, dass sich der Wald schnell und auf alarmierende Weise verändert hat. Regen fällt jetzt häufiger als früher in massiven Schüben und löst Rekordüberschwemmungen aus. Dürreperioden treten häufiger auf und dauern in manchen Gebieten länger an.

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    Bäume, die an feuchten Orten besser gedeihen, werden von hohen, trockenheitstoleranten Arten verdrängt. Illegal gelegte Brände sind wieder auf dem Vormarsch. Im Jahr 2019 brannten etwa zwei Millionen Hektar, eine Fläche etwa so groß wie Sachsen-Anhalt.

    Also brachte die National Geographic Society 2019 Covey, Soper und ein Team anderer Amazonas-Experten zusammen, um zu untersuchen, wie all diese Teile zusammenpassen. Sie nahmen keine neuen Messungen vor – sie suchten nach neuen Wegen, um die vorhandenen Daten im Hinblick auf ein umfassendes Bild zu analysieren.

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    Obwohl die Ergebnisse eine gewisse Unsicherheit beinhalten, machen sie deutlich, dass der Fokus auf eine einzige Messgröße – CO2 – einfach kein genaues Bild zeichnet. „So wichtig Kohlenstoff im Amazonasgebiet auch ist, er ist nicht das Einzige, was dort eine Rolle spielt“, sagt Tom Lovejoy, ein Senior Fellow für Biodiversität bei der United Nations Foundation, der seit Jahrzehnten im brasilianischen Amazonasgebiet arbeitet. „Die einzige Überraschung, wenn man es so nennen kann, ist, wie viel mehr es gibt, wenn man alles zusammenzählt.“

    Der Abbau von Ressourcen, das Aufstauen von Flüssen und die Umwandlung von Wäldern für die Sojabohnenproduktion und Viehzucht verändern die natürlichen Systeme auf vielfältige Weise. Aber die meisten dieser Veränderungen fördern die Erwärmung des Klimas. Methan ist ein besonders wichtiger Akteur. Während die größten Methanquellen immer noch natürliche Waldprozesse sind, hat die Fähigkeit des Amazonas zur Kohlenstoffbindung früher viel mehr dazu beigetragen, die Methanemissionen auszugleichen. Der Mensch hat diese Kapazität vermindert.

    Rob Jackson, ein Erdsystemwissenschaftler an der Stanford University und ein führender Experte für globale Treibhausgasemissionen, hält die neue Forschung für einen lohnenswerten Beitrag. „Der Amazonas ist gefährdet, und wir neigen dazu, einen Tunnelblick auf ein einziges Treibhausgas zu bekommen“, sagt er.

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    Patrick Megonigal, stellvertretender Direktor für Forschung am Smithsonian Environmental Research Center, stimmte dem zu. „Was die Autoren tun, ist wichtig, um die Konversation auch über CO2 hinaus zu erweitern, um das sich 90 Prozent der öffentlichen Konversation dreht“, sagt er.

    „CO2 ist kein einsamer Akteur. Wenn man die ganze Riege der anderen Akteure betrachtet, ist die Prognose für das Amazonasgebiet, dass die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten schlimmer sein werden, als wir realisieren.“

    Viele Fragen bleiben. Die größte für Megonigal ist eine, über die sich auch Lovejoy Gedanken macht: Wie beeinflussen all diese Faktoren das lokale Amazonasklima? Das ist wichtig, denn der Amazonas produziert einen Großteil seiner eigenen Feuchtigkeit. Ein einziges Wassermolekül durchläuft den Wald fünf Mal oder öfter, wenn sich feuchte Luft vom Atlantik nach Westen über den Kontinent bewegt.

    Dazu gibt es eine beunruhigende Analyse von Lovejoy und Carlos Nobre, einem Klimawissenschaftler am Institute for Advanced Studies der Universität von São Paulo. Sie legt nahe, dass die zunehmende Abholzung den Fluss dieser Feuchtigkeit so verändern könnte, dass große Teile des Amazonasgebiets zu einer dauerhaft trockeneren Waldsavanne werden könnten. Das Duo glaubt, dass dieser Kipppunkt bereits erreicht werden könnte, wenn 20 bis 25 Prozent des Regenwaldes abgeholzt werden.

    Das wäre ein großes Problem für das Klima: Damit würde das Potenzial der Wälder, einen Teil der Emissionen aus fossilen Brennstoffen aus der Luft zu absorbieren, noch weiter reduziert. Nach eigenen Angaben der brasilianischen Regierung liegt die Abholzung der Wälder bereits bei über 17 Prozent.

    Was in Brasilien (und den benachbarten Ländern im Amazonasgebiet) geschieht, betrifft die ganze Welt. In den Vereinigten Staaten hat eine Gruppe von Umweltschützern aus vier früheren Präsidentschaftsregierungen – Bush senior, Clinton, Bush junior und Obama – kürzlich Präsident Joe Biden aufgefordert, von der brasilianischen Regierung eine Reduzierung der Abholzung zu verlangen. Sie forderten Biden auf, den Handel mit den USA als Druckmittel zu nutzen.

    Brasilien und die USA befinden sich derzeit in Verhandlungen.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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