Wie aus der Krabbe ein Landtier wurde: Bernsteinfossil liefert neue Hinweise

Das 100 Millionen Jahre alte, extrem gut erhaltene Fossil in Bernstein aus Myanmar kann nicht nur dabei helfen, ein Stück prähistorischer Naturgeschichte zu entschlüsseln: Es macht auch auf einen Konflikt in seinem Ursprungsland aufmerksam.

Von Riley Black
Veröffentlicht am 22. Okt. 2021, 11:46 MESZ, Aktualisiert am 22. Okt. 2021, 12:49 MESZ
Eine der ersten Krabben, die ihren Lebensraum vom Meer ans Land verlegte, könnte Wissenschaftlern Aufschluss darüber ...

Eine der ersten Krabben, die ihren Lebensraum vom Meer ans Land verlegte, könnte Wissenschaftlern Aufschluss darüber geben, wie genau dieser Prozess abgelaufen ist.

Foto von Lida Xing

Der Fund eines urzeitlichen Krustentiers in einem Bernstein könnte neue Hinweise zur Evolution einer Gruppe von Tieren liefern, die zu den vielseitigsten unseres Planeten zählen: Krabben. Wissenschaftler hoffen, durch die Erforschung des winzigen, 100 Millionen Jahre alten Fossils aus Myanmar mehr darüber herauszufinden, wann und wie diese Tiere das Meer verließen, um an Land zu leben.

Javier Luque, leitender Autor der in der Zeitschrift Science Advances veröffentlichten Studie zu dem Fund, nennt das Fossil „spektakulär“. Der Paläontologe von der Yale University in New Haven, Connecticut, berichtet, dass durch den Bernstein Details des Tierkörpers wie Beingelenke, Scheren, Facettenaugen und sogar Kiemen zu erkennen seien.

Die boxende Krabbe
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Darüber, ob es sich bei dem neuen Fossil um das eines Jung- oder ausgewachsenen Tieres handelt, sind sich die Paläontologen noch uneinig. Dank des guten Erhaltungszustands konnten sich die Wissenschaftler aber darauf festlegen, dass der Fund eine bisher unbekannte Spezies repräsentiert: Cretapsara athanata. Sie gehört einer heute noch existenten Gruppe von Decapod-Krebstieren mit Namen Eubrachyura an.

Bernstein ist fossiles Baumharz. Darum ist es umso erstaunlicher, ein Krebstier darin eingeschlossen zu finden. „Man könnte den Fund mit dem einer Nadel im Heuhaufen vergleichen“, sagt Heather Bracken-Grissom, Biologin an der Florida International University in Miami, die an der Studie nicht mitgewirkt hat.

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    Manche Krabben leben im Süßwasser oder an Land, andere – wie die Mangrovenbaumkrabbe hier im Bild ...

    Manche Krabben leben im Süßwasser oder an Land, andere – wie die Mangrovenbaumkrabbe hier im Bild – klettern auf Bäume. So lässt sich vielleicht erklären, wie Cretapsara athanata vor 100 Millionen Jahren in Baumharz eingeschlossen wurde.

    Foto von Javier Luque, Harvard University

    Das Studienteam kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei Cretapsara um die älteste bisher bekannte Landkrabbenart handelt – und damit möglicherweise um das Verbindungsglied zwischen meeresgebundenen Krebstieren und denen, die außerhalb des Wassers überleben können. „Dieses neue Fossil im Bernstein schließt auf beeindruckende Weise eine Lücke“, sagt Javier Luque.

    Es ist auch deshalb von großem wissenschaftlichem Wert, weil es die Diskussion über das Sammeln, den Erwerb und die Erforschung von Bernsteinfossilien aus Myanmar in den Fokus rückt, die oft außer Landes geschmuggelt und zu hohen Preisen auf Märkten in China zum Verkauf angeboten werden. Paläontologen müssen, um sie zu Forschungszwecken zu erwerben, private Händler überbieten. Die Erlöse aus diesen Geschäften fließen in vielen Fällen den Tatmadaw-Streitkräften von Myanmar zu, die die Bernsteinminen kontrollieren und über die bekannt ist, dass sie immer wieder gegen die Menschenrechte in dem Land verstoßen.

    Nachdem die Tatmadaw Anfang des Jahres 2021 durch einen Militärputsch die Macht in Myanmar an sich gerissen hatten, forderte die Society of Vertebrate Paleontology einen Veröffentlichungsstopp von wissenschaftlichen Arbeiten, deren Grundlage Bernsteinfossilien sind, die nach 2017 – dem Jahr, in dem die Bernsteinminen unter militärische Kontrolle gerieten – in Myanmar gesammelt wurden. Der Bernstein, in dem Cretapsara gefunden wurde, stammt den Forschern zufolge aus dem Jahr 2015. Er sei zunächst an einen Händler in Myitkyina, Myanmar, verkauft worden, bevor das Longyin Amber Museum in der chinesischen Yunnan-Provinz ihn erworben hätte.

    Javier Luque hofft, dass die Veröffentlichung der neuen Studie auch auf den Konflikt im Kachin-Staat, einer der fünfzehn Verwaltungseinheiten Myanmars, aufmerksam machen wird. Hier werden in Bernstein-Minen immer wieder Fossilien gefunden werden, die die Herzen von Wissenschaftlern und Fossil-Fans auf der ganzen Welt höherschlagen lassen.

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    Meer, Land, Baum: Die Krabbe und ihr Lebensraum

    Bei dem kleinen Gliederfüßler im Inneren des Bernsteins handelt es sich nicht um eine leere Hülle, die nach der Häutung zurückgeblieben ist, sondern um ein absolut intaktes Tier. Das erlaubt den Rückschluss, dass die Krabbe wirklich dort gelebt hat, wo sie vom Baumharz umschlossen wurde. Der Erhaltungszustand des Bernsteins ist ebenso aufschlussreich: Das Fehlen von Sandkörnern in dem Material und die Art, wie das Harz über die Krabbe geflossen sein muss, deuten darauf hin, dass sich ihr Lebensraum in einiger Entfernung zu einem Strand befunden haben muss. In ihrem Habitat gab es wahrscheinlich Brack- oder Süßwasser.

    Das Meer zu verlassen war für die Krabben ein großer Schritt und die Umstellung von Salz- auf Süß- oder Brackwasser wird nicht von heute auf morgen passiert sein. Die Tiere hätten ihre Atmung und ihren Wasserhaushalt erst den neuen Gegebenheiten anpassen müssen, um überleben zu können, sagt Javier Luque.

    Xiao Jia (Mitte), Kuratorin des Lonyin Amber Museums, zeigt die Krabbe im Bernstein einer Studentin.

    Xiao Jia (Mitte), Kuratorin des Lonyin Amber Museums, zeigt die Krabbe im Bernstein einer Studentin.

    Foto von Xiao Jia, Longyin Amber Museum

    „Die größte Herausforderung war dabei vermutlich die Osmoregulation“, sagt Heather Bracken-Grissom. Sie meint damit die Regulierung gelöster Stoffe in den Zellen. Außerdem trafen die Krabben an Land auf eine große Anzahl neuer Fressfeinde, für die sie eine willkommene Erweiterung des Speiseplans darstellten.

    Trotz all dieser Widrigkeiten unternahmen Krabben immer neue Versuche, an Land Fuß zu fassen. Heutige Krabben haben viele verschiedene Lebensräume für sich erobert: Strände, Korallenriffe, die Tiefen des Ozeans, aber auch Meeresarme, Flüsse und Süßwasserseen. Manche von ihnen – wie die karibische Halloweenkrabbe – verbringen den größten Teil ihres Lebens an Land. Der Palmendieb, der ein Gewicht von bis zu 4 Kilogramm erreicht, bewohnt hingegen Bäume auf den Inseln des Indischen und Pazifischen Ozeans.

    Forscher, die sich darauf spezialisiert haben, Stammbäume anhand von Biomolekülen – zum Beispiel Genen – zu erstellen, schätzen, dass sich die ersten Landkrabben vor etwa 130 Millionen Jahren in der frühen Kreidezeit entwickelt haben. Die bisher ältesten bekannten Krabbenfossilien hatten ein Alter von ungefähr 70 Millionen Jahren, doch das Bernsteinfossil aus Myanmar hat diesen Rekord nun gebrochen.

    Vom Salzwasser ins Süßwasser

    Die Krabbe im Bernstein ist zwar die älteste bekannte Landkrabbe, die Erste oder die Letzte, die das Meer verließ, war sie höchstwahrscheinlich aber nicht. „Wir nehmen an, dass Krabben im Laufe ihrer Evolution mindestens sechs Anläufe gestartet haben, um in Süßwasserregionen zu überleben und mindestens zwölf, um ihren Lebensraum auf Brackwasser auszuweiten“, sagt Javier Luque.

    Neben den Krabben gibt es auch andere Organismen, die dem Meer den Rücken gekehrt haben, um ins Landesinnere zu ziehen. Die Regenbogenforellen, die im Lake Michigan leben, stammen von Fischen ab, die innerhalb von weniger als 120 Jahren ihr Habitat vom Salz- ins Süßwasser verlegt haben. Auch mehrere Wal- und Delfinarten – darunter der Amazonasdelfin – haben irgendwann den Ozean verlassen.

    Da die Umstellung von Salz- auf Süßwasser bei Tieren nicht einfach so passiert, ist es umso erstaunlicher, wie häufig dieser Schritt in der Evolution verschiedener Spezies vollzogen wurde. Mit Cretaspara als Bindeglied zwischen Anfang und Ende dieses Prozesses haben Wissenschaftler jetzt einen neuen Ansatzpunkt, um den Vorgang besser zu verstehen.

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    So wichtig das Bernsteinfossil für die Forschung auch ist, so wenig lassen sich die damit verbundenen ethischen Fragen ignorieren. Zusätzlich zu dem Zwiespalt, der sich aufgrund seiner Herkunft auftut, ist auch der aktuelle Aufenthaltsort im Longyin Amber Museum nicht völlig unumstritten. Das Museum ist weit weg von Myanmar und dem Ursprungsort des Bernsteins. Paläontologen setzen sich deswegen verstärkt mit der Rückführung der Fossilien als Teil des naturgeschichtlichen Erbes des Landes auseinander.

    Im Juni 2021 veröffentlichte die Zeitschrift Nature Ecology and Evolution einen Brief der Geologen Zin-Maung-Maugn-Thein von der University of Mandalay in Myanmar und Khin Zaw von der University of Tasmania in Hobart, Australien, in dem sie Paläontologen dazu aufforderten, wichtige Funde von Bernsteinfossilien der Regierung oder den wissenschaftlichen Behörden von Myanmar zu melden. Nur so könne verhindert werden, dass sie über die ganze Welt verteilt werden.

    „So werden nicht nur die wissenschaftlichen Forschungsstandards in dem Land verbessert“, schreiben sie. „Es wird auch dafür gesorgt, dass die Menschen in Myanmar verstehen, wie wichtig und von welch wissenschaftlichem Wert ihr eigenes naturgeschichtliches Erbe ist, sodass sie nicht mehr zulassen, dass man es ihnen wegnimmt.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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