Prognose: In Zukunft werden in den meisten Ländern zu wenig Kinder geboren

Laut einer aktuellen Studie sollen die Geburtenziffern in den meisten Ländern bis zum Jahr 2100 dramatisch sinken. In anderen werden sie hingegen explosionsartig steigen. Was diese demografische Spaltung für die Welt bedeuten könnte.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 28. März 2024, 14:50 MEZ
Vogelperspektive: Ein Baby liegt allein in einem Bett.

One and done: In vielen Ländern der Welt liegen die Geburtsziffern schon jetzt unter dem Wert von 2,1, der für den Erhalt der Bevölkerungsgröße nötig wäre. In Zukunft soll er laut einer US-amerikanischen Studie weiter sinken.

Foto von Jimmy Conover / Unsplash

Die Rechnung ist einfach: Um die Bevölkerungsgröße eines Landes auf einem stabilen Niveau zu halten und einen langfristigen Generationswechsel zu gewährleisten, muss die zusammengefasste Geburtenziffer – kurz TFR für total fertility rate – bei 2,1 liegen. Das bedeutet, dass jede Frau im Schnitt 2,1 Kinder lebend zur Welt bringen muss – sind es weniger, schrumpft die Bevölkerung.

In Deutschland liegt die TFR seit Jahrzehnten unter diesem Wert. Im Jahr 2022 wurden laut dem Statistischen Bundesamt nur 1,46 Kinder pro Frau geboren. Die globale TFR hat sich in den letzten 70 Jahren mehr als halbiert: Im Jahr 1950 lag sie bei etwa fünf Kindern pro Frau, im Jahr 2021 bei 2,2.

Wie sich dieser Trend künftig weiterentwickeln könnte, haben Forschende des Institute for Health Metrics (IHME) und der University of Washington in Seattle untersucht. Die Prognosen der Global Burden of Disease Study, die in der Zeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde, zeichnen das Bild einer demografisch gespaltenen Welt. Sie beschreiben auch die weitreichenden Folgen und enormen Herausforderungen, die sich daraus für Gesellschaft und Wirtschaft sowie für politische Themen wie Migration und Frauenrechte ergeben.

Alternde Bevölkerung

Globale Entwicklung der Geburtenziffern

Zunächst wertete das Forschungsteam alte und aktuelle Daten zu globalen, regionalen und nationalen Geburtenziffern aus. Dabei berücksichtigte es auch Faktoren, die sich auf die TFR auswirken: das Bildungsniveau, die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, Kindersterblichkeit und Förderung von Familien. Mithilfe neuartiger Methoden wurden dann Prognosen zur daraus zu erwartenden zukünftigen Entwicklung bis ins Jahr 2100 erstellt.

Den Schätzungen zufolge wird die TFR bis zum Jahr 2050 in 76 Prozent der 204 untersuchten Länder unter der Grenze von 2,1 liegen. Im Jahr 2100 könnte die Geburtenziffer in 97 Prozent dieser Länder unter den Erhaltungswert fallen. Nur für sechs Länder – Samoa, Somalia, Tonga, Niger, Tschad und Tadschikistan – ist ein Bevölkerungswachstum prognostiziert. Dass die Geburtenziffern aber ausgerechnet in ressourcenarmen, einkommensschwachen Ländern steigen sollen, verstärkt bereits bestehende Probleme und lässt neue entstehen.

Ungleiche Verteilung: Babyboom vs. Babybust

Schon heute sind die globalen Geburtenziffern ungleich verteilt. Während die TFR im Jahr 2021 etwa in Südkorea und Serbien unter 1,1 lag, war sie in vielen afrikanischen Ländern südlich der Sahara mit einem Durchschnittswert von vier sehr viel höher. Im Tschad, dem Land mit der höchsten TFR in jenem Jahr, gebar eine Frau im Schnitt sieben Kinder. Insgesamt kamen 29 Prozent aller Kinder, die 2021 geboren wurden, in Subsahara-Afrika auf die Welt. Die Studienautoren erwarten, dass sich dieser Wert bis 2100 auf 54 Prozent erhöhen wird, sodass dann mehr als die Hälfte aller Neugeborenen in dieser Region das Licht der Welt erblicken wird.

In Westeuropa hingegen wird die TFR den Prognosen zufolge bis 2100 auf einen Wert von 1,37 sinken und lediglich in Island, Dänemark, Frankreich und Deutschland mit 1,4 bis 2,09 leicht darüber liegen. In 13 Ländern – darunter Bhutan, Bangladesch, Nepal und Saudi-Arabien – werden die Geburtenziffern voraussichtlich unter den Wert 1,0 fallen. In all diesen Ländern werden die Sterbefälle die Zahl der Lebendgeburten übersteigen, sodass mit einem Bevölkerungsrückgang zu rechnen ist.

„Wir stehen im 21. Jahrhundert vor einem tiefgreifenden sozialen Wandel“, sagte Hauptautor Professor Stein Emil Vollset vom IHME. „Die Welt wird gleichzeitig einen ‚Baby-Boom‘ und einen ‚Baby-Bust‘ bewältigen müssen.“

BELIEBT

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    Ressource Mensch: Wettbewerb um Migrant*innen

    Dieser Umstand wird große Herausforderungen mit sich bringen. Im größten Teil der Welt werden die schrumpfenden Länder vor der Frage stehen, wie eine alternde Bevölkerung versorgt werden kann, wenn die Wirtschaft durch den Mangel an Arbeitskräften nicht wachsen kann und Gesundheits- und Sozialsysteme an ihre Belastungsgrenze kommen.

    Die Länder mit hohen Geburtenziffern stehen vor einem ähnlichen und doch ganz anderen Problem: Aufgrund ihrer wirtschaftlichen und politischen Schwäche und weil sie am stärksten vom Klimawandel betroffen sind, werden hier die Ressourcen fehlen, um die ständig wachsende Bevölkerung adäquat zu versorgen.  

    „Die Auswirkungen sind immens“, sagt Studienautorin Natalia Bhattacharjee vom IHME. „Diese zukünftigen Entwicklungen werden die Weltwirtschaft und die internationale Machtverteilung verändern und eine Neuordnung der Gesellschaften erforderlich machen.“ Sollten die Prognosen sich bewahrheiten, erwartet Bhattacharjee einen harten Wettbewerb um Migranten aus dem Gebiet südlich der Sahara, die als Arbeitskräfte in Ländern mit sinkender Geburtenziffer dringend gebraucht werden.

    „Sobald die Bevölkerung fast aller Länder schrumpft, wird eine Abhängigkeit von offener Einwanderung entstehen, um das Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten“, sagt Bhattacharjee. „Die afrikanischen Länder südlich der Sahara haben eine lebenswichtige Ressource, die die alternden Gesellschaften verlieren: eine junge Bevölkerung.“

    Während eine ethische, offene Einwanderungspolitik durchaus ein Weg sein kann, um die ungleich verteilten Geburtenziffern abzufedern, ist sie den Forschenden zufolge nicht die Lösung für das Problem. Laut Studienautor Austin Schumacher vom IHME sei es Aufgabe der nationalen Regierungen, „Maßnahmen zu ergreifen, durch die Geburtenraten in einigen Regionen erhöht und in anderen gesenkt werden. Die Zeit drängt“, sagt er, denn selbst wenn diese Maßnahmen sofort umgesetzt würden, wäre ihr Effekt wahrscheinlich erst nach dem Jahr 2050 sichtbar.

    Bessere Bildung und breiter Zugang zu Verhütungsmitteln

    Schumacher sieht in dem sprunghaften Bevölkerungswachstum in ressourcenarmen Ländern das Potenzial für humanitäre Katastrophen. Um diese zu verhindern, sei es notwendig, die Geburtenziffern zu reduzieren. Dabei stehen zwei Mittel zur Verfügung, die der Analyse nach besonders effizient wirken: der Zugang zu modernen Verhütungsmitteln und die Bildung von Frauen. Es sei notwendig, „dass die reproduktiven Rechte der Frauen, die Familienplanung und die Bildung von Mädchen für jede Regierung oberste Priorität haben“, sagt er. Denn dadurch könnte die TFR in diesen Regionen bis 2050 auf einen Wert von 2,3 sinken.

    Schulstunde in Ghana. Bildung für Mädchen und Frauen sowie Aufklärung und Zugang zu Verhütungsmitteln sind der Studie zufolge die wirksamsten Mittel, um eine humanitäre Katastrophe in den Ländern Subsahara-Afrikas zu vermeiden. 

    Foto von  Emmanuel Ikwuegbu / Unsplash

    Dafür, dass solche Maßnahmen wirksam sind, sind Regionen, in denen schon jetzt eine niedrige TFR vorliegt, der beste Beweis. „In vielerlei Hinsicht sind die sinkenden Geburtenziffern eine Erfolgsgeschichte“, sagt Vollset. „Sie spiegeln nicht nur wider, dass Verhütungsmittel besser und leichter zu bekommen sind, sodass Frauen wählen können, ob und wie viele Kinder sie bekommen. Sie zeigen auch, dass Frauen bessere Bildungs- und Berufschancen haben.“

    Damit Frauen sich in Ländern mit sinkender TFR wieder für das Kinderkriegen entscheiden, müssten von den Regierungen Anreize geschaffen werden. Dazu gehören laut den Studienautoren die finanzielle Unterstützung von Familien, ein gutes Betreuungsangebot und die Teilhabe von Müttern am Berufsleben. All dies hätte in Ländern mit schon jetzt niedriger TFR die Geburtenziffern nachweislich vor dem extremen Absinken bewahrt.  

    Doch „es gibt kein Patentrezept“, so Bhattacharjee. „Sozialpolitische Maßnahmen wie Elternzeit, kostenlose Kinderbetreuung und zusätzliche Arbeitsrechte können die Geburtenziffern zwar ein wenig ankurbeln, doch die meisten Länder werden unter dem Erhaltungsniveau bleiben.“

    Frauenrechte in Gefahr

    Die Folgen könnten ihr zufolge dramatisch sein. „Es besteht die große Sorge, dass einige Länder angesichts des Bevölkerungsrückgangs und fehlender Lösungen drakonische Maßnahmen rechtfertigen könnten, die die reproduktiven Rechte einschränken“, sagt Bhattacharjee. Dies könnte zum Beispiel strengere Abtreibungsgesetze beinhalten oder das Verbot von Verhütungsmitteln.

    Ein kontraproduktiver Schritt, denn tatsächlich gelte als erwiesen, dass Länder mit starken Frauenrechten ein schnelleres Wirtschaftswachstum aufweisen. „Es ist unerlässlich, dass die Rechte der Frauen gefördert und geschützt und sie dabei unterstützt werden, selbst über die Zahl ihrer Kinder zu entscheiden und ihre Karriere zu verfolgen“, sagt sie.  

    Der Studie lägen zwar die besten derzeit verfügbaren Daten zugrunde, die Studienautoren räumen aber ein, dass auch diese in Quantität und Qualität gewissen Einschränkungen unterliegen – vor allem im Zeitraum der Corona-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021. Auch böte die Studie lediglich Prognosen und keine konkreten Vorhersagen für die Zukunft. Denn welche bisher unbekannten Faktoren Geburtentrends in Zukunft beeinflussen könnten, wisse man natürlich heute noch nicht.

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