Wo Frauen herrschen: Intime Einblicke in eine besondere Kultur
Hoch im Himalaya kämpfen die letzten Matriarchinnen der Mosuo um den Erhalt ihrer alten Traditionen.

Im Schatten der Berge des Himalaya, am Rande des Lugu-Sees, leben die Mosuo. Ihre komplexe soziale Struktur soll eine der letzten semi-matriarchalischen Gesellschaften der Welt darstellen. Sie folgt der mütterlichen Blutlinie und der Praxis der „Laufehe“. Die Frauen können ihre Partner nach Belieben wählen und wechseln – eine Struktur, die weibliche Handlungsmacht der Abhängigkeit von Männern vorzieht.

Aber es gibt eine starke Nachfrage nach diesem alten Stamm mit den überraschend „modernen“ Werten. Touristen besuchen ihre Gesellschaft zu Hunderten und Anthropologen untersuchen sie, während die chinesische Regierung sie kaum als mehr ansieht als eine lukrative Einnahmequelle.
Inmitten dieses Sturms der um sich greifenden Interessen stehen die Frauen selbst. Für die scharfsinnigen und körperlich starken Frauen war ihre ruhige, würdevolle Macht ihre Rüstung gegen die Bedrohung der kulturellen Erosion, die ihren Höhepunkt mit dem Ende des Chinesischen Bürgerkriegs fand. Doch in den letzten 20 Jahren bröckelte ihre Stabilität zunehmend.
Wie bei vielen Gemeinschaften von Ureinwohnern auf der Welt hatte die Gelegenheit, durch Tourismus Geld zu verdienen, ihren Preis. Weil sie ihre Kultur für Besucher geöffnet haben, wird sie nun Stück für Stück ausgehöhlt. „Das ist für viele Familien ein Zwiespalt“, erzählt Karolin Klüppel gegenüber National Geographic. Sie hat Zeit bei den Mosuo verbracht, um deren Lebensweise festzuhalten. „Das Leben ist für sie einfacher, wenn sie vom Tourismus profitieren, aber die Veränderungen stimmen sie auch sehr traurig.“
Jüngere Mosuo haben sich mehr in die Gesellschaft der Han-Chinesen integriert. Sie heiraten außerhalb ihres Stammes und ziehen in die größeren Städte, um Arbeit zu finden. Ohne viel praktische Hilfe der Regierung liegt es nun an den älteren Frauen, die Rolle der Bewahrer ihrer Kultur zu übernehmen. „Sie waren der Teil der Kultur, der mich so beeindruckt hat, weil sie so stark und so präsent und so voller Würde waren“, sagt Klüppel.
Inmitten des Geredes über Ausbeutung suchen die Porträts von Klüppel nach einer anderen, tiefer verborgenen Wahrheit. Anstatt ihre Lebensweise zu vereinfachen oder zu dekonstruieren, offenbaren ihre Aufnahmen die duldsame Stärke der Frauen, die so unerschütterlich ist wie die Berge des Himalaya, die sie ihr Zuhause nennen. „Die älteren Frauen waren im Dorfleben sehr präsent und gaben den anderen Familienmitgliedern die Anweisungen“, sagt sie. „Eine Frau, mit der ich Zeit verbracht habe, hatte eine Tochter, zwei Söhne und zwei Enkel. Aber sie selbst hat am härtesten gearbeitet.“
Die Matriarchinnen, die Klüppel getroffen hat, waren „oft sehr witzig und sehr aktiv“, was im Gegensatz zu der deutschen Kultur steht, die sie gewohnt ist. „Ich habe eine 80-jährige Frau gesehen, die Sachen getragen hat, die ich auf keinen Fall selbst hätte tragen können“, erzählt sie. „Ihre Körper strotzen richtig vor Stärke. Ich begriff, dass körperliche Stärke wirklich davon abhängt, was man mit seinem Körper macht – die Frauen sind stärker als die Männer!“
Obwohl weibliche Dominanz im Bereich der Arbeit überall sonst auf der Welt eine Seltenheit ist, ist die „Laufehe“ der Mosuo vermutlich der einzigartigste Teil ihrer Kultur – und der, der von außen am stärksten als exotisch vermarktet wird. Die Tradition kann je nach Perspektive als fortschrittlich feministisch oder selektiv männerfeindlich angesehen werden. Sie schreibt vor, dass die Partner der Mosuo-Frauen sie nur nachts besuchen und dass sie sehr wenig mit der Erziehung der Kinder zu tun haben. Die Mosuo-Kinder bleiben lebenslang bei der Familie der Mutter, die auch der Familienvorstand ist.
„In der Gesellschaft der Han-Chinesen hängt der eigene Status vom Job ab und die Frauen suchen ihre Partner anders aus. Liebe kommt da nur an zweiter oder dritter Stelle“, sagt Klüppel. „Für die Mosuo zählen nur das Herz und die Liebe und die Leidenschaft, die sie fühlen. Und wenn sie diese Gefühle nicht mehr haben, können sie die Beziehung einfach beenden und das ist keine große Sache. Das Gefühl der Schmetterlinge im Bauch ist wichtiger, als zusammenzubleiben.“
Klüppel hat insgesamt drei Monate bei den Mosuo verbracht und mehr als 250 Haushalte besucht. Sie gewöhnte sich an ihre eigentümlichen Tagesrhythmen und die Art und Weise, auf die gegenseitiger Respekt wertgeschätzt wird. In einer Zeit, in der die Stärkung der Frauen das globale Tagesthema ist, sieht man die schmerzhafte Ironie darin, dass eine Kultur, in der tatsächlich die Frauen herrschen, im Niedergang begriffen ist.
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