Verschollenes „Juwel der botanischen Literatur“ entdeckt

Es war eine Suche, die Indiana Jones stolz gemacht hätte: Nach Jahrzehnten der Arbeit wurde ein verloren geglaubtes Werk einer Naturforscherin ausfindig gemacht.

Von Czerne Reid
bilder von Robert Clark
Veröffentlicht am 10. Sept. 2019, 11:17 MESZ
Der Pfauenstrauch ("Caesalpinia pulcherrima") ist ein blütentragender Strauch, der im tropischen und subtropischen Amerika heimisch ist. ...
Der Pfauenstrauch ("Caesalpinia pulcherrima") ist ein blütentragender Strauch, der im tropischen und subtropischen Amerika heimisch ist. Diese Zeichnung der Pflanze stammt aus der Feder von Anne Wollstonecraft, die im 19. Jahrhundert in Kuba detaillierte Illustrationen und Beschreibungen der dortigen Fauna anfertigte. Ihr Werk befindet sich aktuell in den Rare and Manuscript Collections der Cornell University. Nach fast 200 Jahren wurde ihr Manuskript nun endlich wiederentdeckt. Neben den Zeichnungen enthält es historische Fakten, Verwendungsmöglichkeiten, Gedichte und persönliche Beobachtungen von mehr als hundert Pflanzenarten.
Foto von Robert Clark

190 Jahre lang galt es als verschollen – bis es 2019 überraschend in New York wieder auftauchte: Ein dreibändiges Manuskript mit detaillierten Farbzeichnungen zu Kubas heimischer Flora.

Unter dem unscheinbaren Bucheinband verbirgt sich eine Seite, die in Schreibschrift den Titel des Werks verkündet: Specimens of the Plants & Fruits of the Island of Cuba by Mrs. A.K. Wollstonecraft (auf Deutsch etwa: Die Früchte und Pflanzen der Insel Kuba von Mrs. A.K. Wollstonecraft). Die schlichte Aufmachung trügt. Die Seiten der dünnen, abgegriffenen Manuskripte enthalten 121 detaillierte Illustrationen von Pflanzen wie der roten Scharlachkordie, der purpurfarbenen Lagerströmie und der weißen Engelstrompete.

Ergänzt werden die Zeichnungen von 220 Seiten mit englischsprachigen Beschreibungen, die historische Fakten, Gedichte, persönliche Beobachtungen und Anwendungsmöglichkeiten beinhalten. In bester wissenschaftlicher Manier zeigen die Illustrationen der Vegetation deren Lebenszyklen und Querschnitte der Fortpflanzungsorgane. Teilweise wurden gepresste und getrocknete Pflanzenteile eingeklebt. Die Autorin schreibt, dass sie weder Botaniker konsultiert, noch sonstige Hilfe für ihre Arbeit in Anspruch genommen hat.

Der Pfauenstrauch (Caesalpinia pulcherrima) ist ein blütentragender Strauch, der im tropischen und subtropischen Amerika heimisch ist. Diese Zeichnung der Pflanze stammt aus der Feder von Anne Wollstonecraft, die im 19. Jahrhundert in Kuba detaillierte Illustrationen und Beschreibungen der dortigen Fauna anfertigte. Ihr Werk befindet sich aktuell in den Rare and Manuscript Collections der Cornell University. Nach fast 200 Jahren wurde ihr Manuskript nun endlich wiederentdeckt. Neben den Zeichnungen enthält es historische Fakten, Verwendungsmöglichkeiten, Gedichte und persönliche Beobachtungen von mehr als hundert Pflanzenarten.

Der kubanische Botaniker Miguel Esquivel beschreibt das Werk als „ein Juwel der botanischen Literatur Kubas“ und zählt es zu den größten Entdeckungen dieser Art in jüngerer Zeit.

„Das Manuskript von Anne Wollstonecraft ist von großer Bedeutung“, findet auch der Ethnobotaniker Paul Cox, der stellvertretende Leiter der Brain Chemistry Labs in Jackson, Wyoming. „Die Pflanzen, die sie in ihren Zeichnungen und Beschreibungen vorstellt, sind zwar relativ verbreitet, aber die detaillierten Notizen zu den einheimischen Anwendungen geben unserem Verständnis für ihren möglichen Nutzen eine ganz neue Dimension. Womöglich könnten sie Forschern dabei helfen, neue Arzneimittel zu entdecken.“

So schreibt die Autorin beispielsweise, dass die Wurzeln der Stachelannone bei Fischvergiftungen als Gegenmittel genutzt wurden, während die Blätter des Baums gegen Parasiten und Epilepsie helfen sollten.

BELIEBT

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    Ohne den Historiker Emilio Cueto – ein Anwalt im Ruhestand und leidenschaftlicher Sammler – wären Wollstonecraft und ihr Werk womöglich gänzlich in Vergessenheit geraten.

    Mundpropaganda

    Die kubanischen Exilanten und Menschrechtsverfechter Félix Varela und José Antonio Saco erwähnten in ihrer Zeitschrift „El Mansajero Semanal“ eine Amerikanerin in Kuba, die kubanische Pflanzen zeichnete. Fast ein Jahrhundert später zitierte der kubanische Gelehrte Carlos M. Trelles ihr Werk im Jahr 1912 – ohne es je gesehen zu haben. Seiner Beschreibung zufolge hatten Mitglieder der New York Horticultural Society das Manuskript mit dem Werk der angesehenen Naturforscherin Maria Sibylla Merian verglichen. Deren legendäres Kompendium „Metamorphosis insectorum Surinamensium“ gilt als Grundsatzwerk für den Forschungsbereich der Entomologie.

    „Dieser Vergleich hat mich zu der Überzeugung gebracht, dass das [Werk] wichtig sein muss“, sagt Cueto. „Die Leute übertreiben zwar, aber nicht so sehr.“So begann seine Suche.

    Anne Sauer, die Direktorin der Rare and Manuscript Collections der Cornell University, blättert durch Wollstonecrafts Manuskript.
    Foto von Robert Clark

    Er machte es Trelles nach und listete Wollstonecrafts Werk im Katalog seiner eigenen Ausstellung über kubanische Flora und Fauna im HistoryMiami Museum im Jahr 2002 auf, obwohl auch er es nie gesehen hatte und nicht wusste, ob es noch existierte.

    „Damals lief das in wissenschaftlichen Netzwerken so“, sagt Anne Sauer, die Direktorin der Rare and Manuscript Collections der Cornell University. „Ein Teil der akademischen Aufzeichnungen berief sich einfach nur auf Gelehrte, die gesagt haben: Ich habe dieses Ding zwar noch nie gesehen, aber ich habe gehört, dass es existiert und dass es wichtig ist. In manchen Fällen gibt es da eine Art nahtlosen Übergang in den Bereich der mündlichen Überlieferungen.“

    Jede Erwähnung des Manuskripts oder der Autorin schienen zudem eine andere Schreibweise ihres Nachnamens aufzuweisen. Manchmal wurde ihr Geburtsname verwendet, Kingsbury, und ihr Vorname wurde abwechselnd als Anne oder Nancy angegeben – letzteren erkennen Fans von Jane Austen sicher als Kurzform von „Anne“.

    Diese Illustration einer „Lagerströmie“ zählt zu den unfertigen Skizzen: Die Blüten wurden koloriert, während die Blätter nur als Bleistiftskizze vorhanden sind. „Ich denke, sie hat diese Technik vielleicht genutzt, um zu zeigen, was sie sah – nämlich die Blütezeit der Pflanze im Frühling, als die Blätter gerade erst als Knospen zu sehen waren“, sagt Anne Sauer. „Die da Blätter noch nicht ausgewachsen waren, hat sie womöglich mit Bleistift gearbeitet, um zu zeigen, dass sie nur darüber spekulierte, wie die voll ausgebildeten Blätter aussehen würden. Sie wollte einfach verdeutlichen, dass ihre Zeichnung nicht auf tatsächlichen Beobachtungen beruhte.“
    Foto von Robert Clark

    Cueto hatte vermutlich mehr als 100 Mal alle möglichen Onlinekataloge von Bibliotheken nach dem Manuskript durchsucht, bis er im März 2018 schließlich fündig wurde. Der Name der Autorin stand dort als „Wollstonecroft“ – was vermutlich dem nicht ganz eindeutigen handschriftlichen Vokal auf der Titelseite des Buches zu verdanken war. Trotzdem wusste Cueto sofort, was er dort gefunden hatte.

    „Ich sagte: Oh mein Gott! Das ist die Dame. Danach habe ich gesucht. Danach haben alle gesucht!“, erzählt er. „Es war hinter einer Reihe unglücklicher Schreibfehler und Katalogzugängen versteckt.“

    Nach seinem großen Aha-Moment konnte er das tatsächliche Manuskript dann aber nicht finden – der Katalog lieferte keine Informationen über seinen Standort. Daraufhin kontaktierte er die Dekanin der Bibliothek der University of Florida, Judith Russell, mit der er für seine Kubaausstellung zusammengearbeitet hatte. Sie fand schließlich heraus, dass sich das Manuskript in der Cornell University in Ithaca befand. Die Lehranstalt erhielt es 1923 von einem Mitglied einer Fakultät, das ein Nachfahre der Autorin war. Russell, die sich von Cuetos Aufregung hatte anstecken lassen, begleitete ihn nach Ithaca, um sich das Werk persönlich anzusehen.

    „Wir hatten beide versucht, unsere Erwartungen zurückzuschrauben“, erzählt Russell. „Aber dann kamen wir da an und, mein Gott, die [Manuskripte] waren voller botanischer Zeichnungen mit seitenweise Beschreibungen. Und sie sind wirklich auserlesen.“

    Fast vergessene Forscherin

    Russell hatte sich ein wenig mit der Genealogie der Autorin beschäftigt und kam dadurch zu dem Schluss, dass sie 1828 im Alter von 46 Jahren verstarb. Sie hinterließ unfertige Einträge, lose Notizen und einige Skizzen.

    „Sie war noch nicht fertig“, so Russell. „Da bekomme man richtig Gänsehaut, wenn man darüber nachdenkt, dass wir das Werk fast verloren hätten.“

    Cueto will Wollstonecraft – die Schwägerin der berühmten Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft – jetzt einer neuen Generation näherbringen. Er reiste in ihre Wahlheimat Matanzas, um ihr Grab zu finden und in den Zeitungsarchiven nach Erwähnungen ihres Namens zu suchen. Er vermutet, dass sie zu jenen US-Bürgern gehörte, die es im 19. Jahrhundert aus gesundheitlichen Gründen in die Karibik zog.

    In seiner Vision wird das wiederentdeckte Manuskript im National Museum of Women in the Arts in Washington, D.C., ausgestellt, wo Millionen Menschen Zugang dazu hätten. Außerdem würde er das Manuskript gern als Buch publiziert sehen – inklusive Vorwort, in dem die Entdeckung des verloren geglaubten Werkes beschrieben wird. Darüber hinaus wünscht er sich eine Übersetzung ins Spanische, damit auch kubanische Leser einen besseren Zugang zu dem Werk finden.

    Bisher wurde das Manuskript immerhin schon digitalisiert und steht online zur Verfügung.

    „Wir haben eine neue amerikanische Wissenschaftlerin und Künstlerin entdeckt, die von diesen Disziplinen übersehen wurde“, sagt Cueto. „Wenn sie länger gelebt hätte, wäre sie im Bereich der Illustration vermutlich sehr einflussreich gewesen.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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