Prähistorische Jägerinnen widerlegen alte Geschlechterrollen

Für Anthropologen war die Sache lange Zeit klar: In alten Gesellschaften jagten die Männer, während die Frauen sich um die Kinder kümmerten. Neue Funde offenbaren, dass diese Vorstellung wohl falsch war.

Von Maya Wei-Haas
Veröffentlicht am 12. Nov. 2020, 12:10 MEZ
Jagd in den Anden Südamerikas

Ein Künstler rekonstruierte, wie eine Jagd in den Anden Südamerikas vor 9.000 Jahren ausgesehen haben könnte. Anhand der Werkzeuge, die in dem Grab einer Frau gefunden wurden, glauben Archäologen, dass die Jägerin möglicherweise maßgeschneiderte, mit rotem Ocker gegerbte Lederkleidung getragen haben könnte.

Foto von Matthew Verdolivo, Uc Davis Iet Academic Technology Services

Der Archäologe Randall Haas von University of California, Davis, erinnert sich gut an jenen Moment im Jahr 2018, als sich sein Forscherteam um eine Grabungsstelle versammelte. Es war das Grab eines Menschen, der vor etwa 9.000 Jahren in den peruanischen Anden bestattet wurde. Neben den Knochen des Erwachsenen lag ein beeindruckender – und umfangreicher – Satz von Steinwerkzeugen in dem Grab: Er deckte alles ab, was ein Jäger benötigen würde, um Großwild zu erlegen, von der Jagd bis zur Verarbeitung des Fells.

„Er muss ein wirklich großer Jäger gewesen sein, eine wirklich wichtige Person in der Gesellschaft“ – so dachten er und sein Team damals.

Doch die weitere Analyse offenbarte eine Überraschung: Die neben dem Werkzeugkasten gefundenen Überreste stammten von einer Frau. Außerdem war diese alte Jägerin wahrscheinlich keine Ausnahmeerscheinung, heißt es in der zugehörigen Studie, die in „Science Advances“ veröffentlicht wurde. Angeregt vom Fund des Haas-Teams wurden bereits zuvor untersuchte Bestattungen ähnlichen Alters in ganz Amerika erneut überprüft. Dabei zeigte sich, dass zwischen 30 und 50 Prozent der vermeintlichen Großwildjäger Frauen gewesen sein könnten.

Prähistorische Frauen hatten starke Knochen

Diese neue Studie ist nur das jüngste Beispiel in einer jahrzehntelangen Debatte über Geschlechterrollen in den frühen Jäger-Sammler-Gesellschaften. Die allgemeine Annahme war bislang, dass prähistorische Männer jagten, während Frauen Nahrung sammelten und die Kinder aufzogen. Doch schon seit Jahrzehnten argumentieren einige Wissenschaftler, dass diese „traditionellen“ Rollen – dokumentiert von Anthropologen, die seit dem 19. Jahrhundert Jäger-Sammler-Gruppen auf der ganzen Welt studieren – nicht unbedingt bis in unsere tiefe Vergangenheit reichen.

Während die neue Studie ein starkes Argument dafür liefert, dass es sich bei dem Individuum in Peru um eine Jägerin handelte, liegen viele andere Beweise seit Langem auf der Hand, sagt Pamela Geller. Die Archäologin an der University of Miami war kein Teil des Studienteams.

Zu den Werkzeugen, die im Grab gefunden wurden, gehörten Geschossspitzen, wuchtige Steine, die Knochen brechen oder Häute ablösen können, Splitter zum Schaben und Schneiden sowie Klümpchen aus rotem Ocker, die zur Konservierung von Häuten verwendet wurden.

Foto von Randy Haas, UC Davis

„Die Daten liegen vor“, sagt Geller. „Es kommt nur darauf an, wie die Forscher sie interpretieren.“

Wem gehörten die Werkzeuge?

Als die Archäologen das Grab freilegten, fanden sie ein buntes Sammelsurium von 24 Steinwerkzeugen. Darunter: Geschossspitzen, um ein großes Säugetier zu erlegen; wuchtige Steine, die Knochen brechen oder Häute abziehen konnten; kleine, abgerundete Steinbruchstücke, um Fett von Fellen abzuschaben; winzige Splitter mit besonders scharfen Kanten, um Fleisch zu zertrennen; und Klümpchen aus rotem Ocker, die helfen konnten, die Häute zu konservieren. Über die Stätte verstreut waren Knochenfragmente von Tieren, darunter Hirsche und alte Verwandte heutiger Lamas.

In den ersten Gesprächen über die Werkzeugsammlung gingen die Forscher davon aus, dass der Besitzer männlich war, vielleicht eine prominente Persönlichkeit der Gesellschaft oder sogar ein Häuptling der Gruppe. „Ich bin da genauso schuldig wie jeder andere“, sagt Haas, der seit 2008 in der Region arbeitet. „Ich fand, dass das nach meinem Verständnis der Welt Sinn ergab.“ Zurück im Labor deutete die genaue Untersuchung der Knochen jedoch auf die Physiologie einer biologischen Frau hin. Um das zu bestätigen, analysierten die Forscher ein Protein, das bei der Zahnschmelzbildung mitwirkt und mit dem Geschlecht in Verbindung steht.

Wichtig ist, dass das Team keine Aussagen über die Geschlechtsidentität des Individuums treffen kann, sondern nur über das biologische Geschlecht (das ebenso wie die Geschlechtsidentität nicht binär ist). Mit anderen Worten: Sie können nicht sagen, ob das Individuum sein Leben vor 9.000 Jahren auf eine Weise gelebt hat, die es innerhalb seiner Gesellschaft als Frau identifizieren würde.

Geschlechterrollen hinterfragen

Die Entdeckung von 2018 stellt eine Herausforderung für die geschlechtsspezifische Zweiteilung dar, die unseren frühen Vorfahren gemeinhin zugeschrieben wird: Männer gelten als Jäger, Frauen als Sammlerinnen. Diese Annahme stammt aus Studien über heutige Jäger-Sammler-Gesellschaften, in denen Männer häufiger für die Jagd verantwortlich sind, während Frauen die meiste Verantwortung für die Betreuung der Kinder tragen, sagt Kim Hill. Der evolutionäre Anthropologe war kein Teil des Studienteams. „Man kann nicht einfach mitten auf der Pirsch nach einem Hirsch stehen bleiben, um ein weinendes Baby zu stillen“, sagt Hill per E-Mail.

Doch Schlussfolgerungen auf Basis heutiger Jäger und Sammler sind nur begrenzt sinnvoll. Schon seit Jahrzehnten argumentieren laut Geller einige Archäologen, dass die Vorstellung von männlichen Jägern und weiblichen Sammlerinnen in Wirklichkeit eine zu starke Vereinfachung sei. „Mit wenigen Ausnahmen gehen die Forscher, die Gruppen von Jägern und Sammlern untersuchen, davon aus, dass eine geschlechterbasierte Arbeitsteilung universell und starr war – und zwar unabhängig davon, auf welchem Kontinent sie forschen“, sagt sie. „Und weil sie das für so selbstverständlich halten, fällt es ihnen dann schwer zu erklären, warum auch weibliche Personen an ihren Skeletten Spuren der Jagd tragen oder Jagdwerkzeuge als Grabbeigaben haben.“

Wenn Forscher in der Vergangenheit auf Hinweise stießen, die dieser Annahme widersprachen, „sagten sie dazu normalerweise nichts, so als würden die Beweise verschwinden, wenn man sie einfach ignoriert“, sagt Geller.

Für die Jagd waren wahrscheinlich so viele körperlich gesunde Erwachsene wie möglich nötig, um die Sicherheit und Effizienz zu erhöhen. Ihr biologisches Geschlecht spielte dabei wohl keine so große Rolle. Nachdem ein Kind abgestillt wurde, könnte die Mutter für große Jagden wieder zur Verfügung stehen, sagt Kathleen Sterling, eine Archäologin an der University of Binghamton, die kein Teil des Studienteams war. Aber selbst, wenn eine Frau noch ein Baby hatte, das gestillt werden musste, könnte ihre Gemeinschaft sie dabei unterstützt haben, damit sie bei der Jagd helfen konnte.

Grabbeigaben und ihre Bedeutung

Angespornt von seiner Entdeckung im Jahr 2018 befasste sich Haas’ Team mit Berichten über vorherige Ausgrabungen früher Jäger und Sammler in ganz Amerika. In vielen dieser Studien haben die Wissenschaftler ähnliche Fälle von Jagdwerkzeugen aus Stein in Gräbern mit biologischer Frauen vorgefunden. Allerdings ist nicht jeder Fall so glasklar. Bei einigen ist das Geschlecht nicht eindeutig geklärt. In anderen Fällen war es aufgrund des gestörten Kontextes unsicher, ob die Steinwerkzeuge und die Leiche zeitgleich begraben wurden. Und in wieder anderen Fällen könnten die wenigen Geschossspitzen, die im Grab gefunden wurden, sogar Mordwaffen gewesen sein, die zum Zeitpunkt der Bestattung noch im Opfer steckten.

Doch Haas' Teams untersuchten die einzelnen Fälle als Teil eines größeren Datensatzes von 429 Bestattungen mit Jagdwerkzeugen. Dabei stellen sie fest, dass von den 27 Bestattungen mit Personen bekannten Geschlechts 11 weiblich sind – einschließlich der neu identifizierten Überreste – und 16 männlich. Die vielen Unsicherheiten (wie der gestörte Kontext und die Identifizierung des Geschlechts) sind laut Haas sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Bestattungen vorhanden. Selbst wenn also die unsichersten Fälle ausgeschlossen wurden, bleibt die Häufigkeit von Bestattungen mit Jagdwerkzeugen bei Frauen und Männern ähnlich.

„Solche Muster würde man in einer Population absolut nicht erwarten, in der die Männer [die einzigen] Jäger wären“, sagt Haas.

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Hill ist noch nicht so ganz davon überzeugt, dass das weibliche Individuum, das vor 9.000 Jahren begraben wurde, tatsächlich eine Jägerin war. Grabbeigaben wie die Jagdwerkzeuge könnten aufgrund symbolischer oder religiöser Überzeugungen dort platziert worden sein, sagt er.

Gehörten die Werkzeuge wirklich der Verstorbenen? Sterling kritisiert diese Fragestellung. „Normalerweise stellen wir diese Frage nicht, wenn wir solche Werkzeuge bei Männern finden“, sagt sie. „Wir stellen diese Fragen nur, wenn sie unsere Geschlechtervorstellungen in Frage stellen.“

„Wir stellen so viele geistige Verrenkungen, um zu versuchen, diese Dinge wegzuerklären“, betont sie.

Die Werkzeuge, die in der 9.000 Jahre alten Grabstätte gefunden wurden, waren recht vielfältig. Zu ihnen gehörten sowohl kostbare Werkzeuge wie Geschossspitzen, deren Herstellung nicht einfach war, als auch profanere Werkzeuge wie Steinsplitter, die sich leicht durch das Zerschlagen größerer Steine herstellen lassen. Das deutet darauf hin, dass die Werkzeuge keine Opfergaben waren, sondern Gegenstände, die das Individuum zu Lebzeiten benutzte, so Haas. Auch die schiere Zahl dieser weiblichen Gräber spricht für sich, denn es gibt in ganz Amerika eine Fülle von Frauen, die mit Werkzeugen begraben wurden, fügt Sterling hinzu.

Für Geller sagt die Debatte auch etwas über die heutige Zeit aus. „Es gibt noch so viel Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Wenn wir davon ausgehen würden, dass es etwas gibt, das uns biologisch zu irgendwas prädisponiert, dann könnte man diese Ungleichheit damit rechtfertigen“, sagt sie. „Ich finde das gefährlich – und völlig unbegründet.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

 

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