Kirgisische Frauen in Russland: Jeder Tag ein Spießrutenlauf

Frauen aus Zentralasien ziehen auf der Suche nach Arbeit nach Russland. Doch was sie dort finden, ist oft Hass, Gewalt und Schikane.

Von Aurora Almendral
bilder von Ksenia Kuleshova, National Geographic
Veröffentlicht am 26. Jan. 2021, 13:42 MEZ, Aktualisiert am 27. Jan. 2021, 08:38 MEZ
Nach einer abrupten Scheidung zog Zhibek Turgunbajewa 2007 von Kirgisistan nach Moskau, um ihre beiden Kleinkinder ...

Nach einer abrupten Scheidung zog Zhibek Turgunbajewa 2007 von Kirgisistan nach Moskau, um ihre beiden Kleinkinder und ihre Eltern finanziell abzusichern. Als sie immer wieder Opfer fremdenfeindlicher Angriffe wurde, blondierte sie sich die Haare, um weniger kirgisisch auszusehen. Ausländer haben in Moskau oft Probleme, eine Wohnung zu finden, und sie musste mehrfach den Wohnort wechseln und schlief sogar einige Wochen auf der Straße.

Foto von Ksenia Kuleshova, National Geographic

Die 37-jährige Zhibek Turgunbaeva, die im Dezember 2007 aus Kirgisistan nach Moskau kam, kennt den Hass, der Außenseitern entgegenschlagen kann. Aber auch die Freundlichkeit.

„Du Churka [wortwörtlich „Holzklotz“, in Zentralasien ein Äquivalent zu „Trottel“]!“, soll ihr eine Frau in der U-Bahn an einem Septembertag im Jahr 2019 zugerufen haben. „Steh auf!“, knurrte die Frau. „Es macht mich krank, dass du hier sitzt!“ Einwanderer seien „wie Schafe. Sie sind dumm“, fuhr die Frau fort. Dann folgten Drohungen: „Ich werde dich finden“, sagte sie zu Zhibek. „Und wenn nicht, finde ich die Leute aus deinem Land. Ich werde jemanden bitten, sie zu verprügeln und sie zu töten. Wir haben die Nase voll. Moskau ist nicht für Leute wie dich.”

Als der Zug an der nächsten Haltestelle einfuhr, hielten Fahrgäste die Frau fest und drängten sie auf den Bahnsteig. Ein russischer Mann beruhigte die weinende Zhibek. Er habe ihr gesagt, dass es viele Idioten gibt und dass sie sich nicht von ihnen einschüchtern lassen soll.

Tahmina K., 25, räumt nach dem Besuch von Gästen in einem Chaikhana (einem zentralasiatischen Teehaus) in ...

Tahmina K., 25, räumt nach dem Besuch von Gästen in einem Chaikhana (einem zentralasiatischen Teehaus) in Moskau auf. Tahmina schickt Geld zurück nach Kirgisistan, um ihre Mutter zu unterstützen, die sich um Tahminas vierjährige Tochter kümmert. Es ist das zweite Mal, dass sie in Russland lebt und arbeitet – ihren ersten sechsjährigen Arbeitsaufenthalt begann sie im Alter von 13 Jahren.

Foto von Ksenia Kuleshova, National Geographic

Russlands boomende Wirtschaft hat in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche Neuankömmlinge aus zentralasiatischen Ländern angezogen. Von den 11,6 Millionen Ausländern, die sich 2019 in Russland aufhielten, kam der Großteil aus Kirgisistan, Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan. Die meisten kamen auf der Suche nach Arbeit und nahmen Jobs in der Bau- und Dienstleistungsbranche an, sagt Anna Rocheva. Sie forscht an der Russischen Präsidialakademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung in Moskau zu Migration, Gender und Integration in Zentralasien.

Bürger aus Kirgisistan und Kasachstan, die Mitgliedsländer der Eurasischen Wirtschaftsunion sind, dürfen in Russland mit dem gleichen Status arbeiten wie russische Bürger. Diejenigen aus anderen zentralasiatischen Ländern müssen sich eine Arbeitserlaubnis besorgen, die 5.000 Rubel (ca. 55 Euro) pro Monat kostet. (Seit COVID-19 sind die Grenzen Russlands zu den meisten asiatischen Ländern geschlossen).

„Migration ist eine Win-Win-Situation“ im wirtschaftlichen Sinne, sagt Rocheva. Aber viele Migrantinnen werden mit Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung konfrontiert – Angst oder Hass gegenüber dem „Anderen“, sagt sie. Ihnen werden Jobs und Wohnungen verweigert. Einige wurden von marodierenden Banden verprügelt oder gar getötet.

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    Zarina U., 19, kümmert sich in einem Dorf außerhalb von Moskau um die Brüder Elyor, 5 (rechts), und Elnur, 3. Zarinas Mutter und die Großmutter der Jungen waren in Usbekistan befreundet und haben arrangiert, dass Zarina nach Russland geht, um auf die Kinder aufzupassen, während die Eltern arbeiten. Zarinas Mutter spart Zarinas Lohn, um ein Haus für die Familie in Usbekistan zu bauen. Zarina sollte eigentlich 2020 in ihre Heimat zurückkehren, aber nachdem die Grenze wegen COVID-19 geschlossen wurde, zog sie nach Moskau, um dort zu arbeiten.

    Foto von Ksenia Kuleshova, National Geographic

    Laut Rocheva schikaniert die russische Polizei oft Migranten, will deren Arbeitserlaubnis sehen und droht, sie stundenlang festzuhalten, sodass sie zu spät zur Arbeit kommen. Das ist illegal, aber Migranten, die ihre Rechte nicht kennen – manche fürchten vielleicht, von ihren Arbeitgebern mit einem Bußgeld belegt oder gefeuert zu werden, wenn sie zu spät zur Arbeit kommen –, zahlen oft Bestechungsgelder, um freizukommen.

    „Wenn zentralasiatische Migranten kommen, sind sie Muslime, sie sind keine Russen“, sagt Rocheva. Das sind bereits einige der Gründe für die Gewalt und die Feindseligkeit, die ihnen entgegenschlägt. Russen beschweren sich darüber, dass Migrantinnen nicht ihre Sprache sprechen, ihre Kultur verderben und ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen, sagt Rocheva. „In diesem Sinne ist jedes Land gleich: Wenn Menschen fremdenfeindlich sind, sagen sie überall die gleichen Dinge.“

    Laut dem in Moskau ansässigen Levada-Zentrum, das jährlich Umfragen durchführt, die die russische Stimmung gegenüber Ausländern erfassen, erreichte die Fremdenfeindlichkeit vor einem Jahrzehnt ihren Höhepunkt und ging dann etwas zurück.

    Die Fäden in der Hand

    Aber 2019 nahm der Hass wieder zu – trotz verstärkter polizeilicher Maßnahmen gegen extremistische rassistische Gruppen. Ein Bericht des Levada-Zentrums offenbarte in diesem Jahr, dass jeder Zweite den Spruch „Russland den Russen“ befürwortete, während 71 Prozent sagten, es gäbe zu viele Ausländer im Land.

    Die Soziologin Katrina Pipia vom Levada-Zentrum brachte zusammen mit dem Bericht eine Erklärung heraus. Darin mutmaßt sie, dass die wachsende Angst vor Armut unter den Russen in den letzten drei Jahren zu einer negativen Einstellung gegenüber Migranten beigetragen haben könnte, die einige Russen für den Mangel an Arbeitsplätzen verantwortlich machen.

    „Ich wusste nicht, dass es sowas wie ‚falsche‘ Nationalitäten gibt“, sagt Guliza Akmatsiyaeva. Sie zog im Alter von 22 Jahren während einer Wirtschaftskrise im Jahr 2007 von Kirgisistan nach Russland. Dort hoffte sie Geld zu verdienen, um es ihrer Familie zu schicken.

    Sie habe diese harte Lektion in Moskau gelernt. Dort fiel sie ihrer Ansicht nach wegen ihrer asiatischen Gesichtszüge auf, die typisch für Kirgisen sind. In einem Ladengeschäft, in dem sie arbeitete, zischten ihr Fremde „Geh nach Hause!“ zu und beleidigten sie rassistisch. „Ich hatte das Gefühl, dass mich alle hassten“, sagt Guliza. „Ich hatte Angst, dass buchstäblich jeder daherkommen und mir ins Gesicht schlagen könnte.“

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    Shahrizada Adanova (Mitte, im Hidschab) empfängt Freunde in ihrem Haus in Moskau, um den Geburtstag ihres Mannes Kurmanek Shermatov (links, mit dem gemeinsamen Sohn Kagan) zu feiern. Shahrizada kam im Alter von 19 Jahren aus Kirgisistan nach Russland und arbeitete als Putzfrau in einem Kaufhaus sowie als Köchin. Zwei Jahre später zog sie zurück nach Kirgisistan und arbeitete für den staatlichen Fernsehsender, sehnte sich aber nach Moskau zurück. Online lernte sie den kirgisischen Bergbauingenieur Kurmanek kennen, der in Russland lebt, und zog vor drei Jahren zurück nach Russland.

    Foto von Ksenia Kuleshova, National Geographic
    Shahrizada fährt mit der Moskauer U-Bahn zur Hochzeit einer Freundin.

    Shahrizada fährt mit der Moskauer U-Bahn zur Hochzeit einer Freundin. Shahrizada eröffnete ein Bekleidungsgeschäft mit ihrer eigenen Modelinie, die moderne, genügsame Mode für muslimische Frauen sowie traditionelle kirgisische Kleidung anbietet. Ein beliebtes Modell ist ein bodenlanges Kleid mit einem strategisch platzierten Reißverschluss zum einfachen Stillen.

    Foto von Ksenia Kuleshova, National Geographic

    Eines Abends im Jahr 2016 stahlen maskierte Angreifer das Geld aus dem Laden, erzählt Guliza. Sie schlugen sie mit einer Pistole und verprügelten sie. Als die Ladenbesitzer eintrafen, unterstellten sie Guliza, weil sie keine Russin sei, habe sie den Überfall – und ihre eigene Prügel – durch Migrantenfreunde organisiert.

    Die Polizei habe ihre Anzeige mit einem ähnlichen Argument abgetan – trotz eines Überwachungsvideos, das zeigte, wie die Angreifer gewaltsam in den Laden eindrangen. Als die Sanitäter eintrafen, weigerten sie sich, sie zu behandeln, sagt Guliza.

    „Sie sagten, ich hätte nicht die richtige Staatsbürgerschaft“, sagt sie. „Sie standen nur da und lachten. Dann gingen sie wieder. Es war furchtbar.“ Ein Polizist, den sie aus der Nachbarschaft kannte, gab ihr ein Beruhigungsmittel. Guliza ging nie wieder in den Laden, und es dauerte mehr als ein Jahr, bis sie sich von dem Trauma erholt hatte.

    „Selbst jetzt, wenn ich eine Wohnung zur Miete suche, gehe ich auf die Websites und in den Inseraten steht: ‚Keine Asiaten‘, ‚Asiaten brauchen gar nicht erst anfragen‘ oder ‚Nur für Russen‘“, sagt Guliza. „Sie sagen ganz offen: ‚Du hast das falsche Gesicht.‘”

    Shahrizada spielt mit dem acht Monate alten Kagan. Sie gründete die Organisation Aiymdar KG, um anderen ...

    Shahrizada spielt mit dem acht Monate alten Kagan. Sie gründete die Organisation Aiymdar KG, um anderen kirgisischen Frauen in Moskau zu helfen, sich in Russland zurechtzufinden – und um einen sicheren Raum zu bieten, um über Beziehungen und Familienangelegenheiten zu sprechen. Ein Dutzend Frauen leitet die Organisation, die etwa 200 Frauen betreut und Geld für Stipendien für zehn Waisenkinder in Kirgisistan sammelt.

    Foto von Ksenia Kuleshova, National Geographic

    Neuankömmlinge in Russland suchen oft nach Sicherheit und nach Möglichkeiten, um sich zurechtzufinden. Zhibek bleichte ihr schwarzes Haar blond, um sich vor rassistischen Angriffen zu schützen. Seitdem sie das getan hat, habe die Polizei aufgehört, sie zu belästigen, erzählt sie. Andere Migrantinnen aus Moldawien und der Ukraine, mit denen sie zusammenarbeitet, würden weiterhin zur Zielscheibe.

    Inmitten der Feindseligkeit finden einige Neuankömmlinge Trost und materielle Unterstützung bei anderen Migrantinnen und ihren Moscheegemeinden. „Die Moschee hilft immer“, sagt Zhibek. Ihre Moschee gab ihr Geld und Essen, als sie in Moskau ankam und noch keinen Job hatte. Und während der Pandemie habe eine andere Moschee Migranten aufgenommen, die obdachlos geworden sind, und Mahlzeiten an diejenigen geliefert, die ihre Arbeit verloren haben, erzählt sie. „Es ist nicht nur die finanzielle Hilfe“, fügt Zhibek hinzu. „Es ist die moralische Unterstützung durch die Moschee, die so wichtig ist.“

    Zwei kirgisische Frauen, die 40-jährige Venera Bokotaeva und die 26-jährige Shahrizada Adanova, haben in Moskau Selbsthilfe- und Ausbildungsgruppen für andere Migrantinnen gegründet. Venera gab ihrer Gruppe den Namen Bakyt – kirgisisch für „Glück“. „Ich wollte Frauen mit glücklichen Augen sehen“, sagt sie, „und ich beschloss, diese Gruppe zu gründen, um ihnen zu helfen.“

    Shahrizada spielt mit dem acht Monate alten Kagan. Sie gründete die Organisation Aiymdar KG, um anderen ...

    Shahrizada und ihre Freundin Venera Bokotaeva verlassen ein Treffen der Aiymdar KG in Moskau. Venera leitet eine andere Hilfsorganisation für kirgisische Frauen namens Bakyt (kirgisisch für „Glück“). Venera, die Abschlüsse in Jura und internationalen Beziehungen sowie Erfahrung als Schneiderin hat, brachte eine ganze Reihe von Qualifikationen mit nach Russland, als sie 2017 mit ihrem Mann dorthin zog.

    Foto von Ksenia Kuleshova, National Geographic

    Ungefähr tausend Frauen sind jetzt Mitglied einer Bakyt-WhatsApp-Gruppe, in der sie ein Gefühl der Gemeinschaft finden und Treffen organisieren. Einmal trafen sich beispielsweise 90 Frauen in einem kirgisischen Teehaus in der Stadt und teilten sich Platten mit Plov, einem usbekischen Gericht mit Reis und Fleisch. Shahrizada richtete eine Online-Selbsthilfegruppe für kirgisische und usbekische Frauen ein, in der sie hilfreiche Informationen austauschen und sich gegenseitig motivieren und ermutigen können.

    Guliza hatte vor ihrem Umzug nach Moskau in Kirgisistan Jura studiert. Sie hat inzwischen einen Master-Abschluss in Jura an der Russischen Staatlichen Sozialuniversität und das führte zu einer Stelle als Anwältin bei einer Immobilienfirma in der Stadt. Nebenbei arbeitet sie pro bono für Migrantinnen: Sie hilft ihnen, nicht gezahlte Löhne zurückzubekommen, und berät sie, wie sie ihre Rechte geltend machen können, wenn sie willkürlich von der Polizei angehalten werden. Seid nicht unhöflich, rät sie – fragt sie nach den Gründen für die Festnahme, und wenn die Beamten etwas Illegales tun, streamt die Begegnung sofort live. Guliza gründete auch eine WhatsApp-Gruppe, in der sie an Tagen wie dem 20. April – dem Geburtstag Adolf Hitlers – Warnungen verschickt, an denen es für Migranten gefährlich sein kann, in die Öffentlichkeit zu gehen.

    Zhibek Turgunbajewa sagt, dass bei allem Leid oder Unglück, das ihr in Moskau widerfährt, der Grund für ihren Aufenthalt immer noch derselbe ist. „Ich will einfach nur so schnell wie möglich das Geld verdienen, das ich brauche, und wieder gehen. Ich will wirklich weg. Wenn ich zu Hause ein eigenes Haus hätte, würde ich keine Sekunde daran denken zu bleiben, denn ich habe meine Kinder nicht aufwachsen sehen.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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