Krieg ist unausweichlich: Lektionen aus Homers Ilias

Das Jahrtausende alte Epos scheint so aktuell wie eh und je. Was aber können wir heute tatsächlich noch von Achilles’ Kampf um Troja lernen?

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 11. Nov. 2020, 12:07 MEZ
Achilles

Achilles, hier zu sehen auf einem römischen Mosaik aus Zeugma in der heutigen Türkei, ist die zentrale Figur der Ilias. Gelehrte glauben, dass seine Ursprünge in Folklore und Mythen liegen könnten.

Foto von Manoocher

Homers 3.000 Jahre altes Epos der Ilias prägt noch heute, wie wir über Krieg denken. „Jedes Adjektiv beschwört die Zerstörung und Tragödie des Krieges herauf“, sagt Caroline Alexander, die 2015 eine neue Übersetzung des Werkes veröffentlichte. Sie schreibt regelmäßig für National Geographic und hat sich einen Namen als Autorin von Werken über moderne Epen wie der Meuterei auf der Bounty und der Antarktis-Expedition von Shackleton gemacht. Aber Homer ist das, was die ausgebildete Altphilologin als „die ewige Leidenschaft meines Herzens“ bezeichnet.

Im Interview mit National Geographic erklärt sie, warum ihre afrikanischen Studenten in Malawi die Ilias sofort verstanden, warum Hollywood eine Neuauflage des Epos verlangen würde und warum Homer uns noch viel über Krieg und die conditio humana zu lehren vermag.

Viele Menschen sind der Meinung, dass die Ilias den Krieg und das Machotum verherrlicht. Ist das gerecht?

Das ist ganz und gar nicht so. In Amerika haben die meisten Menschen, die die Ilias gelesen haben, sie im ersten Jahr ihres geisteswissenschaftlichen Studiums gelesen. Da wird im College oft eine Übersicht über die westliche oder andere Literatur gegeben. Man bekommt ein paar Bücher zugeteilt, die man in halsbrecherischer Geschwindigkeit lesen muss. Es gibt diese festgefahrene Ansicht, dass es in der Ilias um Krieg geht. Das lässt sich sehr einfach untermauern, wenn man einfach nur vier oder fünf Hauptszenen auswählt. Aber wenn man das Epos in seiner Gesamtheit liest, wird ohne jeden Zweifel klar, dass das Gedicht die verheerende Wirkung dieses Krieges auf jeden einzelnen Betroffenen beschreibt. Alte Männer, Zivilisten, Kinder, gefangene Frauen oder Ehefrauen, aber auch die Krieger, wie Achilles – sie alle verachten ihn. Jedes Adjektiv beschwört die Zerstörung und die Tragödie des Krieges herauf. Es ist buchstäblich ein Krieg der Tränen.

Die Handlung der Ilias findet nicht in der Hitze des Gefechts statt, sondern während einer langwierigen Pattsituation. Hollywood hätte eine Neuauflage verlangt, oder?

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    Foto von Hulton Archive, Getty

    Auf jeden Fall! [Lacht] Hollywood würde daraus einen cleveren, psychologischen Thriller machen. Das Pulverfass der Ilias ist nicht die Entführung der Helena von Troja, die den Krieg auslöste. Die Handlung beginnt am Ende des Krieges, als gerade niemand mehr viel macht. Die Griechen warten unruhig und werden dann von der Pest heimgesucht. Die Trojaner warten kampfbereit in Troja. Aber da im Hintergrund so wenig geschieht, konzentriert sich die Geschichte auf die aufkeimenden Unruhen im griechischen Lager zwischen Achilles, dem größten Krieger, und dem Oberbefehlshaber Agamemnon.

    Die große Vision des Gedichts ist, dass innere Verwerfungen – Unterbrechung der Befehlskette, Subversion, sogar Worte der Meuterei – ebenso tödlich und destabilisierend sein können wie ein Krieg zwischen klar voneinander abgegrenzten Gegnern. An dieser Stelle erklärt die Ilias, dass sie sich für Dinge interessiert, die sich von den kriegerischen Epen vergangener Tage unterscheiden. Sie interessiert sich für den Verstand, die Motivationen und die Psychologie der Menschen ebenso wie für den Schlagabtausch.

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    Achilles ist eine der zentralen Figuren. Warum ist er so bedeutend?

    Er ist ein interessanter Held, weil er ein Außenseiter, ein Ausländer ist. Diese Art von Terminologie wird sogar von seriösen Wissenschaftlern verwendet, die analysiert haben, wie sich seine Sprache von der anderer Charaktere unterscheidet. Er gehört nicht so ganz dazu. Eine sehr plausible Theorie ist, dass die Geschichte des Trojanischen Krieges zwar einer epischen Tradition entsprang, das Vermächtnis von Achilles jedoch aus Volkserzählungen stammt. Wenn man sich Aspekte seiner magischen Rüstung oder seiner Pferde ansieht, die in der Ilias sprechen können, erkennt man den märchenhaften Kontext.

    Er ist eine so wunderbare Volksmärchenfigur, die so reizvoll und glamourös war, dass er einfach in diese große Geschichte aufgenommen werden musste. Homer nutzt das sehr gut aus. Achilles steht im Mittelpunkt der Handlung. Er ist der absolut beste Krieger der Achäer, das Herz der Armee. Alles, was er denkt und tut, ist von zentraler Bedeutung für ihr Schicksal. Dennoch hat er eine Art Distanz, die ihm die nötige Perspektive gibt, jene großen Reden zu halten, die er in der Ilias hält – wie die in Buch Neun, als er erklärt, dass das Leben wertvoller als Ruhm ist.

    „Das Wichtigste, was die Ilias betont, ist, dass Gewalt in unseren Genen zu liegen scheint“, sagt Caroline Alexander. Hier kämpft ein Mitglied der syrischen Opposition gegen IS-Kämpfer in der Nähe von Aleppo.

    Foto von Anadolu Agency, Getty

    Sie haben in den 1980ern in Malawi Altphilologie unterrichtet. Was haben Ihre afrikanischen Studenten mit Homer anfangen können?

    Damals war ich 25 Jahre alt und meine Aufgabe war es, eine neue Abteilung für Altphilologie aufzubauen. Die Lebensumstände der meisten Menschen im antiken Griechenland ähnelten sehr der Umgebung, aus der meine Studenten kamen: ländliche Dörfer, die über die Landschaft verstreut lagen, mit einem großen Interesse an gemeinschaftlicher Unterhaltung, zu der auch viel mündliche Dichtung gehörte. Ein westlicher Klassik-Lehrer muss sehr hart arbeiten, um den Kontext der Zeit zu vermitteln: Wie wäre es, wenn man selbst Medea wäre? Wenn man einen Mann heiraten würde und deshalb in eine andere Region ziehen müsste, in der es andere Menschen und eine Faszination für Magie gibt? Meine Schülerinnen und Schüler kannten das alles aus ihrem eigenen Leben. Daraus zog ich eine sehr reale Wertschätzung für diese schlagfertige Phrase, die wir im Westen gern verwenden, dass die klassischen Werke „universell“ sind. In Malawi begriff ich erst richtig, dass sie wirklich universell sind.

    Londoner begutachten die Schäden eines deutschen Bombenangriffs im September 1940. „Nur wenige würden bestreiten, dass der Zweite Weltkrieg ein notwendiger Krieg war“, sagt Alexander.

    Foto von H. F. Davis, Getty

    Es stellte sich heraus, dass der Diktator von Malawi, Hastings Kamuzu Banda, ein begeisterter Altphilologe war. Ich interviewte ihn viele Jahre später für einen Artikel. Er war damals schon ein alter Mann und geistig nicht mehr gesund. Alles, woran er sich erinnern konnte, war sein Latein. Meine Begegnung mit dem am längsten regierenden Diktator in Subsahara-Afrika fand also ausschließlich auf Latein statt.

    Andere epische Gedichte über die Trojanischen Kriege haben nicht überdauert. Warum hat die Ilias den Test der Zeit bestanden?

    Ich glaube, es lag einfach daran, dass es die beste Erzählung war. In Malawi habe ich viel über verschiedene mündliche Traditionen in Afrika gelesen und darüber, wie der Übergang zur Alphabetisierung ablief. Ich glaube, die beste Erklärung für die Ilias ist, dass sie genau zu dieser entscheidenden Zeit entstanden ist. Es gab einen Menschen unbekannten Alters, Homer, der damit aufgewachsen war, wie Menschen mündliche Überlieferungen pflegten. Dann gab es einen sozialen Wandel, der revolutionär genug war, um jemandem wie ihm zu erlauben, das Undenkbare zu tun: das epische Material auf eine Art und Weise zu gestalten, die in der lebendigen mündlichen Überlieferung nicht möglich ist, weil sie an dem Format festhält, das die Menschen bereits kennen. Homer nutzte einen Bruch in der Tradition, der es einem Meisterdichter wie ihm ermöglichte, zu verstehen, dass er durch die Veränderung dieses traditionellen Materials etwas ganz Bemerkenswertes und Neues tun konnte: dieses kriegerische Epos zu nutzen, um die Tragödie des Krieges heraufzubeschwören.

    Der Krieg zwischen den Trojanern und den Griechen begann, als der trojanische Prinz Paris die Frau des griechischen Königs Menelaos, Helena, entführte. Die Ruinen der trojanischen Zitadelle befinden sich im türkischen Hisarlik, einem UNESCO-Weltkulturerbe.

    Foto von Dea, Archivo J. Lange, Getty

    Gibt es ein tatsächliches Erstexemplar der Ilias, auf das Sie sich bei Ihrer Arbeit gestützt haben?

    Nein, gibt es nicht. Die früheste, beste und vollständigste Ilias stammt ungefähr aus dem Jahr 1100 n. Chr. und ist auf Pergament geschrieben. Sie befindet sich in der Bibliothek des Vatikans. Aufgrund des Namens Venetus A können wir annehmen, dass sie in Italien hergestellt wurde. Was an diesem Manuskript besonders faszinierend ist, ist die Tatsache, dass am Rand ein wunderbarer wissenschaftlicher Kommentar geschrieben wurde, der auf die hellenistische Ära im 4. Jahrhundert v. Chr. zurückgeht. Spätere Kommentare stammen von den Bibliothekaren in Alexandria, die mit tatsächlichen Texten Homers arbeiteten, die ihnen vorlagen. Es gibt auch eine enorme Menge sehr mühsamer technischer Arbeit, die im Laufe der Jahrhunderte von modernen homerischen Gelehrten geleistet wurde. Der Text von Martin West, den ich verwendet habe, ist das jüngste Beispiel dafür. Er ging noch mal zurück und betrachtete tatsächlich – entweder durch physisches Festhalten in der Hand oder durch hochauflösende Scans – jeden einzelnen Materialfetzen, ob Papyrus oder Manuskript, der aus der Antike erhalten geblieben war und Worte Homers enthielt.

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    Unsere Welt ist von Krieg und Konflikten zerrissen. Welchen Rat kann uns die Ilias heute geben?

    Ich glaube, dass der Krieg tragischerweise unausweichlich ist. Ich weiß, dass es politisch nicht sehr korrekt ist, so etwas zu sagen. Aber wenn man die Szenen der Schlacht in der Ilias liest, die Achilles beiläufig mit den Worten erwähnt: „Ich habe diese Städte von meinem Schiff aus gestürmt“, und sich dann anschaut, was zum Beispiel bei dem Gemetzel und der Brutalität des IS geschieht, kann man viele Ähnlichkeiten erkennen. Aber die Tatsache, dass die Ilias immer wahr scheint, bedeutet nicht nur, dass sie prophetische Kräfte hat. Es bedeutet, dass diese Wahrheiten schon immer da waren. Sie sind bleibende Wahrheiten.

    „Die Ilias sagt uns, dass es Tragödien geben wird“, sagt Alexander. Hier überführt ein Team der US-Armee auf der Luftwaffenbasis Dover die sterblichen Überreste von Sergeant Matthew A. Harmon aus Minnesota, der 2011 in Afghanistan getötet wurde.

    Foto von Mark Wilson, Getty

    Ein Wissenschaftler hat mal Folgendes ausgerechnet: Wenn man in den vergangenen 5.000 Jahren ein beliebiges Jahrhundert nach dem Zufallsprinzip auswählen würde, würden es in etwa 96 dieser zufälligen 100 Jahre einen großen Konflikt in irgendeinem Teil der Erde geben. Das Wichtigste, was die Ilias betont, ist, dass Gewalt in unseren Genen zu liegen scheint. Was immer wir auch tun, der Krieg zieht uns in ihn hinein – selbst Präsidenten, die einen Friedensnobelpreis erhalten haben. Man kann dem nicht entkommen.

    Das andere, was uns die Ilias lehrt, ist, dass es Tragödien geben wird. Jemand wird an eine Tür klopfen, eine Frau wird hinausgehen und einen Soldaten in grüner Uniform auf ihrer Türschwelle stehen sehen und das Herz wird ihr schwer werden. Sie weiß, dass er gekommen ist, um ihr zu sagen, dass ihr Mann oder ihr Sohn im Krieg gefallen ist. Die Ilias behandelt die Frage nicht erschöpfend, ob es so etwas wie einen gerechten Krieg gibt. Hier müssen wir unser eigenes historisches Gedächtnis nutzen. Ich glaube, nur wenige würden bestreiten, dass der Zweite Weltkrieg ein notwendiger Krieg war. Die Ilias sagt uns, dass wir diese Entscheidung immer wieder treffen müssen. Die Welt wird nie einen Zustand des Friedens erleben, und die Entscheidung für einen Krieg wird immer eine vielschichtige Tragödie mit sich bringen.

    Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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