Wikinger: Das Rätsel um die Amulette aus Ribe

Bisher vermuteten Archäologen, dass die in die Wikingerzeit datierten Figuren Walküren zeigen sollten. Eine aktuelle Studie liefert nun neue Erkenntnisse zu ihrer Herstellung und den Motiven.

Von Andrew Curry
Veröffentlicht am 16. Aug. 2021, 11:38 MESZ
Aus Formen, die in Ribe, Dänemark gefunden wurden, kann eine große Zahl verschiedener Figuren hergestellt werden. ...

Aus Formen, die in Ribe, Dänemark gefunden wurden, kann eine große Zahl verschiedener Figuren hergestellt werden.

Foto von Museum of Southwest Jutland, CC-BY-SA

In ganz Dänemark, aber auch in England und Russland, stießen Archäologen bei ihren Ausgrabungen immer wieder auf kleine Figuren, die sie rätseln ließen: Die wenige Zentimeter großen Bronzen stellen langhaarige Frauen in langen Kleidern mit verzierten Helmen dar, die Schilde und Schwerter tragen. Ihren Ursprung haben die Amulette im Zeitalter der Wikinger.

Funde in Wikingergräbern zeigen, dass es im Gegensatz zu Männern eher die Ausnahme war, Frauen mit Waffen zu beerdigen. Das lässt darauf schließen, dass Frauen nur in Ausnahmefällen Kriegerinnen gewesen sind. Die Forscher mussten also eine andere Erklärung für die figürlichen Darstellungen bewaffneter Frauen finden und suchten in der Welt der Sagen und Mythen. Die scheinbare Antwort fanden sie bei den Walküren, weiblichen Geistwesen der nordischen Mythologie, deren Aufgabe es war, ehrenvoll Gefallene nach ihrem Tod vom Schlachtfeld nach Walhall zu bringen.

„Basis für die Interpretation dieser Motive war bis jetzt immer unser Wissen über die nordische Mythologie“, erklärt Pieterjan Deckers, Archäologe an der Freien Universität in Brüssel.

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Doch nun haben er und seine Kollegen in der Zeitschrift „Medieval Archaeology“ eine Studie veröffentlicht, laut der die Walküre-Amulette eigentlich reale Frauen darstellen, die an Wikingerfesten und -zeremonien teilnehmen. Sie vermuten außerdem, dass die weiblichen Figuren nur ein Teil einer größeren Gruppe ritueller Motive sein könnten, die in ihrer Gänze möglicherweise einen Hinweis darauf liefert, dass die Geschlechterrollen im Europa der Wikingerzeit weitaus komplexer waren, als bisher gedacht.

Kunsthandwerk vom Fließband

Den Schlüssel zu den neuesten Erkenntnissen lieferte eine Entdeckung, die Archäologen im Jahr 2017 in der Nähe von Ribe gemacht haben – der ältesten Stadt Dänemarks und schon in der Wikingerära ein wichtiger Handelsplatz. Hier fanden sie die Reste einer Art Schmuckwerkstatt der Wikinger, die auf das 9. Jahrhundert n. Chr. datiert wurde.

Archäologen der Universität Aarhus sicherten in Werkstatt und Umgebung mehr als 7.000 fingernagelgroße Ton-Fragmente, die sie in langer, mühevoller Arbeit wieder zusammenfügten. Ihr Lohn waren Hinweise auf den kunsthandwerklichen Herstellungsprozess: die Fließbandarbeit der Wikingerzeit. Denn alles deutete darauf hin, dass der damalige Künstler nur eine einzige Figur schnitze, deren Vorder- und Rückseite dann in Ton gepresst wurden, um eine Gussform zu erhalten. Diese wurde daraufhin mit flüssiger Bronze befüllt und, nachdem das Metall ausgekühlt war, zerschlagen, um die Figur freizulegen.

„Auf diese Art konnten die Kunsthandwerker große Mengen solcher Figuren herstellen“, erklärt Søren Sindaek, Archäologe an der Universität in Aarhus und Co-Autor der Studie.

Im nächsten Schritt setzten die Wissenschaftler Scanner ein, die normalerweise bei der Herstellung von Zahnersatz verwendet werden, um 3D-Modelle der Tonformen zu erstellen. Mithilfe dieser war es ihnen möglich, die Amulette zu rekonstruieren.

„Anhand von wild verstreuten Puzzleteilen ist es dem Team gelungen, Artefakte nachzubilden, die gar nicht mehr existieren“, erklärt Leszek Gardela, Archäologe am dänischen Nationalmuseum und nicht an der Studie beteiligt. „Das ist eine ziemlich innovative Methode.“

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    Unter den rekonstruierten Formen befand sich auch eine Vorlage für die bereits bekannten Walküre-Figuren, doch neben diesen waren in der Wikinger-Werkstatt noch andere Motive in großen Mengen produziert worden: Männer, die sich an den Haaren ziehen, und Darstellungen alltäglicher Objekte wie Räder, Pferde und andere nicht-mythische Abbildungen. Je mehr Formen sie zusammenfügten, desto größer wurden die Zweifel der Forscher daran, dass die Amulette wirklich Walküren zeigen sollten.

    Kriegerinnen waren selten

    Darstellungen der Figuren aus der Werkstatt bei Ribe finden sich auch auf einem anderen, äußerst seltenen Artefakt aus der Wikingerzeit: dem Oseberg-Wandteppich. Das 1.200 Jahre alte, aus mehreren Fragmenten bestehende, textile Exponat wurde im Jahr 1904 im Oseberg-Schiff in Norwegen gefunden. Vermutlich handelt es sich bei dem Teppich um eine Grabbeigabe. Auf ihm ist eine rituelle Prozession dargestellt, bestehend aus Wagen, Pferden, bewaffneten Frauen und Menschen mit gehörnten Helmen oder in Tierkostümen.

    „Ich bin mir sicher, dass die Amulette Elemente dieser Prozession nachbilden“, sagt Søren Sindaek. „Ikonografisch und stilistisch finden sich hier exakt dieselben Motive.“

    In ihrer Gesamtheit könnten die Amulette aus Ribe einen neuen Blickwinkel auf die Zeremonien der Menschen im Skandinavien der Wikingerzeit bieten. „Frauen nahmen bei diesen Ritualen eine herausragende Stellung ein“, erklärt Søren Sindaek. „Das ist keine Überraschung, denn auch im häuslichen Umfeld war ihre Rolle eine wichtige.“

    Ihm zufolge liefern jedoch weder die angeblichen Walküre-Figuren noch die Szenen auf dem Oseberg-Wandteppich Hinweise darauf, dass Wikingerfrauen standardmäßig auch Kriegerinnen waren. Obwohl bekannt ist, dass manche Frauen der Wikingerzeit in den Kampf gezogen sind, lege die Art der Darstellung der Figuren aus Ribe und von anderswo die Vermutung nahe, dass es hier um etwas anderes gehe. Grund dafür sei, dass sie nicht nur Schilde und Schwerter trügen, sondern auch altertümliche Helme und lange Kleider.

    “Niemand zieht in einem Kleid mit langer Schleppe in die Schlacht“, sagt Søren Sindaek. „Es gab weibliche Krieger, aber die Amulette stellen nicht sie dar.“

    Stattdessen stoßen die Motive auf eine Lücke, in der die traditionellen Geschlechterrollen der Wikingerzeit – laut den Wissenschaftlern – miteinander verschmelzen. „Was wir hier sehen, ist geschlechtliche Mehrdeutigkeit“, erklärt Sarah Croix, Archäologin an der Universität von Aarhus und Co-Autorin der Studie. Sie war mehrere Jahre lang Teil des Teams in Ribe und die treibende Kraft hinter dem Scannen und Erstellen der 3D-Modelle der Tonfragmente. „Wir sehen weibliche Individuen, die wie Männer Waffen tragen, und Männer, die sich an den Haaren ziehen – was als weibliche Geste gewertet wird.“

    Die Studie bringt frischen Wind in die Lehren der jüngeren Zeit, die sich extrem auf das Bild der Kriegerin in der Wikingerzeit beschränkt haben. „Der neue Ansatz führt weg von der sehr simplen Interpretation, dass alle Abbildungen von Frauen mit Waffen Walküren oder Kriegerinnen zeigen müssen“, sagt Leszek Gardela. „Es ist gut, sich vor Augen zu führen, dass es bei der Einordnung solchen Materials keinen klar vorgezeichneten Weg gibt.“

    Laut Sarah Croix erweitern die Amulette unseren Blick auf die Wikingerzeit um eine zusätzliche, komplexe Ebene und zeigen, dass die heutige Debatte über Geschlechter und Identität keine vollkommen neuartige ist.

    “Sie erinnern uns daran, dass Geschlechterrollen nicht in Stein gemeißelt sind“, sagt sie. „Männer- und Frauenrollen unterscheiden sich von Kultur zu Kultur. Es ist wichtig, das nicht zu vergessen.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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