Wie viel Wahrheit steckt in den Sagen der Wikinger?

Archäologen konnten wichtige Details aus den altnordischen mündlichen Überlieferungen belegen. (Drachen, Elfen und Trolle sind aber nicht dabei.)

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 5. Dez. 2019, 16:14 MEZ
Nachbildung eines Wikingerbootes
Die mündlichen Überlieferungen der Wikinger reichen Jahrhunderte zurück, erklärt Eleanor Rosamund Barraclough. „Es ist sehr schwer, Fakt von Fiktion zu trennen“. Auf diesem Bild schwimmt eine Nachbildung eines Wikingerbootes auf einem See in Norwegen.
Foto von Jim Richardson, Nat Geo Image Collection

In Serien wie „Vikings“ und „Game of Thrones“ dienen die eisigen Einöden des Nordens oft als Kulisse für dramatische und nicht selten gewalttätige Geschichten über Könige, Krieger, Drachen und Trolle. Die literarische Quelle für viele dieser Dramen sind isländische Sagen. Mit genau diesen Sagen befasste sich die Historikerin Eleanor Rosamund Barraclough in ihrem Buch „Beyond the Northlands: Viking Voyages and the Old Norse Sagas“. Darin trennt sie sorgsam Fakt von Fiktion und zeigt, dass die Völker des Nordens deutlich komplexer waren, als ihr klischeehafter Ruf als Räuber und Vergewaltiger vermuten lässt.

Im Interview mit National Geographic erklärt sie, warum die US-Amerikaner lieber Leif Erikson statt Kolumbus feiern sollten, warum die Sowjets die Vorstellung hassten, dass die Wikinger Russland gegründet haben könnten, und dass die grausame Folter- und Hinrichtungsmethode des Blutaar oder Blutadlers vermutlich eher auf einer poetischen Metapher beruht als auf historischen Tatsachen.

Foto von Oxford University Press

Sie schreiben: „Die Wikinger haben seit jeher einen Ruf als die bösen Jungs der mittelalterlichen Welt.“ Ist es an der Zeit, dieses Vorurteil zu hinterfragen?

Die Vorstellung, dass die Wikinger die bösen Jungs des Mittelalters waren, stammt direkt aus dem Mittelalter selbst. Die erste große Plünderung durch die Wikinger fand im Jahr 793 auf der Insel Lindisfarne statt. Allerdings muss man beachten, woher wir von dieser Plünderung wissen: aus der „Angelsächsischen Chronik“. Die wurde 100 Jahre später zu Zeiten König Alfreds geschrieben, der kein großer Freund der Wikinger war. Etwa zur selben Zeit schreibt ein streng gläubiger, angelsächsischer Kleriker namens Alcuin am Hofe Karls des Großen einen Brief an den Abt von Lindisfarne. Darin heißt es: „Nie zuvor erschien ein solcher Schrecken an unseren Ufern. Erinnert Euch an die Worte der Propheten: Aus dem Norden erhebt sich das Böse.“ Von Anfang an gab es also diese Vorstellung, dass die Wikinger sowas wie Gottes Strafe für begangene Sünden seien.

Wenn wir „Wikinger“ sagen, meinen wir damit eigentlich jeden mittelalterlichen Einwohner Nordeuropas. Aber das Wort selbst bedeutet „Plünderer“. Das ist eine Berufsbezeichnung. Die Menschen, die während des Mittelalters im hohen Norden lebten, plünderten auch tatsächlich. Aber sie taten noch viel mehr. Sie reisten weit umher. Sie kolonisierten die Nordatlantikküste, Teile der schottischen Inseln und Island. Sie waren im arktischen Teil Skandinaviens und auf russischen Flüssen unterwegs. Sie gründeten eine Kolonie auf Grönland, die 500 Jahre lang Bestand hatte, und schafften es bis an die Küste Nordamerikas.

Galerie: Der Wikingerschatz von Galloway

Kolumbus wird als „Entdecker“ Amerikas gefeiert. Aber laut der „Vinland-Sagas“ sollten die Amerikaner wohl lieber Erik den Roten feiern?

Na ja, vermutlich eher Leif den Glücklichen, den Sohn von Erik dem Roten. Grönland wurde etwa im Jahr 985 besiedelt, angefangen mit Erik dem Roten. Das wissen wir teilweise aus den Vinland-Sagas, den zwei Isländersagas: die Saga von den Grönländern und die Saga von Erik dem Roten. Das sind die wichtigsten Schriftquellen darüber, wie die altnordischen Grönländer eine Generation nach Erik dem Roten von Grönland aus aufbrachen und die Küste Nordamerikas erreichten. Erst Baffin Island, dann Labrador – das sie Markland nannten, also „Waldland“ – und schließlich Neufundland.

Bis in die 1960er waren die Vinland-Sagas aber unsere einzige Informationsquelle zu diesen Reisen. Viele Leute waren sich nicht mal sicher, dass sie wirklich passiert sind. In den Sechzigern zeigten dann Ausgrabungen an der Nordspitze Neufundlands, in  L’Ans-Aux-Meadows, dass es dort mal altnordische Besucher gegeben hatte. Ich würde sie nicht als „Siedler“ bezeichnen. Es gibt da Langhäuser, aber die wirken eher wie Winterquartiere, wo sie ihre Schiffe reparierten und dann weiter nach Süden fuhren. Frauen gab es auf diesen Reisen auch. Einer der Sagas zufolge soll eine Frau dort ein Kind geboren haben. Damit wäre sie die erste europäische Frau gewesen, die auf dem nordamerikanischen Kontinent ein Kind zur Welt gebracht hat.

Spannend ist auch, dass die Amerikaner früher – und sogar noch vor den archäologischen Funden – regelrecht versessen auf dieses Wikinger-Erbe waren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es haufenweise Gemälde mit romantisierten Darstellungen von großen Wikingern, die in ihren Booten herbeikamen. Es gibt aber auch viele Fälschungen, denn wenn man eine bestimmte Vergangenheit nicht finden kann, macht man sie eben einfach selbst. In einem Acker in Minnesota wurden gefälschte Runensteine ausgegraben, es gab gefälschte Waffen und natürliche die berühmte Vinland-Karte.

Die Sagas wurden im 13. Jahrhundert in Island geschrieben und danach fortwährend als Manuskripte kopiert. Auf gewisse Weise endete das Mittelalter in Island erst im 20. Jahrhundert. „Saga“ kommt vom altnordischen Wort „sayer“, was „sagen“ bedeutet. Das ist ein Hinweis auf den Ursprung dieser Sagas. Die hat sich nicht einfach im 13. Jahrhundert irgendein Schriftgelehrter ausgedacht und niedergeschrieben. Sie hatten da bereits eine jahrhundertelange Geschichte der mündlichen Überlieferung hinter sich. Das sind Geschichten, die immer wieder erzählt, weitererzählt und von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden. Das bedeutet aber nicht, dass es sich um pure Fakten handelt. Geschichten verändern sich, wie werden angepasst, ausgeschmückt, einige Fakten verschwinden, woanders werden Informationen hinzugefügt. Als sie dann endlich schriftlich festgehalten wurden, war es schon sehr schwer, Fakt von Fiktion zu trennen.

Eine Statue von Leif Erikson steht vor der Hallgrimskirkja-Kirche in Reykjavik, Island. Der Wikinger soll Nordamerika schon fünf Jahrhunderte vor Kolumbus erreicht haben.
Foto von Jon Bower Iceland, Alamy Stock Photo

Trolle und Zwerge kennt mittlerweile jeder aus „Herr der Ringe“. Drachen sind ein wichtiger Teil der Geschichte in „Game of Thrones“. In den Sagas kommen sie oft vor, oder?

Sie tauchen da schon auf, aber die Sagas können auch ziemlich realistisch sein. Nicht alle Sagas sind voller Drachen und Elfen. Spannend ist aber, dass sie ganz klar Teil der altnordischen Weltanschauung sind. Wenn sie auftauchen, gelten sie nicht zwingend als fantastische Wesen. Es gibt ganz normale Episoden der Sagas, in denen jemand träumt oder auf einen Berg wandert und plötzlich taucht so ein Wesen auf. Der Gedanke, dass Trolle immer gerade außerhalb des eigenen Sichtfelds lauern, ist weit verbreitet.

Der hohe Norden wurde schon immer mit dem Übernatürlichen oder gar Diabolischen assoziiert, schon in der Bibel. Das sehen wir in der angelsächsischen Weltanschauung und sogar noch im 19. Jahrhundert in Hans Christians Andersens „Schneekönigin“. Je weiter man nach Norden kommt, desto unwirtlicher wird die Landschaft. Es gibt Berge, tiefe Schluchten und fremdartige Felsformationen. In diesen unmenschlichen Teilen der Welt wird es daher einfacher, sich vorzustellen, dass die einzigen Wesen, die dort leben, auch unmenschlich sind – zum Beispiel Trolle.

Eine der Überraschungen in Ihrem Buch war für mich, dass die Wikinger auch – über Land – nach Osten reisten ins heutige Russland. Erzählen Sie uns von diesen Reisen und weshalb die Sowjets ihre Verbindung zu den Wikingern herunterspielten.

Der ursprüngliche Impuls, nach Russland zu gehen, kam in der nordischen Welt von den Menschen im Osten, insbesondere von den Schweden. Sie überquerten die Ostsee und fuhren dann die russischen Flüsse hinab. Wer wissen will, wo die Nordmänner langreisten, muss nur der Spur des Geldes folgen. Während des Mittelalters waren gewaltige Mengen islamischen Silbers auf den Flüssen unterwegs – und denen folgten die Menschen aus dem Norden. Sie brachten aber auch selbst Handelsgüter mit, beispielsweise Felle und Tierhäute, sie viel Geld einbrachten. Und sie brachten Sklaven, was ein weiterer Grund für die ganzen Raubzüge und die Gewalt war.

Das Wort „Russland“ scheint vom Begriff „Rus“ abgeleitet zu sein, dessen Wurzel in Schweden oder einem anderen Teil der altnordischen Welt zu liegen scheint. Die nordischen Stämme gründeten Kiew und das Großreich Kiewer Rus, aus dem später Russland, die Ukraine und Weißrussland hervorgingen. Aber während der Sowjetära kam es nicht gut an, zu erzählen, dass die eigene Nation von Europäern gegründet wurde. Man wollte lieber, dass sie von Slawen erbaut wurde, dem eigenen Volk, und zwar in Opposition zu Europa. Wenn man sich aber die ältesten archäologischen Schichten in Handelsstädten wie Staraya Ladoga ganz im Norden ansieht, findet man dort ganz klar nordische Elemente.

Die Wikinger sind weit gereist, bis nach Russland und Nordamerika. Vermutlich waren sie aber nie in Petersburg in Alaska, wo dieser Nachbau eines Wikingerschiffs an das norwegische Erbe der Stadt erinnert.
Foto von MacDuff Everton, Nat Geo Image Collection

Eine der grauenvollsten Szenen in der Serie „Vikings“ ist die, in der Ragnar Lothbrok, der Hauptcharakter und eine historische Figur, einen seiner Feinde mit dem „Blutadler“ hinrichtet. Was genau ist das? Und gab es das wirklich?

Der Blutadler war eine besonders grausame Folter- und Hinrichtungsmethode. Dabei wurde an der Wirbelsäule des Opfers entlanggeschnitten, die Rippen nach außen gedrückt und die Lunge herausgeholt. Das sieht dann aus wie ein Paar Adlerschwingen. Akademiker diskutieren aber darüber, ob so etwas tatsächlich stattgefunden hat. Die Originalquelle dafür sind nämlich ein paar Verse in einer Skaldendichtung. Ein „Skald“ ist ein altnordischer Dichter und Skaldendichtungen wurden üblicherweise von Hofdichtern geschrieben.

Ein Merkmal von Skaldendichtungen ist, dass sie ziemlich verschachtelt sind, wie ein kryptisches Kreuzworträtsel. Wenn man in einem skaldischen Vers einen Verweis auf den vermeintlichen Blutadler findet, handelt es sich wahrscheinlich um eine Metapher. Roberta Frank von der University of Yale legt beispielsweise dar, dass der Blutadler nur die Vorstellung von einem Aasvogel ist, der den Rücken der Toten aufkratzt. Wer viele Leichen produziert, ist ein großer Krieger. Darauf wird damit angespielt. Aber als spätere Schreiber aus diesen Dichtungen Prosatexte machten, schienen sie sie wörtlich genommen zu haben. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass es diese furchtbare Foltermethode nie gab.

 

Ich schätze mal, Sie sind kein Fan der Serie „Vikings“?

Doch, ich liebe sie! Die ist brillant! Die betreiben so viel Recherche! Als sie beispielsweise in der ersten Staffel auf der Suche nach den britischen Inseln losgesegelt sind, fragen sie sich, wie sie navigieren sollen, wenn so viele Wolken am Himmel hängen. Dann halten sie etwas hoch, das sie als Sonnenstein bezeichnen. Damit soll man sehen können, woher das Licht kommt, sodass man navigieren kann. Es wird viel darüber diskutiert, ob es so etwas wirklich gab. Es gibt schriftliche Verweise darauf, aber bislang hat man nichts dergleichen in anderen Kontexten gefunden. Aber die Vorstellung, dass sie nicht von den britischen Inseln wussten, ist totaler Quatsch. Die hatten schon jahrelang Handel mit denen getrieben.

Sie sind eine Akademikerin, aber für die Recherchen zu Ihrem Buch haben Sie Ihren Elfenbeinturm definitiv verlassen. Erzählen Sie uns von den Highlights Ihrer Reisen und wie Ihre Arbeit an dem Buch Ihren Blick auf die Wikinger verändert hat.

Ich bin kein großer Freund des Elfenbeinturms. Ich finde Bibliotheken langweilig. Meine Reise nach Grönland war einer der Gründe, weshalb ich das Buch schreiben wollte. Ich war zwei Sommer lang dort. Im ersten Sommer war ich auf einem Islandpony mit einer Fremdenführerin unterwegs. Das war eine wirklich tolle Frau, so ein richtiger Pioniertyp. Wir ritten von einer altnordischen Ruine zur nächsten und übernachteten auf Gehöften, die oft am selben Ort waren wie die Ruinen. Später verbrachte ich drei Tage auf einer Fähre und fuhr die Küste rauf bis jenseits des Polarkreises nach Ilulissat. Der Eisfjord ist aufgrund seiner viele Eisberge ein UNESCO-Weltnaturerbe. Womöglich kalbte dort auch der Eisberg, mit dem die Titanic kollidierte.

In Grönland sah ich die archäologischen Belege für die Weltanschauung, die ich aus den Sagas kannte – die Farmen aus einigen der Sagas, den Fjord, in dem Erik der Rote lebte. Ich habe direkt neben seiner Farm übernachtet! Vor allem aber wurde mir klar, wie außergewöhnlich diese Menschen waren, wie weit sie gereist waren, wie gefährlich es war und wie furchtlos und unerschrocken sie waren, bis zum Rand der bekannten Welt zu reisen.

Das Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

 

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