Neue Studie: Gefährden digitale Medien die Demokratie?

Hass und Hetze, Desinformation und Fake News. Schwächen soziale Medien und andere digitale Plattformen die Gesellschaft? Befeuern sie Polarisierung und Populismus? Eine Studie liefert neue Erkenntnisse über Twitter, Facebook und Co.

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 19. Dez. 2022, 10:04 MEZ
Die Icons von sozialen Medien wie Twitter, Instagram und Facebook auf einem Smartphone

Digitale Medien: Fluch oder Segen für die Demokratie?

Foto von Adobe Stock

Kurz nachdem er Twitter im Oktober für 44 Milliarden Dollar gekauft hatte, feuerte Elon Musk mehr als die Hälfte der 7.500-köpfigen Belegschaft. Darunter waren viele Mitarbeitende, deren Aufgabe es war, die Plattform von Hassrede und Falschinformation freizuhalten. Wenig später ließ Musk den gesperrten Account von Ex-US-Präsident Donald Trump wiederherstellen. Der war nach den Ausschreitungen rund um das Kapitol im Januar 2021 „wegen des Risikos weiterer Anstiftung zur Gewalt“ von Twitter verbannt worden.

Musk will nach eigenen Worten die Meinungsfreiheit garantieren. Zugleich hat er Mitte Dezember die Accounts mehrerer Journalisten vorübergehend sperren lassen. Viele der rund 238 Millionen aktiven Nutzer sehen die Entwicklung mit Sorge. Sie fürchten, dass sich Hatespeech und Fake News unter dem Deckmantel der freien Rede weiter ausbreiten. Internationale Konzerne wie Volkswagen, General Motors oder der Pharmakonzern Pfizer haben ihre Werbemaßnahmen auf Twitter eingefroren, weil sie um ihr Image fürchten.

Auch die Bundesregierung kündigte an, die Entwicklung „sehr genau“ zu beobachten. Das Landgericht Frankfurt hat entschieden, dass Twitter stärker gegen illegale Inhalte vorgehen muss. Ansonsten drohen der Plattform hohe Geldstrafen. Zugleich gewinnt das deutsche Alternativ-Netzwerk Mastodon an Zustrom.

Im Netz der Verschwörungsmythen?

Aktuell beherrscht die Frage nach dem künftigen Kurs von Twitter die Schlagzeilen. Doch Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit diskutieren die Rolle digitaler Medien schon länger. Wohin steuern Online-Dienste wie Twitter, Telegram oder Facebook? Fördern sie die Demokratie oder schaden sie ihr? Eignen sie sich für konstruktive Debatten und einen fairen Meinungsaustausch? Oder verkommen sie zum Sammelbecken für Hass und Hetze, Fehlinformationen und Verschwörungserzählungen? Sind sie sogar mitverantwortlich für die gegenwärtige Krise liberaler Gesellschaften?

Jetzt zeigt eine Studie unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts: Digitale Medien können tatsächlich demokratiefeindliche Entwicklungen befeuern. Das Forschungsteam hat dazu Belege aus fast 500 internationalen Wissenschaftsartikeln zusammengefasst und in der Zeitschrift Nature Human Behavior veröffentlicht. „In unsere Arbeit gingen Studien aus aller Welt ein“, sagt Co-Autor Ralph Hertwig, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. „So können wir zeigen, wie sich digitale Medien auf politische Systeme im globalen Kontext unterschiedlich auswirken.“

Nach Darstellung der Studie gefährden digitale Medien vor allem etablierte Demokratien, indem sie Populismus und gesellschaftliche Spaltung vorantreiben. Viele der ausgewerteten Fachartikel würden belegen, dass Social Media, Messenger und andere Online-Dienste auch das Vertrauen in die Politik sowie in klassische Medien wie Zeitungen und Fernsehsendern beschädigen könnten.

Gefangen in Filterblasen und Echokammern

Eine Ursache dafür liegt im „News-finds-me“-Effekt. Hiernach tendieren Social-Media-Nutzer dazu, sich nicht mehr aktiv und ausgewogen zu informieren. Der Grund: Sie gehen davon aus, dass wichtige Informationen sie automatisch erreichen, beispielsweise über die Newsfeeds ihrer Social-Media-Kanäle.

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Nach Ansicht von Experten kann es auf diese Weise zu den viel diskutierten Filterblasen und Echokammern kommen. Demzufolge entstehen sie dadurch, dass Internetdienste Daten über unser Nutzungsverhalten sammeln. Mit speziellen Algorithmen zeigen sie uns dann vorrangig diejenigen Nachrichten, die zu unseren vermeintlichen Bedürfnissen und Überzeugungen passen. Abweichende Meinungen erreichen uns so kaum noch. Die personalisierten Informationen führen dazu, dass die eigene Weltsicht wie in einer Echokammer ständig wiederholt und damit verstärkt wird.

Bislang war die Existenz von Echokammern umstritten. Auch die Autorinnen und Autoren der neuen Studie konnten im Internet allein keine klaren Beweise finden – innerhalb der Beziehungsnetzwerke in sozialen Medien, etwa in geschlossenen Gruppen, dagegen schon. Dort hätten Echokammern und Filterblasen durch ihre Abgeschlossenheit und das Radikalisierungspotenzial „einen negativen Einfluss auf die Demokratie“. Solche Entwicklungen ließen sich vor allem in länger bestehenden Demokratien wie in Europa und in den Vereinigten Staaten beobachten.

Social Media: Fluch oder Segen für die Demokratie?

Nach Worten des Forschungsteams können sich digitale Medien aber auch durchaus positiv auf die Demokratie auswirken: Das sei vor allem in aufstrebenden Demokratien in Südamerika, Afrika und Asien der Fall. Dort steigern digitale Medien idealerweise die Nachrichtenvielfalt und damit die politische Beteiligung.

In autoritären Staaten profitiere die Opposition durch Vernetzungsmöglichkeiten. Nach Einschätzung der Forschenden sind digitale Medien also ein zweischneidiges Schwert. Je nach politischer Realität können sie der Gesellschaft nutzen oder schaden.

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