Rekonstruktion eines Mädchens in traditioneller Kleidung.

Menschenopfer der Inka: Die Jungfrau aus dem Eis bekommt ein Gesicht

Vor fast 30 Jahren wurde in den peruanischen Anden die Mumie eines 14-jährigen Mädchens gefunden. Es starb als Opfergabe an die Götter. Wie Juanita aussah, zeigt nun eine Rekonstruktion ihres Gesichts.

Rekonstruktion des Inka-Mädchens Juanita – der sogenannten „Jungfrau aus dem Eis“ –, das im Alter von 14 Jahren auf dem Gipfel des Ampato bei einer Opferzeremonie vor über 500 Jahren starb.

Foto von Dagmara Socha
Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 3. Nov. 2023, 08:38 MEZ

Vor über 500 Jahren fand ein 14 Jahre altes Mädchen auf dem Gipfel des Vulkans Ampato in den Anden den Tod. Es wurde den Inka-Göttern geopfert, sein Körper an Ort und Stelle begraben. Durch natürliche Mumifizierung hat er die Zeit überdauert: Die Haare und Fingernägel des Mädchens, das auf den Namen Juanita getauft wurde, blieben ebenso erhalten wie die bunte Kleidung, die es am letzten Tag seines Lebens trug. Nicht so das Gesicht der sogenannten Jungfrau aus dem Eis: Im Laufe der Jahrhunderte war es den Elementen ausgesetzt, die es langsam aber stetig verschwinden ließen.

Nun konnte Juanitas Gesicht mithilfe archäologischer und forensischer Forschung wiederhergestellt werden. Die Rekonstruktion steht im Mittelpunkt einer neuen Ausstellung in Peru, die sich mit der Tradition der Menschenopfer beschäftigt, die vor einem halben Jahrtausend in der Andenregion verbreitet war.

„Auf den ersten Blick sah ich nur ein großes Stoffbündel“, erinnert sich National Geographic Explorer Johan Reinhard an den Fund der Mumie auf dem Ampato im Jahr 1995. Dieses Bild zeigt seinen Kletterpartner Miguel Zárate mit ihrer Entdeckung.

Foto von J. Reinhard

Capacocha: Kinder sterben für die Götter

Als National Geographic Explorer Johan Reinhard die Mumie im Jahr 1995 auf dem Gipfel des fast 6.300 Meter hohen Vulkans Ampato fand, wusste er sofort, dass er auf etwas Spektakuläres gestoßen war.

„Auf den ersten Blick sah ich nur ein großes Stoffbündel“, erinnert er sich. Doch dann entdeckte er das verwitterte Gesicht und ihm war klar, dass er die sterblichen Überreste eines Opfers einer Capacocha-Zeremonie entdeckt hatte.

Im Rahmen des Opferritus Capacocha, der im Inka-Reich eine bedeutende Rolle spielte, wurden hauptsächlich Kinder und Tiere geopfert – manchmal als Antwort auf Naturkatastrophen, aber auch, um ihre Herrschaft in den Provinzen des Inka-Imperiums zu festigen oder um die Götter zu besänftigen oder zu erfreuen. Die Zeremonie begann mit einem Festmahl, dann begleitete eine große Prozession die auserwählten Kinder an den Ort der Opferung. Die Opfer wurden vermutlich aufgrund ihrer Schönheit ausgewählt – für die Familien der Kinder und die Gemeinschaften, aus denen sie stammten, dürfte dies eine große Ehre gewesen sein.

BELIEBT

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    Sonia Guillen, eine der führenden Mumienexpert*innen Perus, fotografiert Juanita kurz nach ihrer Entdeckung in einem Raum der Katholischen Universität in Arequipa.

    Foto von Stephen Álvarez, Nat Geo Image Collection

    Dagmara Socha, Archäologin an der Universität Warschau, hat die Gesichtsrekonstruktion von Juanita in Auftrag gegeben. Sie erforscht das Capacocha-Ritual schon seit Längerem – ein schwieriger Prozess, denn Informationen zu der Zeremonie stammen meist aus zweiter Hand. „Kein Europäer hat sie jemals mit eigenen Augen verfolgt“, sagt sie. Auf dem Ampato und anderen Gipfeln der Anden wurden jedoch die Überreste von mehr als einem Dutzend Inka-Kindern entdeckt, die im Rahmen einer Capacocha-Zeremonie geopfert wurden. Diese archäologischen Funde liefern bereits wichtige Hinweise zum Ritual.

    Unter anderem ist nun bekannt, dass der Opferungsprozess nicht immer gleich und der Ablauf wahrscheinlich davon abhängig war, welchem Gott das Opfer dargebracht wurde. Manche Kinder wurden lebendig begraben, andere erwürgt, manchen wurde das Herz aus dem Leib geschnitten. Das Leben von Juanita beendete ein einziger Schlag auf den Hinterkopf.

    Nachbildung aus dem 3D-Drucker

    Der Archäologe und Bildhauer Oscar Nilsson kennt den Schädel der Jungfrau aus dem Eis in- und auswendig. Monatelang hat er in seinem Studio in Stockholm an der Skulptur des 14-jährigen Mädchens gearbeitet. Von weitem betrachtet erscheint sie fast lebendig.

    Eine Nachbildung von Juanitas Schädel aus dem 3D-Drucker diente Nilsson als Basis für die Rekonstruktion ihres Gesichts.

    Foto von Oscar Nilsson

    Dagmara Socha, Archäologin an der Universität Warschau, hat die Gesichtsrekonstruktion von Juanita in Auftrag gegeben. Sie erforscht das Capacocha-Ritual schon seit Längerem – ein schwieriger Prozess, denn Informationen zu der Zeremonie stammen meist aus zweiter Hand. „Kein Europäer hat sie jemals mit eigenen Augen verfolgt“, sagt sie. Auf dem Ampato und anderen Gipfeln der Anden wurden jedoch die Überreste von mehr als einem Dutzend Inka-Kindern entdeckt, die im Rahmen einer Capacocha-Zeremonie geopfert wurden. Diese archäologischen Funde liefern bereits wichtige Hinweise zum Ritual.

    Unter anderem ist nun bekannt, dass der Opferungsprozess nicht immer gleich und der Ablauf wahrscheinlich davon abhängig war, welchem Gott das Opfer dargebracht wurde. Manche Kinder wurden lebendig begraben, andere erwürgt, manchen wurde das Herz aus dem Leib geschnitten. Das Leben von Juanita beendete ein einziger Schlag auf den Hinterkopf.

    Nachbildung aus dem 3D-Drucker

    Der Archäologe und Bildhauer Oscar Nilsson kennt den Schädel der Jungfrau aus dem Eis in- und auswendig. Monatelang hat er in seinem Studio in Stockholm an der Skulptur des 14-jährigen Mädchens gearbeitet. Von weitem betrachtet erscheint sie fast lebendig.

    Die auf natürliche Weise entstandenen Mumien gewähren Forschenden faszinierende Einblicke in die letzten Tage der Kinder. Socha und ihre Kolleg*innen haben toxikologische und forensische Analysen der Überreste durchgeführt und dabei festgestellt, dass den Kindern in den Wochen vor ihrem Tod Koka-Blätter, Ayahuasca und Alkohol verabreicht wurden – vermutlich um sie in einen entspannten Zustand zu versetzen.

    „Die Ergebnisse der toxikologischen Untersuchung haben uns sehr überrascht“, so Socha. „Capacocha war demnach mehr als ein brutales Ritual – den Inka war es wichtig, dass die Kinder sich dabei gut fühlten. Es war ihnen wichtig, dass sie guter Stimmung waren, wenn sie zu den Göttern gingen.“

    Die Höhenlage, psychogene Substanzen, der atemberaubende Ausblick, das Wissen, dass der Tod nah war – all diese Aspekte dürften laut Reinhard zu einer beeindruckenden Zeremonie beigetragen haben. „Das ganze Ereignis muss überwältigend gewesen sein.“

    Leben nach dem Tod

    Nilsson hat viele Stunden über das Mädchen nachgedacht, das vor 500 Jahren starb, und die Schlüsse, zu denen er gekommen ist, in seine Arbeit einfließen lassen. Das Ergebnis ist sowohl auf unheimliche Weise realistisch als auch sehr persönlich. „Sie war ein Mensch“, sagt er. „Sie war sich über Wochen bewusst, dass ihr Leben auf dem Gipfel des Ampato enden wird. Wir können nur hoffen, dass sie an ein Leben nach dem Tod geglaubt hat.“

    Obwohl er sie durch die Rekonstruktion in gewisser Weise wieder zum Leben erweckt hat, kann Nilsson nicht vergessen, wie Juanita gestorben ist. Es war ihm wichtig, dass seine Skulptur diesen Moment abbildet. „Sie wusste, was von ihr erwartet wird. Dass sie lächeln muss, um damit ihren Stolz auszudrücken“, sagt er. „Sie war stolz, ausgewählt worden zu sein. Aber sie hatte auch große, große Angst.“

    Eine längere Version dieses Artikels wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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