Schmuggler, Spione und Halunder: Was jeder über Helgoland wissen sollte

Der Name Helgoland ist den meisten ein Begriff – die bewegte Geschichte der ungewöhnlichsten Insel Deutschlands kennt jedoch kaum jemand. Zeit, dass sich das ändert.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 3. Nov. 2023, 08:43 MEZ
Postkarte: Hohe Felsen im Meer, davor ein Fischerboot.

Diese Postkarte aus der Kaiserzeit zeigt die Nordseite der Hauptinsel von Helgoland. Darauf zu erkennen ist auch die sogenannte Lange Anna.  Der 47 Meter hohe Brandungspfeiler ist das Wahrzeichen der Insel.

Foto von Library of Congress / Wikimedia Commons

48,5 Kilometer vom Festland entfernt, in der Deutschen Bucht der Nordsee, liegt Helgoland. Vieles an dem kleinen Eiland, das eigentlich aus zwei Inseln besteht, ist besonders bis kurios – auch seine Geschichte. 

Helgoland war Schmugglernest, Seebad für Revolutionäre und Weltkriegsfestung. Zweimal wurde die Insel komplett entvölkert und wieder besiedelt. Heute leben auf ihr rund 1.200 Menschen. Autos und Fahrräder sind verboten, was die Mobilität jedoch nicht nennenswert einschränkt, denn: Die Hauptinsel ist winzig. Auf einer Fläche von 1,2 Quadratkilometern verteilen sich Hafenanlage, Gewerbebetriebe, Wohnhäuser und touristische Unterkünfte auf Unter- und Oberland. Auf der Düne, der nicht einmal einen Quadratkilometer großen Nebeninsel, tummeln sich unterdessen Kegelrobben, Basstölpel und sogar Schwarzbrauenalbatrosse

Vom Meer erschaffen

Entstanden ist Helgoland während der Mittelsteinzeit, als durch die zurückgehende Eiszeit der Meeresspiegel anstieg. „Ursprünglich war dieses Gebiet Festland und der Sandsteinhügel, auf dem die Helgoländer sitzen, war ein kleiner Berg“, sagt Dr. Jürgen Fitschen, Direktor des Museum Helgoland. Die Landmasse, die damals nicht vom Meer verschluckt wurde, war um einiges größer als das heutige Inselpaar. Doch durch die erodierenden Kräfte der Nordsee und den Abbau von Rohstoffen verlor sie im Laufe der Zeit immer mehr an Fläche. Die Silvestersturmflut von 1720 auf 1721 trennte schließlich Hauptinsel und Düne voneinander. Zwei Jahre später begann man mit dem Bau eines Bollwerks zum Schutz des Unterlands.

Das Gemälde Sturmläuten auf Helgoland des deutschen Malers Rudolf Jordan zeigt die Kräfte der Natur, denen die Insel ausgesetzt ist. Im Laufe der Zeit hat Helgoland einen großen Teil seiner Fläche einbüßen müssen. Im 18. Jahrhundert trennte eine Sturmflut Hauptinsel und Düne voneinander. 

Foto von Rudolf Jordan, 1810-1887 / Albert-König-Museum / Wikimedia Commons

Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts unterstand Helgoland – mit kurzer Unterbrechung, in der es Landschaft des Herzogtums Schleswig-Holstein-Gottorf war – der dänischen Krone. Doch „in Hinsicht auf Helgoland geht es schlicht um die Frage: Wer hat einen Zettel, auf dem steht, dass ihm die Insel gehört? Es bedeutet de facto nichts“, sagt Fitschen. Denn die Eigentümer zeigten kaum Präsenz. Die Helgoländer verwalteten sich selbst, machten ihre eigenen Gesetze und sprachen Halunder, ihre eigene Sprache. „Staatliche Gewalt oder Herrschaft wie auf dem Festland durchzusetzen – das hat es auf Helgoland im Grunde bis zur Ankunft der Deutschen im Jahr 1890 nicht gegeben.“

Die meisten, die dauerhaft auf Helgoland wohnten, waren Fischer, die ab dem Mittelalter durch Lotsendienste ein zusätzliches Einkommen hatten. In der Deutschen Bucht, deren einzige Insel Helgoland ist, herrschte schon immer reger Schiffsverkehr. Aufgrund seiner vielen Untiefen und der Gezeiten war das Gebiet jedoch schwer zu navigieren. „Darum gab es immer Kundige, die Schiffe von Helgoland aus in die Weser oder die Elbe geführt haben“, sagt Fitschen. „In der Neuzeit, als der Handel zunahm, war der Lotsendienst ein ganz wichtiger Beruf. Jeder, der ihn ausübte, hatte ein gutes Auskommen.“

Schmuggelnest: Die Briten und die Kontinentalsperre

Im Jahr 1807, im Zuge der Napoleonischen Kriege, eroberten die Briten Helgoland. Für die Inselbewohner war dies ein wahrer Glücksfall: Sie durften sich weiter selbst verwalten und ihnen wurde Steuerfreiheit und die Befreiung vom Dienst in der britischen Kriegsmarine zugesichert. Dieses Zugeständnis war für die neuen Besitzer im Verhältnis dazu, wie sie von der Insel profitieren konnten, klein. Denn weil Napoleon im Jahr 1806 eine Kontinentalsperre verhängt hatte, konnten sie keine Waren mehr auf das europäische Festland bringen. Als neue Kronkolonie des Vereinigten Königreichs war das sogenannte Heligoland durch seine Nähe zur deutschen Küste der perfekte Umschlagplatz für verbotene Güter – und mauserte sich zu einer regelrechten Hochburg des Schmuggels.

BELIEBT

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    Helgoländerinnen in ihrer typischen Tracht, ca. 1890. 

    Foto von Library of Congress / Wikimedia Commons

    Zwischen 1807 und 1813 stieg die Zahl der Händler, die auf Helgoland Geschäfte machten, von vier auf 140. Hunderte Schiffe fuhren die Insel – nun sozusagen ein Überseehafen – täglich an. In den Lagerhallen stapelten sich Waren, die auf dem Festland verkauft werden sollten. An dieser Stelle kamen die Helgoländer Fischer ins Spiel. „Jeder Fischer war auch Lotse und wusste, wie man aufs Festland kommt, ohne erwischt zu werden“, sagt Fitschen. „Die Fischer konnten Tipps geben – und wenn jemand nicht selbst schmuggeln wollte, haben sie es erledigt und sich dafür bezahlen lassen.“

    Doch Helgoland war nicht nur ein Drehkreuz für Waren, sondern auch für Informationen. Die Briten nutzten die Insel als Schleuse für Spione, Widerstandskämpfer, Waffen und Propagandaschriften. Außerdem diente sie als Auffanglager für Flüchtende vom Festland. Die Helgoländer verdienten gut am Schmuggel und der Unterbringung von Händlern und Reisenden. Wirtschaftlich ging es der Insel prächtig und es hätte so weitergehen können – wäre das Geschäftsmodell nicht mit dem Ende der Kontinentalsperre im Jahr 1814 zusammengebrochen.

    Seebad für Revolutionäre

    Plötzlich stand man vor dem Nichts. Um den ökonomischen Niedergang aufzuhalten, mussten die Helgoländer sich umorientieren – und nutzten den in den vergangenen 15 Jahren angehäuften Reichtum als Startkapital für ein Seebad. „Als sie dafür die Genehmigung bekommen hatten, steckten sie ihr Vermögen in eine Aktiengesellschaft und begannen, systematisch, Voraussetzungen für einen längeren Aufenthalt von Badegästen zu schaffen“, sagt Fitschen. Einige Jahre später war Helgoland in aller Munde. Gäste reisten sogar aus Wien und der Schweiz an, wo in Tageszeitungen Werbung für die Insel gemacht wurde.

    Links: Oben:

    Der Fahrstuhl zwischen Unter- und Oberland wurde 1885 in Betrieb genommen. Sportliche Seebadgäste konnten alternativ die Treppe nehmen.

    Rechts: Unten:

    Das Konversationshaus war ein beliebter Treffpunkt für Tagesgäste.

    bilder von Library of Congress / Wikimedia Commons

    Das Seebad zog eine spezielle Klientel an. Wurden andere Seebäder an Nord- und Ostsee vor allem vom Adel frequentiert, stand Helgoland insbesondere bei Intellektuellen, Künstlern und der politischen Opposition hoch im Kurs, die das große Maß an persönlicher Freiheit auf der Insel schätzten. „Helgoland ist immer auch ein Ort für die gewesen, die mit den politischen Verhältnissen nicht einverstanden waren“, sagt Fitschen. „Die ganze Welt des Vormärzes ist auf Helgoland zu Gast gewesen, weil man dort vor den Spitzeln und der polizeilichen Gewalt seine Ruhe hatte.“

    Keine Polizei, viele Freiheiten

    Möglich machte dies das Fehlen jeglicher Staatsgewalt. Zwar schickten die Briten Gouverneure auf die Insel, doch diese hatten Fitschen zufolge wenig zu sagen. „Natürlich hatten die ihre Aufgaben und sollten das Recht des Königs von England durchsetzen“, sagt er. „Aber das funktionierte nicht, denn wo es keine staatliche Zwangsgewalt gibt – zum Beispiel eine Polizei – funktioniert die Durchsetzung von Regeln, die woanders gemacht werden, nicht.“

    Unter den Revolutionären, die in dieser Zeit mit dem Dampfschiff nach Helgoland kamen, um sich zu erholen, politische Reden zu schwingen und vor allem viel Alkohol zu konsumieren, war auch der deutsche Dichter August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Im Sommer 1841 kam er für mehrere Monate auf die Insel, um sich dem Zugriff des Königreichs von Hannover zu entziehen. Nach einer feuchtfröhlichen Nacht mit 30 Gleichgesinnten dichtete er am 25. August in der Tradition eines rheinischen Trinklieds das Lied der Deutschen, dessen Text später in Teilen zur deutschen Nationalhymne wurde.

    Im Jahr 1834 malte Rudolf Jordan den Heiratsantrag auf Helgoland. Die Insel war zu jener Zeit ein beliebtes Reiseziel für Heiratswillige. 

    Foto von Rudolf Jordan 1810-1887 / Alte Nationalgalerie / Wikimedia Commons

    Helgoland war zu jener Zeit aber auch ein beliebtes Reiseziel für Verliebte, die sich schnell und unkompliziert das Ja-Wort geben wollten: Die Insel war sozusagen das Las Vegas Nordeuropas. „Seit England formal Herr auf der Insel war und mit Beginn der Seebäderzeit herrschte ein sehr liberales Eheschließungsrecht“, so Fitschen. „Wer unbedingt jemanden heiraten wollte, ist nach Helgoland gefahren.“

    Eine Seefestung für den deutschen Kaiser

    „Es gab immer starke Parteiungen unter den Helgoländern, die die britische Zeit als glücklichste Zeit betrachtet haben“, sagt Fitschen. Doch sie ging vorbei, als das Vereinigte Königreich die Insel im Rahmen des sogenannten Helgoland-Sansibar-Vertrags am 1. Juli 1890 an das Deutsche Kaiserreich abgab. Die Regelung der Steuerfreiheit, die Beibehaltung bestimmter, auf Helgoland geltender Rechtsformen und Ausnahmen von der Wehrpflicht waren durch den Vertrag zwar abgesichert, doch sonst änderte sich für die Inselbewohner alles.

    Links: Oben:

    Helgoländer Fischer in der Kaiserzeit.

    Rechts: Unten:

    Posten an der Stützmauer während des Ersten Weltkriegs. Zwischen Juli 1914 und September 1918 war Helgoland ausschließlich von Soldaten bewohnt.

    bilder von National Archives and Records Administration / Wikimedia Commons, Nationaal Archief / Wikimedia Commons

    „Man muss sich das ziemlich drastisch vorstellen“, sagt Fitschen. „Es hat keine drei oder vier Wochen gedauert, da kamen die ersten preußischen Beamten aus Berlin nach Helgoland und fingen an, Grundstücke von den Bewohnern zu kaufen – sicherlich auch immer mit der Drohung: Wenn ihr nicht verkauft, wird enteignet.“ Ziel war es, aus der Insel eine Festung zu machen und es dauerte nicht lang, bis Kanonenstellungen errichtet und der Felsen mit Bunker- und Stollensystemen ausgehöhlt wurde. 

    Gäste kamen nicht mehr – und den Helgoländern selbst wurde mit Argwohn begegnet. Neben dem Halunder sprachen sie Englisch. Viele Helgoländer hatten englische Namen, so wie etwa der Schriftsteller James Krüss, einer der berühmten Söhne der Insel. „Für die Preußen in Berlin waren sie Engländer – und gegen die sollte sich die Inselfestung richten“, so Fitschen.

    Diese Einstellung führte letztlich dazu, dass mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Helgoländer auf traumatische Art und Weise von ihrer Insel vertrieben wurden. Am 31. Juli 1914 wurden ihnen nur wenige Stunden gegeben, um einen Koffer zu packen und eines der wartenden Schiffe zu besteigen, das sie aufs Festland bringen sollte. Die Schlüssel zu ihren Häusern mussten sie in den Türen stecken lassen, damit die auf der Insel stationierten Soldaten darin wohnen konnten. Erst ab September 1918 konnten die Helgoländer zurückkehren. Ihre Häuser fanden sie verwüstet vor.

    Zweiter Weltkrieg: Bomben, Sprengung, Evakuierung

    „In den Zwanzigerjahren mussten sie also wieder bei Null anfangen“, sagt Fitschen. Der Seebadbetrieb wurde erneut aufgenommen. Gäste kamen vor allem wegen der zollfreien Einkaufsmöglichkeiten. Zwölf Jahre sei man, so Fitschen, auf einem guten Weg gewesen – dann aber kamen die Nationalsozialisten und der Zweite Weltkrieg.

    Links: Oben:

    Leben auf Helgoland im Jahr 1932: Während auf der Kaiserstraße flaniert wird...

    Rechts: Unten:

    ...besuchen Fischer mit Kindern aus der Großstadt die Mole.

    bilder von Leo Wehrli 1870–1954 / ETH Library / Wikimedia Commons, Deutsches Bundesarchiv / Wikimedia Commons

    Am 18. und 19. April 1945 warfen 1.000 Flugzeuge der Royal Air Force 7.000 Bomben über Helgoland ab. Die meisten Bewohner überlebten in den Luftschutzbunkern – doch ihre Insel war nicht mehr bewohnbar. Nur wenige Jahre nach ihrer Rückkehr mussten die Helgoländer ihre Insel verlassen. Am 11. Mai, im Anschluss an die Kapitulation Deutschlands, besetzten die Briten das menschenleere Helgoland und zerstörten am 18. April 1947 im Rahmen der bis 1985 größten nichtnuklearen Sprengung der Geschichte die Bunkeranlagen. Danach nutzte die Royal Airforce die Insel als Bombenabwurfplatz.

    Einfach nur nach Hause

    Mehrere Initiativen setzten sich in den folgenden Jahren dafür ein, dass die Vertriebenen auf ihre Insel zurückkehren dürfen. Im Dezember 1950 wurde Helgoland zweimal von Studentengruppen besetzt, die dort die deutsche, die Helgoländer und die Flagge der Europäischen Bewegung hissten. Die Aktionen bekamen in nationalen und internationalen Medien große Aufmerksamkeit. Im Jahr 1952 – am 1. März, der seitdem auf Helgoland Feiertag ist – wurde die Insel schließlich offiziell an Deutschland zurückgegeben.

    Helgoland am 18. April 1945. Nach der Bombardierung durch die Alliierten war die Insel nicht mehr bewohnbar.

    Foto von Wikimedia Commons

    „Dass irgendwelche Studenten aus Heidelberg auf die Insel kommen und Flaggen hissen, hat mit Sicherheit nicht dazu geführt, dass es so gekommen ist“, sagt Fitschen. „Da sind auf europäischer Ebene Absprachen getroffen worden und irgendwann war es soweit.“ Was den Helgoländern tatsächlich die Heimkehr ermöglicht hat, dürfte für sie aber zweitrangig gewesen sein. „Die wollten das Leben zurück, das sie mal geführt hatten. Das ist völlig unpolitisch – die wollten einfach nur nach Hause.“

    Duty-free und raue Natur

    Der Wiederaufbau auf Helgoland galt im Jahr 1967 als abgeschlossen. Seitdem sind Fremdenverkehr und Kulturbetrieb wieder die wichtigsten Wirtschaftszweige auf der Insel. Bis in die Siebzigerjahre stiegen die Gästezahlen in dem Nordseeheilbad auf seitdem nicht mehr erreichte Zahlen von rund 800.00 Gästen pro Jahr – vor allem getrieben von der noch immer bestehenden Zollfreiheit, die den Kauf von Alkohol auf der Insel vergünstigte und ihr den unschönen Beinamen „Fuselfelsen“ einbrachte.

    Ein Image, das Helgoland keinesfalls gerecht wird, findet Fitschen. „Für die Welt an der Nord- und Ostseeküste kann man sagen: Es gibt keinen Ort, an dem man Natur und die Gewalt der Natur, die See, das Wetter, so unmittelbar erfahren kann, wie auf Helgoland“, sagt er. „Die Insel hat einen spröden Charme, aber der hat auch etwas Schönes.“

    Das wissen auch die echten Helgoländer. Viele Familien leben seit Generationen auf der Insel und waren bei ihren Höhen und Tiefen dabei. Manche von ihnen verlassen ihre 1,2 Quadratkilometer Heimat nur im Notfall – etwa für Arztbesuche auf dem Festland – oder auch jahrelang gar nicht. Wer ihre Geschichte kennt, kann sich denken, warum.

     

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