Protest gegen Wohnungsnot: Die deutsche Geschichte der Hausbesetzungen

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 25. Apr. 2024, 12:33 MESZ
Eine Gruppe Demonstrierender mit Bannern.

Hausbesetzer aus Ost- und Westberlin demonstrieren am 8. August 1990 am Frankfurter Tor in Berlin, um die Räumung besetzter Häsuer in den Stadtteilen Prenzaluer Berg und Friedrichshain zu verhindern und auf eine drohende Wohnraumkatastrophe im Osten der Stadt aufmerksam zu machen.

Foto von Bernd Settnik / Das Bundesarchiv / Wikimedia Commons

Das Recht auf Wohnen existiert. Laut Artikel 11 Absatz 1 des UN-Sozialpaktes steht jedem Menschen ein angemessener Lebensstandard für sich und seine Familie zu – und das schließt sicheren und bezahlbaren Wohnraum mit ein. Die Realität sieht aber oft, auch in Deutschland, anders aus: explodierende Mieten, lange Schlangen bei Wohnungsbesichtigungen, Verdrängung bestimmter Bevölkerungsgruppen aus den begehrten und darum teuren Innenstädten in die Randgebiete.

„Es fehlt bezahlbarer Wohnraum“, sagt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK. „Das ist eines der dringendsten sozialen Probleme momentan. Wenn nicht endlich gehandelt wird, gefährdet das den sozialen Frieden.“ Dass Bentele mit dieser Einschätzung richtig liegen könnte, zeigt ein Blick zurück in die Vergangenheit.

Spekulanten sorgen für Wohnungsnot in der BRD

Wohnungsnot ist in Deutschland kein neues Phänomen. In den Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs sind viele Menschen in den Groß- und Universitätsstädten der BRD verzweifelt auf der Suche nach einem adäquaten Dach über dem Kopf. Sie stoßen dabei auf eine seltsam widersprüchliche Situation: Der Wohnraumknappheit steht der zunehmende Leerstand von Wohnungen gegenüber. In den Altbaukiezen werden immer mehr Häuser als unbewohnbar eingestuft und entmietet. Statt zu sanieren, lassen die Eigentümer*innen sie lieber verfallen. Ihr Motiv: Geld.

Denn mit der Vermietung von Wohnraum – vor allem in Altbauten – lässt sich nicht viel verdienen. Büro- und Geschäftsräume sind weitaus lukrativer. Abriss und Neubau werden aber nur dann genehmigt, wenn der Verfall des Hauses nachweislich so weit fortgeschritten ist, dass es nicht mehr gerettet werden kann. Um diesen Zustand schneller herbeizuführen, werden einige Haus- und Grundbesitzer*innen kreativ: Sie decken heimlich Dächer ab und zerschlagen Fenster, damit die Feuchtigkeit schneller ins Mauerwerk zieht, reißen Rohre aus den Wänden und manchmal brennt es aus scheinbar unerklärlichen Gründen.

Im Jahr 1968 gibt es in der BRD etwa 185.000 solcher Spekulationsobjekte. In Westberlin, wo die Mietpreisbindung für Altbauten deren Vermietung besonders unattraktiv macht, verschwinden unter diesen Umständen jährlich tausende Wohnungen vom Markt. Ersatz für den Wohnraumverlust in den Innenstädten gibt es nicht – und das ist ganz im Sinne der damaligen Stadtplanung. Die Politik wünscht sich „autogerechte“ Städte.

Ganze ehemalige Wohnviertel verändern ihr Gesicht: Statt neuem Wohnraum entstehen Geschäfte und Büros, Straßen werden verbreitert. Innerstädtische Mieten steigen aufgrund des sinkenden Angebots ins Unbezahlbare und vor allem einkommensschwache Mieter*innen werden in die Trabantensiedlungen in den Randbezirken verdrängt.

Frankfurt-Westend: Deutschlands erste Hausbesetzung

Vielerorts werden Bürgerinitiativen gegründet, die auf diese Missstände aufmerksam machen und die systematische Entmietung und Zerstörung aufhalten wollen. Im Frankfurter Westend gründet sich Ende der Sechzigerjahre die Aktionsgemeinschaft Westend (AGW). Im Jahr 1970 stehen in dem Stadtteil bereits hunderte Gebäude leer und verfallen, während ihre Besitzer*innen darauf warten, sie abreißen und im Rahmen der „City-Erweiterung“ an ihrer Stelle Bürotürme bauen zu können. Die Bewohner*innen des Westends gehen für den Erhalt ihres Viertels auf die Straße, doch der friedliche Protest zeigt keine Wirkung. So kommt es, dass am 19. September 1970 eine Gruppe von Studenten zu einem drastischen Mittel greift, das nie zuvor in der deutschen Geschichte genutzt wurde: der Hausbesetzung.

Im Mittelpunkt dieser Premiere steht ein Jugendstilbau in der Eppsteiner Straße 47. Für den Abriss und Neubau eines Hochhauses an seiner Stelle hatte die Stadtverwaltung grünes Licht gegeben. Fünf der zehn Wohnungen in dem Haus waren bereits entmietet und standen leer. Die Hausbesetzenden, unter denen auch Bewohnende des Hauses waren, brechen die Wohnungstüren auf und überzeugen kinderreiche Familien, ausländische und deutsche Arbeiter*innen sowie Student*innen, die von Obdachlosigkeit bedroht sind, in die Räumlichkeiten einzuziehen.

Damit hat der Frankfurter Häuserkampf begonnen, in dessen Zuge zwischen 1970 und 1974 mindestens 24 Häuser besetzt werden. 1971 kommt es während der versuchten Räumung eines Hauses im Grüneburgweg durch einen sogenannten „Putztrupp“ zur ersten großen Straßenschlacht zwischen Polizei und Hausbesetzenden – mit dabei ist auch der spätere Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer.

BELIEBT

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    Hausbesetzer in Berlin Kreuzberg im Jahr 1981.

    Foto von Tom Ordelman / Wikimedia Commons

    Berlin und die Linie der Vernunft

    Die Ereignisse in Frankfurt werden schnell zum Vorbild für Aktionen in anderen Städten, die ähnliche Probleme haben. In Westberlin werden seit den Sechzigerjahren im Rahmen der sogenannten Flächensanierung ebenfalls ganze Kieze entmietet und Altbauten abgerissen.

    Im Dezember 1971 besetzt ein Kollektiv das erste Haus in Berlin: ein ehemaliges Schwesternwohnheim im Kreuzberger Bethanien-Krankenhaus. Die Besetzenden taufen es Georg-von-Rauch-Haus – benannt nach einem wenige Tage zuvor bei einem Schusswechsel mit der Polizei zu Tode gekommenen Anarchisten. Der an der Besetzung beteiligte Musiker und Sänger der Band Ton Steine Scherben, Rio Reiser, schreibt im Jahr 1972 den Rauchhaus-Song, der zu einer Art Hymne der Hausbesetzerszene wird.

    Während es in Frankfurt-Westend Bewohner*innen des Viertels waren, die die erste Hausbesetzung initiierten, setzt sich die Szene in Berlin aus Student*innen, Alternativen, Punks, westdeutschen Wehrflüchtigen und Aussteiger*innen zusammen, denen es nicht nur um den Protest gegen Immobilienspekulationen geht. Für sie sind die besetzten Häuser soziale Laboratorien – Freiräume, in denen sie neue Formen des Zusammenlebens ausprobieren können. Doch dieser Gedanke und das eigentlich in der Alternativbewegung der Siebziger geltende Prinzip der Gewaltfreiheit werden bald über den Haufen geworfen.

    Denn auch in Berlin wird es handgreiflich. Bei der „Schlacht am Fraenkelufer“ liefern sich Polizei und Besetzende infolge einer versuchten Räumung einen brutalen Straßenkampf. Im Anschluss daran kommt es fast täglich zu neuen Hausbesetzungen – im Sommer 1981 sind es bereits über 150 Gebäude. Diese Entwicklung wird erst ausgebremst, nachdem der Häuserkampf sein erstes Todesopfer gefordert hat: Im Sommer 1981 wird der 18-jährige Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay in Berlin von Polizisten mutmaßlich auf die Straße gedrängt und dort von einem Bus überfahren.

    Bereits im Frühjahr 1981 führt der Berliner Senat als Reaktion auf die explosionsartige Zunahme von Hausbesetzungen die Berliner Linie ein. Besetzte Häuser müssen demnach innerhalb von 24 Stunden nach Bekanntwerden der Besetzung geräumt werden. Danach ist eine Räumung nur möglich, wenn Hausbesitzer*innen Strafanzeige stellen und zusichern, das betreffende Haus zügig zu sanieren.

    Doch eine Änderung der Wohnpolitik und Verbesserung der Lage auf dem Wohnungsmarkt wird dadurch nicht erreicht: Anfang der Achtzigerjahre sind in Deutschland über eine Million Menschen auf der Suche nach einer Wohnung, während weiterhin Tausende Häuser aus Spekulationsgründen leer stehen.

    Solidarität mit der Hafenstraße

    Auch in Hamburg sieht die Lage nicht rosig aus. In der Hafenstraße lässt das kommunale Wohnungsunternehmen SAGA mehrere Häuser verfallen, um sie zugunsten von Büropalästen abreißen zu können. Ab dem Herbst 1981 werden acht Gebäude „schleichend“ besetzt. In den folgenden Jahren kommt es immer wieder zu Wohnungsdurchsuchungen, Festnahmen Räumungsversuchen, denn um zu vermeiden, dass Hausbesetzungen in Hamburg Berliner Ausmaße annehmen, greift der Senat hart durch.

    Hausbesetzungen sind illegal. Zum einen machen sich Besetzende des Hausfriedensbruchs strafbar, zum anderen können andere Tatbestände wie zum Beispiel Diebstahl rechtlich relevant werden. Die Strafen reichen von Bußgeldern und Platzverweisen bis hin zu Geld- und Freiheitsstrafen von bis zu einem Jahr.

    Staat und Staatsgewalt und konservative Stimmen in der Gesellschaft betrachten die Besetzenden als Chaoten und Querulanten. Von überraschend großen Teilen der Bevölkerung werden sie aber anders wahrgenommen. Auch ,Normalbürger*innen‘ sind sich der Wohnraumknappheit bewusst, haben Angst vor Entmietungen und Luxussanierungen und kein Verständnis dafür, dass Häuser aus Spekulationsgründen leer stehen. Zudem wird das Vorgehen der Polizei oft als unverhältnismäßig brutal aufgefasst. Meinungsumfragen zu jener Zeit ergeben, dass rund 40 Prozent der Befragten Hausbesetzungen akzeptieren.

    Demonstration gegen die Räumung der Hafenstraße am 20. Dezember 1986 in Hamburg-St. Georg.

    Foto von Pincerno / Wikimedia Commons

    Dass die Hausbesetzer an den Gebäuden Reparaturen durchführen, um sie wieder bewohnbar zu machen – im Jahr 1980 belegt der Begriff „Instandsbesetzer“-Bewegung bei der Wahl zum Wort des Jahres den dritten Platz – weckt Sympathien. An einer Demonstration im Dezember 1986 in Hamburg, die den Erhalt der Hafenstraße fordert, nehmen 12.000 Menschen teil – darunter auch viele, die nie selbst ein Haus besetzen würden. Im Frankfurter Westend gibt es aus der Nachbarschaft Applaus, Geld- und Möbelspenden für die Besetzenden. Bundesweite Unterstützung kommt außerdem von Jugend- und Studentenorganisationen, der Kirche, Gewerkschaften, Mietvereinen und Prominenten – und auch die Presse berichtet größtenteils positiv.

    Sinneswandel in der Politik

    Im November 1987 spitzt sich die Lage in Hamburg zu. Mit Stacheldraht und Barrikaden haben die knapp 100 Hausbesetzenden die Hafenstraße in eine Festung verwandelt. 10.000 Polizist*innen stehen bereit, um die Räumung durchzusetzen. Bevor es Verletzte und möglicherweise Tote geben kann, stellt der damalige Erste Bürgermeister, Klaus von Dohnanyi, den Besetzenden einen Nutzungsvertrag in Aussicht – unter der Bedingung, dass die Barrikaden abgebaut werden.

    „Dann wird nicht geräumt“, sagt er. „Dafür verpfände ich mein politisches Wort, dafür werde ich mein Amt als Bürgermeister in die Waagschale werfen.“ Tatsächlich kommt es zu einer Einigung. Heute ist die Hafenstraße ein legalisiertes Wohnprojekt.

    Auch in Berlin ändert sich der Umgang mit Hausbesetzungen. Statt die Besetzer zu bekämpfen, will der Senat mit ihnen verhandeln. Bis 1984 werden zwar noch viele Häuser geräumt, eine ganze Reihe von Besetzungen wird jedoch durch Duldungs-, Nutz- oder Mietverträge legalisiert oder in Genossenschaften überführt. Viele Altbaukieze, die zum Abriss vorgesehen waren, werden saniert – mit Fördergeldern der Stadt.

    Im Frankfurter Westend werden ebenfalls viele historische Bauten im Zuge von Hausbesetzungen gerettet. Bereits im Jahr 1970 erwirkt die AGW eine Veränderungssperre für das Viertel, zwei Jahre später erlässt das Land Hessen eine Verordnung gegen Wohnraumzweckentfremdung. 

    Vom Hausbesetzer zum Hausbesitzer

    Viele Hausbesetzende von damals leben heute noch in den Häusern. Legal und meist als Teil eines selbstverwalteten Wohnprojekts oder einer Genossenschaft. Manche waren sogar in der Lage, das ehemals besetzte Haus zu kaufen. Auch wenn dies als Erfolg gewertet werden kann und viele Altbaukieze vor der Zerstörung bewahrt hat, ist das Problem, dass damals die Bewegung in Gang gebracht hat, heute so relevant wie damals: Viele Menschen finden in der Stadt keine Wohnung oder können sich keine leisten.

    Die ehemals besetzten Häuser der Hafenstraße in Hamburg, hier im Oktober 2008, sind heute legale Wohnprojekte.

    Foto von Dirk Ingo Franke / Wikimedia Commons

    Anlass für Hausbesetzungen gäbe es also nach wie vor. Trotzdem sind sie – nach einem kurzen Intermezzo in Ostberlin im Anschluss an den Mauerfall im Jahr 1989 – in den folgenden Jahrzehnten selten geworden. Neubesetzungen haben heute meist nur dann eine Chance, wenn sie im Stillen stattfinden, sodass niemand etwas davon mitbekommt. Eine neue Besetzer*innenszene kann sich so nicht bilden. Außerdem fehlt in den innerstädtischen Räumen meist eine wichtige Voraussetzung für Hausbesetzungen: der Leerstand.

    Doch wo sich Lücken auftun, werden sie genutzt. Im Jahr 2009 besetzt ein Kollektiv aus Aktivist*innen und Künstler*innen erfolgreich das Hamburger Gängeviertel. Das ehemals besetzte Alte Sportsamt in Bremen konnte im Jahr 2017 einen Leihvertrag mit der Stadt schließen. Und in Frankfurt am Main – der Stadt, in der alles begann – nimmt die Zahl der Hausbesetzungen seit einiger Zeit wieder zu.

    Laut einer Umfrage des Instituts Civey im Jahr 2018 hält jeder dritte Teilnehmende Hausbesetzungen für ein vertretbares Protestmittel. Die Sympathiewerte sind heute also vergleichbar mit denen in den Achtzigerjahren, zur Hochzeit der Bewegung. Ob es eine neue Welle von Hausbesetzungen geben wird, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch: Um die Antwort auf die Frage, wem die Stadt gehört, wird über fünfzig Jahre nach der ersten Hausbesetzung noch immer gerungen.

    Themenmonat im April: our HOME auf National Geographic

    Wir haben nur eine Erde. Zeit, unser Zuhause wertzuschätzen und noch mehr zu schützen: Unter dem Motto our HOME stellt National Geographic zum Earth Month im April 2024 besondere Geschichten und Projekte aus Deutschland vor – rund um Naturschutz sowie kulturelles Erbe und biologische Vielfalt. Weitere spannende Einblicke gibt es hier.

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