Nach der Europawahl: So kann man sich politisch engagieren
Europa erlebt einen Rechtsruck – nicht erst seit der letzten Wahl. Wer nicht nur auf Social Media laut werden, sondern sich aktiv engagieren will, hat verschiedene Möglichkeiten. Wie kann man sich gegen Rechtsextremismus und für die Demokratie einsetzen?
Wählen gehen, demonstrieren, Instagram-Beiträge teilen: Was kann man noch tun, um die Demokratie zu verteidigen?
Die Europawahl hat gezeigt, wie es aktuell politisch in Deutschland aussieht – für viele Menschen beängstigend: Die in mehreren Bundesländern vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte Partei AfD wurde mit 15,9 Prozent aller Wählerstimmen zweitstärkste Kraft nach der CDU. Es braucht offenbar mehr als Millionen von Menschen auf den Straßen und geteilte Beiträge auf sozialen Netzwerken, um sich für die Demokratie und gegen Rechtsextremisten stark zu machen.
Demokratie ist nicht selbstverständlich
Immerhin: 64,8 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland haben ihre Stimme bei dieser Europawahl abgegeben – Rekord seit der Wiedervereinigung. Und über 80 Prozent haben ihr Kreuz bei Parteien gemacht, die nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Dennoch ist die Demokratie, in der wir seit Jahrzehnten in Europa leben, weder selbstverständlich noch in Stein gemeißelt.
„Um die Demokratie zu verteidigen und mit Leben zu füllen, reicht es leider nicht, alle paar Jahre sein Kreuz zu machen“, sagt Lorenz Blumenthaler von der Amadeu Antonio Stiftung, die sich für die Stärkung einer demokratischen Zivilgesellschaft einsetzt. „Selbstverständlich ist es manchmal zeitraubend und unbequem, aber man muss sich demokratisch organisieren und engagieren.“
Sich informieren, positionieren und widersprechen
Hilfreich ist es dabei zunächst, rechtsextreme Symbole, Sprache, Anfeindungen und Diskriminierung zu erkennen, klar zu benennen und sich dagegen zu positionieren. „Rechtextreme Positionen sollte man konsequent ächten“, sagt Blumenthaler. Das Wahlergebnis zeige, dass wir rechtsextreme, antisemitische und rassistische Positionen viel zu lange stehen gelassen und keinen Widerspruch geleistet hätten. „Wer klarmacht, dass rechtsextreme Hetze nicht geduldet wird, kann ein Zeichen dagegensetzen – und den Raum wieder für die Demokratie gewinnen“, so Blumenthaler.
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Das kann auf der Straße im Gespräch mit den Nachbarn genauso passieren wie auf Demonstrationen oder in sozialen Netzwerken. Gerade in den Kommentarspalten von Facebook, X und Co. braucht es Gegenrede – nicht unbedingt, um eine rechtsextreme Person umzustimmen – das funktioniert in den wenigsten Fällen –, sondern eher für die schweigende Mehrheit, die rechtsextreme Inhalte in den Feed gespült bekommt. „Indem man die Inhalte einordnet und Gegenrede leistet, kann man mitlesende Dritte überzeugen oder ihnen Argumente an die Hand geben“, sagt Blumenthaler.
Um seine Argumente und Handlungsoptionen auszuweiten, kann man sich zum Beispiel mit der Handreichung „Demokratie verteidigen“ von der Amadeu Antonio Stiftung vertraut machen oder einen Argumentationsworkshop besuchen, in dem man lernt, möglichst faktenbasiert Widerspruch zu leisten.
Überhaupt ist Wissen gut: „Um Solidarität zeigen zu können, muss man diskriminierendes oder rechtsextremes Handeln erst einmal erkennen“, sagt Talia Hoch. Die Historikerin leitet Workshops am ZeitZentrum Zivilcourage in Hannover, einem außerschulischen Lernort zur NS-Geschichte der Stadtgesellschaft Hannovers, der sich unter anderem bei Schüler*innen und Lehrkräften für mehr Mut zu demokratischem Handeln einsetzt. Gute Anlaufstellen für Informationen sind zum Beispiel die Landeszentralen für politische Bildung oder die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Für Jugendliche und junge Erwachsene gibt es auch Instagram- und TikTok-Kanäle, die Aufklärungsarbeit leisten – zum Beispiel gegen Geschichtsrevisionismus von der Journalistin Susanne Siegert alias keine.erinnerungskultur.
Mit Betroffenen solidarisieren
Blumenthaler und Hoch betonen beide, wie wichtig es ist, sich mit Betroffenen von Diskriminierung zu solidarisieren: ihnen zuzuhören, ihre Ängste und Kritik ernstzunehmen und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Damit kann man bereits in seinem nächsten Umfeld anfangen – zum Beispiel in der Nachbarschaft oder in der eigenen Klasse.
Ein respektvoller Umgang mit Betroffenen und eine konstruktive Auseinandersetzung damit, welche (Sprach-)Handlungen diskriminierend sein können, befähigt zum solidarischen Handeln. Es geht dabei auch darum, sich selbst und sein eigenes Verhalten fortlaufend zu reflektieren und sich für verletzende Äußerungen oder Handlungen bei Betroffenen zu entschuldigen. „Solche scheinbar kleinen Gesten sind für Betroffene oftmals ganz groß“, sagt Hoch.
Haltung zeigen
“Dass Lehrer*innen immer neutral sein müssen, ist faktisch falsch.”
Gerade, wer einen Beruf mit Vorbildfunktion ausübt, ist gefragt – allen voran Lehrkräfte. „Dass Lehrer*innen immer neutral sein müssen, ist faktisch falsch“, sagt Hoch. „Sie sind im Staatsdienst und müssen sich damit zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen. Deswegen ist es in dieser Berufsgruppe umso wichtiger, Haltung zu zeigen.“
Das fängt bei der Sprache an: Diskriminierende Aussagen und Sprache können von Lehrer*innen benannt und als solche eingeordnet werden. „Die Schüler*innen sollten dabei nicht bewertet werden, damit keine Abwehrreaktion entsteht.“ Dasselbe gilt für rassistisches, antisemitisches, sexistisches oder anderweitig diskriminierendes Verhalten. „Es ist wichtig, als Lehrkraft solche Vorfälle zu thematisieren und aufzuzeigen, warum solches Handeln problematisch ist.“
Diskriminierungsvorfälle an Schulen können unterdessen anonym gemeldet werden, von von Schüler*innen genau wie von Eltern. Das geht zum Beispiel beim RIAS e.V. Wenn jemand beispielsweise ein Hakenkreuz in den Klassenraum malt, kann man den antisemitischen Vorfall auf der Plattform melden. Eine weitere Meldestelle ist BV NeMO-Projekt „wir sind viele – gegen rassismus und diskriminierung“.
Sich zusammenschließen
Wer noch einen Schritt weiter gehen will, hat neben dem Besuch oder der Organisation von Demos einige Möglichkeiten, um eine demokratische Gegenmacht zum stärker werdenden Rechtsextremismus zu organisieren. Politisch aktiv zu werden muss nicht zwangsläufig heißen, dass man in eine Partei eintritt: Man kann auch öffentliche Diskussionen organisieren, ein Ehrenamt übernehmen – ob bei der Tafel oder im Fußballverein – oder dem Lokalparlament beitreten. Aber natürlich ist auch der Eintritt in eine demokratische Partei, die keine extremen Positionen unterstützt, eine gute Maßnahme. „Gerade jetzt ist das eine richtige Antwort“, sagt Blumenthaler. „Sich dort zu engagieren bedeutet, unsere Demokratie aktiv zu stärken.“ Dazu müsse man nicht zwingend alle Positionen der Partei teilen.
Grundsätzlich gilt: „Es ist wichtig, sich zusammenzuschließen und gemeinsam etwas zu bewegen“, so Blumenthaler. Auch Jugendliche und junge Erwachsene können sich einbringen – zum Beispiel im Jugendrat und im Jugendparlament. Politischer Nachwuchs wird dort immer händeringend gesucht.
Positive Gegenerzählungen finden
“Wir reden viel zu oft darüber, was uns alles droht, anstatt darüber, wie wir eigentlich miteinander leben wollen und wie wir unser Zusammenleben gestalten können.”
Nicht nur populistische Parteien nutzen häufig Zukunftsängste und Katastrophenszenarien, um Politik zu machen – von diversen Kriegen bis zur Klimakrise. Gut für die Demokratie ist das nicht unbedingt.
„Wir reden viel zu oft darüber, was uns alles droht, anstatt darüber, wie wir eigentlich miteinander leben wollen und wie wir unser Zusammenleben gestalten können“, sagt Blumenthaler. Der Demokratie würde es gut tun, positive Zukunftsszenarien zu finden, statt noch mehr Ängste zu schüren. Wie könnte zum Beispiel eine Gemeinschaft aussehen, in der es für alle bezahlbaren Wohnraum gibt? Und wie könnten sich Dörfer künftig entwickeln, wenn sie eine bessere Infrastruktur bekommen?
Zu diesem positiven Blick gehört laut Hoch auch, die Demokratie schätzen zu lernen und sich unserer demokratischen Privilegien bewusst zu werden. „Man sollte die Vorteile der Demokratie bewusst hervorheben, weil viele Aspekte mit ihr verschwinden würden, von denen viele Menschen gerade profitieren“, sagt Hoch. „Dazu zählt auch die Meinungsfreiheit, die grundsätzlich garantiert, dass wir fast alles sagen dürfen.“