Gewalt, Schönheit, Demokratie: So wählen Tiere ihre Anführer

Wie entscheidet sich, wer in Fischschwärmen und Hyänenrudeln das Sagen hat? Oft genug sind andere Eigenschaften als pure Stärke dafür ausschlaggebend.

Von Brian Handwerk
Veröffentlicht am 4. Nov. 2020, 18:54 MEZ
Eine Gruppe von Schimpansen in Uganda. Manche Anführer von Schimpansengruppen regieren mit eiserner Faust, während andere ...

Eine Gruppe von Schimpansen in Uganda. Manche Anführer von Schimpansengruppen regieren mit eiserner Faust, während andere einen sanfteren Führungsstil praktizieren.

Foto von Ronan Donovan, Nat Geo Image Collection

Von Bienen über Delfine bis hin zu Elefanten leben viele Wildtiere in kooperativen Gruppen, die von einem einzigen Anführer geleitet werden. Und wie es auch in menschlichen Gesellschaften der Fall ist, führen dabei unterschiedliche Wege zur Macht.

Je nach Größe und Persönlichkeit wenden Schimpansen entweder rohe Gewalt an oder bilden Koalitionen, um in der Rangfolge aufzusteigen. Bei einigen Arten wie beispielsweise Tüpfelhyänen wird die Rangfolge durch das Geschlecht und die Abstammung bestimmt, ähnlich wie die Herrscher in einer Monarchie aufsteigen. Stichlinge folgen einfach dem Bestaussehendsten Mitglied ihres Schwarms.

Und obwohl Menschen manchmal das fortgeschrittene Alter von Führungskräften als Schwäche sehen, schätzen einige Tierarten diese Eigenschaft, sagt Jennifer Smith, eine Verhaltensökologin am Mills College in Kalifornien.

„Oft entscheiden sich Säugetiere aktiv dafür, einem Tier zu folgen, das im Laufe seines Lebens mehr Wissen und Erfahrung gesammelt hat“, sagt Smith. Besonders häufig falle die Wahl dabei auf ältere Weibchen.

Herrschaft der Matriarchinnen

Bei Afrikanische Elefanten wäre das das älteste Weibchen in einer Herde.

Diese Matriarchinnen, die bis zu 60 Jahre alt werden können, sind am geschicktesten darin, das Brüllen gefährlicher Löwen zu erkennen und ihre Familie vor Angriffen zu schützen, schloss eine Studie im kenianischen Amboseli-Nationalpark. Sie nutzen ihr berühmtes Gedächtnis auch, um die Landschaft zu kartieren und ihre Herde zu lebenswichtigen Ressourcen wie Nahrung und Wasser zu führen. „Es ist ein Führungsstil, der auf Prestige und Leistung basiert“, sagt Smith.

Auch Orca-Familiengruppen werden von älteren Weibchen geführt – und zwar noch bis zu 50 Jahre nach der Geburt ihres letzten Kalbes. Eine Studie hat gezeigt, dass Weibchen in der Postmenopause für das Überleben ihrer Verwandten unerlässlich sind, da sie ihre Verwandten zu den besten Fischjagdgründen führen. Stirbt eine Orca-Großmutter, steigt das Sterberisiko ihrer Enkel.

„Das ist besonders dann der Fall, wenn Nahrung knapp ist“, sagt Smith. „Es ist das ökologische Wissen der Großmutter, das in diesen Verbänden so wichtig ist.“

Dominanz durch Erbfolge

Alphaweibchen führen auch Afrikas Tüpfelhyänenclans an, die bis zu 130 Mitglieder stark sein können. Jedes Weibchen wird von Geburt an in eine unflexible soziale Hierarchie eingeordnet.

„Die Königin in der Gesellschaft der Tüpfelhyänen erbt ihren Rang von ihrer Mutter. Es gibt also einen sozialen Transfer von Wissen und Macht“, sagt Smith.

Innerhalb einer größeren Hyänengruppe gibt es mehrere Familien, wobei die Königsfamilien an der Spitze stehen. Jede Familie hat entsprechend ihres Rangs Zugang zu Nahrung und Ressourcen. Alphaweibchen und ihre Jungen zum Beispiel haben den besten Zugang zu Nahrung und die größte soziale Unterstützung ihrer Verwandten. Das sorgt im Allgemeinen dafür, dass diese Weibchen gesünder sind und mehr Nachwuchs produzieren – ein Zyklus, der den sozialen Rang festigt. Die Männchen bewegen sich in einer eigenen, zweitrangigen Hierarchie.

In Hyänen-Clans „haben Weibchen in so ziemlich jedem Aspekt des Lebens das Sagen“, sagt Smith.

Rohe Gewalt

Schimpansengruppen werden von einem Männchen angeführt, dessen Hauptinteresse der Fortpflanzung gilt. Die Anführer genießen Zugang zu fruchtbaren Weibchen und zeugen den meisten Nachwuchs.

Diese Schimpansen-Chefs wahren den Frieden, indem sie Streitigkeiten innerhalb der Gruppe beilegen und Ressourcen wie Nahrungsmittel kontrollieren. Sie halten auch eine strikte Ordnung aufrecht, die bestimmt, wer sich mit wem paaren darf – dieses begehrte Recht wird von ihnen in politischem Kalkül an ihre männlichen Unterstützer verteilt.

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BELIEBT

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    Die Anführer der Schimpansen werden nicht durch ihre Geburt bestimmt, daher sind sie immer auf der Hut vor marodierenden Männchen, die ihnen ihre Position streitig machen wollen. Infolgedessen sind viele Schimpansenführer „egoistische Schläger“, die „wirklich hart daran arbeiten, diesen hohen Status zu behalten, indem sie alle anderen terrorisieren“, sagt Michael Wilson. Der Ökologe der University of Minnesota erforscht die Gruppenbeziehungen der Menschenaffen.

    Koalitionen und Kalkül

    Das ist jedoch nicht immer der Fall.

    Interessanterweise werden einige Schimpansen – vor allem diejenigen, die kleiner und weniger aggressiv sind – durch eine völlig andere Strategie zu Anführern: Sie bilden Koalitionen.

    Im Gombe-Stream-Nationalpark in Tansania untersuchte Wilson einen Schimpansenanführer, den die Forscher Freud getauft hatten. Dieses Männchen blieb an der Macht, indem es Bindungen zu seinen Artgenossen aufbaute, ihr Fell pflegte und mehr Zeit mit ihnen verbrachte. Andere Männchen, die diesen Ansatz verfolgen, wurden sogar beobachtet, wie sie junge Schimpansen kitzelten – ähnlich wie menschliche Politiker, die bei Wahlkampfauftritten Babys küssen.

    Durch seine Freundlichkeit – und ein bisschen altmodischer Politik – wurde Freud mit Loyalität und den Vorzügen der Macht belohnt: Nahrung, Fellpflege und Paarungsmöglichkeiten.

    Konsens und Mitläuferschaft

    Politikwissenschaftler haben untersucht, inwieweit Menschen Führungspersönlichkeiten aufgrund ihrer Attraktivität auswählen – ein Kriterium, das auch anderswo im Tierreich zum Tragen kommt.
    Der Dreistachlige Stichling ist ein kleiner Fisch, der in der nördlichen Hemisphäre heimisch ist. Er legt auf körperliche Attraktivität Wert –aber die basiert nicht auf einer oberflächlichen Ästhetik. Die Art wählt sich Anführer, die gut genährt sind und glatte Schuppen haben. Diese Faktoren bescheinigen eine robuste Gesundheit und gute Überlebensfähigkeit.

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    Putzergarnelen putzen gern – auch die Zähne von Menschen.

    Eine weitere Erkenntnis aus der Studie: Sobald ein Fisch innerhalb eines Schwarmes einen solchen attraktiven Anführer identifiziert und ihm folgt, schließt sich der Rest der Gruppe der Mehrheit an.

    Je größer der Schwarm, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Fische dem richtigen Anführer folgten, was darauf hindeutet, dass eine entsprechend hohe Anzahl an Tieren eine gute Entscheidung begünstigen kann. Aber wie beim Menschen kann ein Konsenskonzept auch hier seine Nachteile haben: Manchmal folgen ein paar Fische einem weniger idealen Fisch und führen die gesamte Gruppe auf den Holzweg.

    Demokratie durch Tanz

    Honigbienenköniginnen gelangen auf mörderische Weise an ihren Thron. Die Arbeiterinnen erschaffen etwa ein Dutzend potenzielle Königinnen, indem sie gewöhnliche Arbeiterinnen mit einer speziellen Nahrung füttern. Dann treten sie zurück und lassen die Bienenköniginnen einzeln gegeneinander antreten, wobei jeder Kampf mit einem Sieg oder einem tödlichen Stich endet.

    Arbeitsbienen umgeben eine Honigbienenkönigin im Vereinigten Königreich, während sie ihre Eier ablegt.

    Foto von Kim Taylor, Nature Picture Library

    Die Biene, die am Ende übrigbleibt, wird zur Königin – obwohl sie keine große Führungspersönlichkeit ist. „Ihre Funktion ist es, Eier zu legen“, sagt Thomas Seeley, ein Biologe an der Cornell University und Autor von „Honeybee Democracy“. „Abgesehen davon, dass sie eine fähige Kämpferin ist, ist das alles, was sie tut.“

    Von der Krönung ihrer Königin einmal abgesehen: Wenn Honigbienen vor einer Entscheidung auf Leben und Tod stehen – wohin sie einen gefährdeten Bienenstock verlegen oder ob sie einen erfolgreichen Bienenstock aufteilen sollen –, handeln sie demokratisch, um zu entscheiden, welchen Weg sie einschlagen, so Seeley.

    Mehrere hundert Bienen schwärmen auf der Suche nach neuen Nistplätzen aus und kehren in den Bienenstock zurück, um von diesen erstklassigen Standorten zu berichten. Je energischer eine Biene tanzt und dabei Informationen über Richtung und Entfernung des neuen Standorts übermittelt, desto mehr Bienen kann sie davon überzeugen, selbst einen Blick auf diese beworbene Stelle zu werfen.

    Zeitraffer: Die Entwicklung einer Honigbiene
    In dieser faszinierenden Zeitraffer-Aufnahme hielt der Fotograf Anand Varma fest, wie aus Larven erwachsene Honigbienen wurden. Für dieses sechsmonatige Projekt hat er sich in seinem Atelier einen Bienenstock gebaut – und eine neue Wertschätzung für den komplexen Beruf des Imkers gewonnen.

    Wenn sich eine kritische Anzahl von Bienen an einem ausgezeichneten Standort einfindet, stellen sie fest, dass sie ein Quorum erreicht und die „Wahl“ gewonnen haben. Sie kehren dann in den Bienenstock zurück, um ihre Artgenossen dazu zu bringen, diesem Ergebnis Taten folgen zu lassen.

    Seeley zufolge stellt das Verhalten der Bienen einen interessanten Gegensatz zu menschlichen Wahlen dar, bei denen die Kandidaten nicht unbedingt einen Anreiz haben, ehrlich zu sein. Für die Bienen hingegen ist es entscheidend, wahrheitsgetreu über die Eignung ihrer zukünftigen Heimat zu informieren.

    „Der Erfolg jeder einzelnen Biene hängt davon ab, dass es dem Bienenvolk gut geht“, sagt er. Deshalb „berichten sie die Dinge nur korrekt. Andernfalls würden sie sich nur selbst ins Bein schießen“. Ein Grundsatz, von dem auch andere Arten profitieren könnten, einschließlich unserer eigenen.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

    Tiere


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