Gruseln auf Japanisch: Das seltsame Reich der Yōkai
Hunderte Ungeheuer, Dämonen und unheimliche Erscheinungen sind in Japans Folklore zu Hause – darunter riesige, schmutzige Füße und rachsüchtige Geister. Über den Ursprung der Yōkai und ihren Siegeszug in der Popkultur.

Tsukioka Yoshitoshi, der letzte Großmeister des Farbholzschnitts, erschuf in der Edō-Zeit dieses Kunstwerk, auf dem sich verschiedene Yōkai versammeln.
Jede Kultur hat ihre eigene Vorstellung von einer Anderswelt – doch in der japanischen Folklore ist das Reich der Geister, Monster und Dämonen besonders groß und vielfältig. In ihm tummeln sich sogenannte Yōkai (妖怪): Kreaturen, die über übernatürliche Fähigkeiten verfügen und in den verschiedensten seltsamen, unheimlichen oder geradezu skurrilen Formen auftreten, um ihre undurchsichtigen Ziele zu verfolgen.
Manche haben tierische Züge, andere ähneln Menschen. Manche sind scheu und leben an abgelegenen Orten, andere sind in menschlichen Siedlungen zu Hause. Es gibt Yōkai, die gerne Streiche spielen und andere, die Unheil und Tod bringen. Menschliche Waffen können ihnen nichts anhaben, vertreiben können sie nur buddhistische Mönche oder shintoistische Exorzisten.
Edō-Zeit: Okkultismus wird salonfähig
Das Wort Yōkai setzt sich aus zwei Schriftzeichen zusammen: dem Kanji 妖, das bezaubernd aber auch Unheil bedeutet, und dem Kanji 怪, das so viel wie merkwürdig oder unheimlich bedeutet. Vermutlich stammt der Begriff aus dem Chinesischen, in Japan taucht er zum ersten Mal in dem Geschichtsbuch Shoku Nihongi aus dem 8. Jahrhundert n. Chr. auf. Darin beschreibt er ein unglückliches oder mysteriöses Ereignis, das eine Reinigungszeremonie notwendig macht.
„Je nachdem, wie man Yōkai definiert, gibt es sie schon fast so lange, wie es in Japan Schrift gibt“, sagt Michael Foster, Japanologe an der University of California, Davis, und Autor des Buches The Book of Yōkai: Mysterious Creatures of Japanese Folklore. Der eigentliche Beliebtheitsboom hätte aber während der Edō-Zeit (1603 bis 1868) seinen Anfang gefunden. „Viele der Yōkai, die heute die Folklore und Populärkultur bevölkern, wurden damals erstmals dokumentiert oder illustriert.“

Viele Yōkai sind kurios. So auch Ashiarai Yashiki (足洗邸), ein riesiger, schmutziger Fuß ohne Körper, der nachts durch die Decke von Häusern tritt. Das sprechende Körperteil befiehlt den Bewohnern, es zu waschen. Wird dem nicht nachgekommen, zerstört es die Einrichtung.
Ein Grund für die große Popularität der übernatürlichen Wesen war Foster zufolge unter anderem ein gesteigertes Interesse am Okkulten, das damals in der Bevölkerung aufkam. In der Literatur und dem traditionellen japanischen Volkstheater Kabuki hatten Yōkai ihren festen Platz. Beliebt war auch das Spiel yōkai karuta, das im letzten Drittel der Edō-Zeit entwickelt wurde und starke Parallelen zum Pokémon-Spiel unserer modernen Zeit aufweist: Jede Karte stellte einen Yōkai dar und je mehr ein Spieler über dessen Eigenschaften und Legenden wusste, desto größer waren die Siegeschancen.
Götter oder Dämonen: Ursprung unheimlicher Legenden
Dabei ist nicht klar bestimmt, was Yōkai eigentlich sind: Götter, Dämonen, Geister oder Ungeheuer. „Obwohl es im Laufe der Jahre ernsthafte Definitions- und Klassifizierungsversuche gegeben hat, ist der Begriff in letzter Zeit sehr offen geworden und umfasst wirklich all diese Dinge“, sagt Foster. „Es kommt darauf an, wer ihn in welchem Zusammenhang verwendet.“ Wie alle Monster dieser Welt seien auch die Monster Japans mehrdeutig und entzögen sich einer endgültigen Kategorisierung.
So gibt es zum Beispiel Überschneidungen zwischen Yōkai und Kami (神) – Geistern und Göttern, die im japanischen Shintoismus verehrt werden. Der japanische Anthropologe Komatsu Kazuhiko definierte Yōkai als „nicht verehrte“ Kami und Kami als „verehrte“ Yōkai – je nachdem, ob ihr vermeintliches Wirken von den Menschen positiv oder negativ wahrgenommen wurde.

Hajikkaki (恥っかき) sind die Seelen von Menschen, die in Scham gestorben sind. Sie leben versteckt unter der Erde. Wer sie aus Versehen ausgräbt, wird mit einem Fluch belegt, der dafür sorgt, dass ihnen peinliche Dinge passieren.
Wie auch in anderen Teilen der Welt hat sich der Glaube an die übernatürlichen Wesen vermutlich zunächst aus dem Bedürfnis entwickelt, Erklärungen für das Unerklärliche, für Naturphänomene, -erscheinungen und -katastrophen zu finden. So sind viele Yōkai in bestimmten Regionen Japans heimisch und stehen dort in enger Verbindung mit den landschaftlichen Gegebenheiten. In der Nähe von Gewässern sind beispielsweise viele Legenden über Kappa (河童) entstanden, die in ihnen leben sollen, in Berggebieten sind hingegen Geschichten über Begegnungen mit Tengu (天狗) häufiger.
Antike Erzählungen, moderne Kreationen
Wie viele Yōkai es gibt, ist unklar. Sicherlich sind es Hunderte, möglicherweise Tausende. Viele von ihnen treten in verschiedenen Unterformen auf – es gibt zum Beispiel eine ganze Reihe unterschiedlicher Tengu, die für bestimmte Berge Japans spezifisch sind.
Foster zufolge werden bis heute in alten Dokumenten oder Bildrollen immer wieder bisher unbekannte Yōkai entdeckt. „Wichtiger ist jedoch, dass sie ständig neu erfunden werden – jedes Mal, wenn eine Geschichte über sie erzählt wird oder sie für einen Manga, einen Anime oder ein Spiel verändert oder geschaffen werden“, sagt er.

Kuchisake-onna (口裂け女), die Frau mit dem aufgerissenen Mund, hat den Sprung in die modernen urbanen Legenden geschafft. Sie soll in Rotlichvierteln ihr Unwesen treiben und ihre Opfer entstellen oder töten. In den späten Siebzigerjahren haben vermeintliche Begegnungen mit ihr in Japan und Südkorea zu Hysteriewellen geführt.
Schon der Zeichner Toriyama Sekien, der während der Edō-Zeit Bildbände mit „Yōkai-Paraden“ erschuf, beschränkte sich dabei nicht auf die bereits Bekannten, sondern fügte dem unheimlichen Reigen eigene Kreationen hinzu. „Was Yōkai so spannend und faszinierend macht, ist unter anderem, dass das Pantheon immer weiter wachsen kann“, sagt Foster. „Die Tradition des Erschaffens von Yōkai-Darstellungen und -Erzählungen besteht bis heute in zeitgenössischen Manga, Filmen und Spielen fort.“
Anime, J-Horror und Pokémon: Yōkai werden Popkultur
Denn nach der Edō-Zeit erlebten Yōkai in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen erneuten Popularitätsschub, der bis heute anhält. „Zu einem großen Teil ist dies dem Manga-Zeichner Mizuki Shigeru zuzuschreiben, dessen Darstellungen von Yōkai in den Sechzigerjahren populär wurden“, sagt Foster. Ob in Anime-Klassikern wie Prinzessin Mononoke (1997) und Chihiros Reise ins Zauberland (2000), in J-Horror-Filmen wie Ringu (1998) oder Ju-On: The Grudge (2002): überall findet man Spuren der übernatürlichen Wesen. In gewisser Weise, so Foster, könne man auch die Pokémon-Kreaturen der modernen Zeit als Yōkai betrachten, obwohl diese nicht unbedingt aus dem Volksglauben hervorgehen.

Angekommen in der Popkultur: Im J-Horror-Film Ringu treibt Sadako Yamamura als rachsüchtiger Geist ihr Unwesen, nachdem sie einen qualvollen Tod gestorben ist. Sie ist ein Onryō (怨霊), eine bösartige Vertreterin der Gruppe der Yūrei, und in der Lage dazu, zu töten.
Neben der Popkultur entdeckte aber auch die Wissenschaft die Kreaturen als wichtigen Teil der japanischen Kultur für sich: In den Achtzigerjahren begannen zum Beispiel die Volkskundler Miyata Noburo und Komatsu Kazuhiko damit, Yōkai zu erforschen. Kazuhiko war außerdem maßgeblich an einem Projekt des Internationalen Forschungszentrums für Japanstudien (Nichibunken) in Kyoto beteiligt, in dessen Rahmen ab dem Jahr 1997 Materialen zu Yōkai zusammengetragen wurden.
Im Jahr 2002 wurde die erste Version der daraus entstandenen Datenbank Folktales of Strange Phenomena and Yōkai (Spirits, Ghosts, Monsters) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. „Beeinflusst durch die weltweite Popularität japanischer Spiele, Filme und Anime wurde sie in den ersten drei Tagen rund 100.000 aufgerufen“, sagt die Anthropologin Manami Yasui vom Yōkai Project Office des Nichibunken. Fünf Jahre später kam eine Bilddatenbank – Paintings of Strange Phenomena and Yōkai (Ghosts, Monsters, Spirits) – hinzu, die aktuell über 4.000 Darstellungen von Yōkai umfasst. Derzeit arbeite man daran, eine englische Version der Datenbanken zu erstellen, bis dahin muss ein Übersetzungstool helfen.
Ein Besuch lohnt sich trotzdem, möchte man einen Einblick in diesen so faszinierenden wie merkwürdigen Bereich der japanischen Kultur gewinnen. Einen Vorgeschmack liefert unsere Galerie, für die Manami Yasui die bekanntesten Yōkai ausgewählt hat.

Warum ist das Unheimliche in Japan so beliebt?
Überall auf der Welt sind Menschen vom Übernatürlichen fasziniert, doch in Japan scheint das Interesse besonders ausgeprägt zu sein. Liegt es daran, dass die Bewohner des Landes Grusel-Enthusiasten sind?
„Ich glaube nicht, dass Japaner mehr Spaß an beängstigenden Dingen haben oder eher dazu neigen, an sie zu glauben als andere“, sagt Foster. „Doch die japanische Kultur neigt dazu, ihren Monstern und seltsamen Phänomenen mehr positive Aufmerksamkeit zu schenken als die Kulturen vieler anderer Länder – die USA und große Teile Europas eingeschlossen.“
Über Jahrhunderte haben die Menschen in Japan darum ihre Yōkai-Tradition liebevoll gepflegt und gefeiert – und dadurch nicht nur dafür gesorgt, dass alte Legenden überliefert werden, sondern auch dafür, dass neue, zeitgemäße entstehen. Foster zufolge hat diese Anpassungsfähigkeit dem alten Volksglauben zu einer kommerziellen Vermarktbarkeit verholfen, die ihn zu einem lebendigen Teil der japanischen Kultur macht und sein Fortbestehen sichert – zur Freude der Japaner und aller Freunde des Übernatürlichen auf der ganzen Welt.
