Die Suche nach Doggerland

In der Mittelsteinezeit lag die Nordsee trocken. Angesichts des Klimawandels suchen Archäologen hier nach Antworten auf eine höchst aktuelle Frage: Was passiert mit Menschen, deren Heimat langsam im Meer versinkt?

Von Laura Spinney

Riesige Flutwellen aus Nordamerika und Norwegen besiegelte das Schicksal der Flüchtenden.

Foto von Alexander Maleey

In der Nordsee bringen Fischer mit ihren Netzen immer wieder Spuren einer längst untergegangenen Welt ans Licht.

Als vor anderthalb Jahrhunderten in der Nordsee die ersten Hinweise auf eine versunkende Welt auftauchten, wusste niemand etwas mit ihnen anzufangen. Niederländische Fischer hatten gerade damit begonnen, mit Grundschleppnetzen, sogenannten Baumkurren, auf Fang zu gehen. Sie wollten Fische, keine Stoßzähne. Und so warfen sie die seltsamen tierischen Überreste wieder zurück ins Meer.

Sie zogen die mit Gewichten beschwerten Netze über den Meeresboden. Und so landeten neben den begehrten Grundfischen auch immer wieder Hörner und Knochen von Auerochsen oder Wollnashörnern als Beifang auf den Schiffsplanken. Unerwartet – und in den Augen der Fischer nutzlos. Sie konnten nicht ahnen, dass unter ihren Booten ein Bodenarchiv von unschätzbarem Wert lagerte.

Erst Generationen später überredete der einfallsreiche Amateurpaläontologe Dick Mol die Fischer, ihm solche Knochen zu bringen und die Koordinaten der Fundstellen zu notieren. 1985 erhielt Mol von einem Kapitän einen ausgesprochen gut erhaltenen menschlichen Kieferknochen samt abgenutzter Backenzähne. Mol und sein Freund Jan Glimmerveen, gleichfalls Freizeitarchäologe, ließen das Alter des Knochens mit der Radiokarbonmethode ermitteln. Es stellte sich heraus, dass er 9500 Jahre alt war. Jener Mensch hatte also in der Mittelsteinzeit (Mesolithikum) gelebt, die in Nordeuropa am Ende der letzten Eiszeit vor 12000 Jahren begonnen und bis zur Einführung des Ackerbaus vor 6000 Jahren gedauert hatte. «Der Knochen stammt vermutlich aus einem Grab», sagt Glimmerveen. «Es war unberührt, bis jene Welt vor etwa 8000 Jahren im Meer versank.»

Video: Sehen Sie in der Animation des MARUM an der Universität Bremen, wie Doggerland zur Nordsee wurde

Die Geschichte des untergegangenen Landes beginnt mit der Eisschmelze. Vor 18000 Jahren lag der Meeresspiegel in Nordeuropa etwa hundert Meter niedriger als heute. Großbritannien war keine Insel, sondern der unbewohnte nordwestliche Winkel Europas, bedeckt von eisiger Tundra. Als sich die Erde erwärmte und das Eis zurückwich, wanderten Hirsche, Auerochsen und Wildschweine nach Norden und Westen. Die Jäger folgten ihnen. Sie kamen aus den höher gelegenen Gebieten Kontinentaleuropas und erreichten nun eine weite, tief liegende Ebene.

Meeresarchäologen der Uni Bremen nennen diese versunkene Niederung Doggerland. Nach der Doggerbank-Untiefe, die an die Deutsche Bucht grenzt, liegt die Sandbank teilweise nur 13 Meter unter dem Meeresspiegel und kann deshalb für große Schiffe gefährlich werden. Früher glaubte man, diese Landbrücke in der Nordsee sei unbesiedelt gewesen. Heute sind Forscher der Ansicht, dass in der Mittelsteinzeit wahrscheinlich sehr viele Menschen in Doggerland lebten, bis sie Tausende Jahre später von der unaufhaltsam steigenden See zurückgedrängt wurden.

Viele halten Doggerland für den Schlüssel, um die Mittelsteinzeit in Nordeuropa zu verstehen – und bezeichnen die Mittelsteinzeit wiederum angesichts des Klimawandels als ein für uns lehrreiches Zeitalter. Es ist das Verdienst von Landschaftsarchäologen der Universität Birmingham unter der Leitung von Vincent Gaffney, dass wir heute eine relativ genaue Vorstellung davon haben, wie das versunkene Gebiet aussah. Auf der Grundlage seismischer Daten, die vor allem von Unternehmen bei der Erkundung von Erdölvorkommen in der Nordsee gesammelt wurden, haben Gaffney und seine Kollegen fast 50 000 Quadratkilometer des unter Wasser liegenden Geländes digital rekonstruiert – eine Fläche größer als Niedersachsen.

Gaffney leitet das IBM-Zentrum für visuelle und räumliche Technologie an der Universität. Auf großen Farbbildschirmen zeigt er mir Bilder dieser Terra incognita. Am unteren Rand der Landkarte fließt die Themse in den Rhein und dieser südwärts in jenen Fluss, der heute der Ärmelkanal ist. Gaffney weist mit der Hand auf vergleichbar große, aber namenlose Flusssysteme.

Die Temperatur war damals vermutlich um einige Grad wärmer als heute, so dass die Geländestufen auf dem Bildschirm wohl sanfte Hügel, bewaldete Täler, üppige Marschen und Lagunen darstellen. «Ein Paradies für Jäger und Sammler», sagt Gaffney.

BELIEBT

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    2007 wurde der erste Teil dieser Karte veröffentlicht. Damit hatten Archäologen erstmals eine bildliche Vorstellung von jener mittelsteinzeitlichen Landschaft. Und sie konnten für Ansiedlungen geeignete Orte identifizieren. Wegen der hohen Kosten und der schlechten Sicht in der Nordsee sind Unterwasser-Ausgrabungen bisher unrealistisch. Wer die Doggerländer waren und wie sie auf das unaufhaltsame Vordringen des Meeres reagiert haben, können Forscher aber auch auf andere Weise herausfinden.

    Da sind zunächst die Schätze, die sich in den Netzen der Fischer verfangen. Neben dem menschlichen Kieferknochen hat Glimmerveen mehr als hundert weitere Fundstücke gesammelt – Knochen von offensichtlich geschlachteten Tieren und Werkzeuge, die aus Knochen und Geweihen angefertigt wurden.

    Weil er die Koordinaten der Fundorte kennt und Objekte am Meeresgrund sich in der Regel nicht weit von der Stelle bewegen, an denen die Erosion sie freigelegt hat, kann er annehmen, dass viele aus einem bestimmten Gebiet in der südlichen Nordsee stammen. Die Niederländer nennen es De Stekels, „die Stacheln“. Der Meeresboden dort besteht aus steilen Abhängen.

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    Das Deutsche Schiffahrtsmuseum in Bremerhaven (DSM) hat 2011 das Pilotprojekt „Bedrohtes Bodenarchiv Nordsee“ zur Erforschung der submarinen Kulturlandschaft gestartet. «Mit geophysikalischen Messungen und Tauchuntersuchungen am Meeresgrund erfassen wir Schiffswracks, abgestürzte Flugzeuge und Luftschiffe ebenso wie mögliche Funde, die auf die steinzeitliche Nutzung des einst trockenen Nordseebereichs hinweisen», erklärt der DSM­Mitarbeiter Mike Belasus. Die Forscher in Bremerhaven konzentrieren sich dabei auf die sogenannte Ausschließliche Wirtschaftszone, die jenseits der Zwölf­Seemeilen­Zone liegt und damit nicht mehr im Geltungsbereich der Denkmalschutzgesetze der Länder.

    Ein weiterer Weg zum Verständnis der Doggerländer führt über Ausgrabungen von Wohnplätzen, die leichter zugänglich sind, weil sie in flachem Wasser liegen oder nur bei Flut überspült werden. Zwischen 1977 und 1987 wurden in Tybrind Vig, wenige hundert Meter vor der Küste der dänischen Insel Fünen, Hinweise auf eine überraschend hoch entwickelte Fischereikultur aus der späten Mittelsteinzeit gefunden. Darunter waren fein verzierte Paddel und mehrere schmale Kanus, eines davon gut neun Meter lang. Von 1998 an grub Harald Lübke vom Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie in Schleswig mit seinen Kollegen submarine Ansiedlungen in der Wismarbucht aus, die zwischen 8 800 und 5 500 Jahre alt sind. An diesen Fundstätten in der Ostsee ist sehr gut zu erkennen, wie die Menschen ihre Ernährung von Süßwasserfisch auf Meerestiere umstellten und wie sich ihr Lebensraum wandelte: Von Wald umgebene Binnenseen wurden nach und nach zu Schilfmarschen, schmalen Meeresbuchten und schließlich zum offenen Meer, das wir heute kennen.

    Eine ähnliche Metamorphose spielte sich bei Goldcliff in Wales im Mündungsgebiet des Severn ab. Der Archäologe Martin Bell von der Universität Reading und sein Team graben dort seit 21 Jahren. Im Mesolithikum floss der Severn durch ein enges, tief eingeschnittenes Tal. Als der Meeresspiegel anstieg, versanken die Uferhänge langsam im Wasser, das Flussbett wurde immer breiter – womöglich innerhalb nur eines Jahrhunderts – bis die Umrisse des heutigen Mündungsgebiets erreicht waren.

    An einem Augusttag mit extremem Niedrigwasser in Goldcliff folge ich Bell und seinen Mitarbeitern hinaus in das von Wasserläufen durchzogene Watt. Uns bleiben nicht einmal zwei Stunden, bevor das Wasser mit der Flut zurück­ strömen wird. Wir erreichen einen kleinen Geländesprung, der vor 8000 Jahren einmal das Ufer einer Insel gebildet hatte. Ein Mitarbeiter spritzt mit hohem Druck Wasser auf den schlickigen Boden, bis plötzlich 39 vorzeitliche Fußabdrücke sichtbar werden. Sie stammen von drei oder vier Menschen. «Vielleicht sind sie von ihrem Lagerplatz aufgebrochen, um ihre Netze in einem nahe gelegenen Priel zu kontrollieren», sagt Bell. Das Wasser hat die Spuren dann mit Sediment versiegelt. Heute herrschen dort bei einem Tidenhub von mehr als sieben Metern derart starke Strömungen, dass wiederholt Partien des aus feinen Sedimentlagen bestehenden Schlicks abgespült werden und solche Abdrücke freilegen. Wenn Forscher Spuren entdecken, müssen sie schnell sein. Denn schon die nächste Flut vernichtet sie vielleicht für immer.

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    Die folgenden Generationen wurden Augenzeugen einer sich dramatisch verändernden Natur. Als der Eichenwald überflutet wurde, müssen die Menschen ihre Lagerplätze nach und nach auf höheres Terrain verlegt haben. «Irgendwann ragten wohl kolossale tote Eichenstämme aus der Salzmarsch empor», sagt Bell. «Es muss eine unwirkliche Landschaft gewesen sein.»

    Sommer und Herbst waren Zeiten des Überflusses. Auf den Marschen grasten wilde Tiere. Es gab reiche Fischgründe, jede Menge Haselnüsse und Beeren. Im Winter zogen die Menschen auf höher gelegenes Land. Fundorte mit wesentlich mehr Artefakten deuten darauf hin, dass sich die Menschen in der Mittelsteinzeit zu gesellschaftlichen Anlässen trafen, möglicherweise im Herbst, wenn die Robben nahe an die Küste kamen und die Lachse die Flüsse hinaufzogen. Hier konnten junge Männer und Frauen Partner finden. Die Siedler tauschten sich aber wohl auch über den Flussverlauf jenseits des von ihrer Gruppe genutzten Territoriums aus. Als das Meer die Landschaft weiter veränderte, wurden dies überlebenswichtige Informationen.

    Was machten die Jäger der Mittelsteinzeit, die sich so geschickt an den Rhythmus der Jahreszeiten angepasst hatten, als die Welt um sie herum langsam versank? Der Meeresspiegel stieg um ein bis zwei Meter pro Jahrhundert. Im Doggerland wurden aus Binnenseen offene Meeresbuchten. Jim Leary, ein Archäologe der britischen Denkmalschutzbehörde English Heritage, hat die ethnografische Literatur nach Parallelen durchforscht, aus denen Jäger-und-Sammler- Gesellschaften, die heute mit dem Klimawandel konfrontiert sind, Lehren ziehen könnten.

    Wer geschickt war im Bootsbau und beim Fischen, konnte zumindest für eine gewisse Zeit großen Nutzen aus dem steigenden Meer ziehen. Aber irgendwann begann der Lebensraum der Menschen zu schrumpfen. «Als sie immer mehr von ihren traditionellen Jagd- und Fisch- gründen und ihren Begräbnisstätten abgeschnitten wurden, muss bei den damaligen Küstenbewohnern ein starkes Gefühl der Heimatlosigkeit entstanden sein», sagt Leary. «Wie bei den Inuit, denen der Rückweg durch Tauende Eisschollen abgeschnitten wird.»

    Daraufhin hat damals wohl eine starke Migration eingesetzt. «Wer auf dem Gebiet der heutigen Nordsee lebte, wurde wahrscheinlich sehr rasch vertrieben», sagt Clive Waddington vom archäologischen Forschungsdienst in Derbyshire. Einige Doggerländer siedelten sich in Britannien an. In Howick in Northumberland an der Nordostküste waren die Klippen am Ufer vermutlich die ersten Erhebungen, die diese Menschen erblickten.

    Waddingtons Team fand dort Überreste einer Wohnstätte, die im Laufe von 150 Jahren dreimal wieder aufgebaut worden war. Die Hütte – sie wurde auf 7900 v. Chr. datiert – gehört zu den frühesten Belegen für eine sesshafte Lebensweise auf den britischen Inseln. Waddington interpretiert die mehrfache Besiedlung als ein Indiz, dass die bereits ansässigen Bewohner ihren Flecken Land gegen die Entwurzelten verteidigen mussten. «Wir wissen, wie wichtig die Fischgründe für das Überleben und die Ernährung dieser Menschen waren», sagt Anders Fischer, ein Archäologe der Dänischen Kulturbehörde. «Der Streit um Fangreviere führte in Gesellschaften mit geringer sozialer Kompetenz wahrscheinlich zu Gewalt.»

    Die Doggerländer passten sich an, so gut es ging. Doch es gab einen Punkt, an dem sie sich geschlagen geben mussten. Vor etwa 8200 Jahren ergoss sich aus einem riesigen Gletschersee in Nordamerika, dem Agassizsee, eine so gewaltige Menge Schmelzwasser in den Atlantik, dass der Meeresspiegel schlagartig um mehr als 60 Zentimeter stieg. Das eiskalte Wasser verlangsamte die Zirkulation wärmerer Meeresströ­ mungen und löste einen plötzlichen Temperaturabfall aus. Was von den Küsten Doggerlands noch geblieben war, wurde von schneidend kalten Winden gepeitscht. Zudem kam es etwa zur gleichen Zeit am Meeresgrund vor Norwegen zu einem gewaltigen Erdrutsch, dem Storegga­Ereignis, und in der Folge zu einem Tsunami, der die Küsten Nordeuropas überspülte.

    Versetzte die Storegga­Rutschung Doggerland den Gnadenstoß? Wissenschaftler sind sich nicht sicher. Aber sie wissen, dass sich der Anstieg des Meeresspiegels danach verlangsamte. Vor etwa 6000 Jahren landete dann ein neues Volk aus dem Süden an den dicht bewaldeten Ufern der britischen Inseln. Sie kamen in Booten, mit Schafen, Rindern und Saatgetreide.

    Heute haben die Nachfahren dieser frühen neusteinzeitlichen Bauern viel bessere technische Hilfsmittel, um sich gegen einen steigenden Meeresspiegel zu behaupten. Werden sie diesen Kampf gewinnen?

    (NG, Heft 3 / 2013, Seite(n) 94 bis 105)

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