Warum machen manche Löwen Jagd auf Menschen?

Eine Analyse der Zähne der berüchtigten menschenfressenden Löwen von Tsavo hielt eine Überraschung bereit.

Von Jason Bittel
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:31 MEZ
Patterson sitzt neben einem der Löwen
Patterson sitzt neben einem der Löwen, die getötet wurden, nachdem sie 1898 Dutzende von Menschen gefressen hatten.
Foto von The Field Museum

„Ich habe eine sehr lebhafte Erinnerung an eine ganz bestimmte Nacht, in der die Bestien einen Mann vom Bahnhof packten und in die Nähe meines Camps brachten, um ihn zu verzehren. Ich konnte ganz deutlich das Knacken der Knochen hören, und das Geräusch ihres entsetzlichen Schnurrens erfüllte die Luft und klang noch tagelang in meinen Ohren nach.“ – Lieutenant-Colonel John Henry Patterson, „The Man-Eaters of Tsavo: And Other East African Adventures“

Diese schaurigen Worte berichten davon, wie afrikanische Löwen vor über hundert Jahren ein Eisenbahnbauprojekt in Tsavo, Kenia terrorisiert haben. Sie töteten und fraßen 35 Arbeiter. Aber wie und warum die Großkatzen zu „Menschenfressern“ wurden, ist wissenschaftlich noch immer umstritten.

Einige Experten vermuten zum Beispiel, dass ein Mangel an Beute (ausgelöst durch Trockenheit und eine Epidemie im späten 19. Jahrhundert) die Löwen dazu getrieben hat, aus lauter Verzweiflung Jagd auf Menschen zu machen. Es gibt allerdings ein Problem an dieser Theorie – verhungernde Löwen hätten vermutlich das meiste aus jeder Mahlzeit herausgeholt und die Menschen komplett samt Knochen verzehrt.

Und trotz Pattersons Erinnerung an das Knacken von Knochen zeigt eine neue Analyse der Zähne der beiden Löwen keine Anzeichen dafür, dass sie menschliche Knochen gefressen hätten.

Die Studienleiterin Larisa DeSantis, eine Paläoökologin an der Vanderbilt Universität, und ihre Kollegen nutzen bildgebende Verfahren, um die Mikroverschleißungen an den Zähnen der Tsavo-Löwen abzubilden. Die Zähne befinden sich im Field Museum of Natural History in Chicago, wo sie aufbewahrt wurden, nachdem Patterson und andere Jäger die Löwen erschossen hatten. Das Team untersuchte auch die Zähne eines anderen Löwen, der 1991 mindestens sechs Menschen in Sambia angefallen hat. (Lesen Sie auch: Löwen: Wir oder sie?)

Die Mikrofotografien der Zähne aller drei Tiere zeigten keine der verräterischen Gipfel und Täler, die man im Normalfall bei knochenfressenden Raubtieren wie Hyänen findet.


Die Studie, die am 19. April in „Scientific Reports“ erschien, berichtete, dass ihre Zähne glatt waren und Abnutzungsmuster zeigten, die denen an Zähnen von Zoolöwen ähnelten, die weiches Futter wie Rindfleisch bekommen.

Das bedeutet, dass die Löwen die Eisenbahnarbeiter nicht als letzten Ausweg angegriffen haben, sondern Menschen wahrscheinlich als Teil einer vielfältigeren Diät fraßen.

„Wir betrachten uns selbst oft als Spitze der Nahrungskette, tatsächlich befinden wir uns aber generell schon seit Langem auf dem Speiseplan von Löwen und anderen großen Katzen“, sagt DeSantis. 

ZAHNPROBLEME

Es gibt noch einen weiteren Aspekt an diesem Mysterium: Zahnerkrankungen.

Einer der Tsavo-Löwen hatte einen gebrochenen Eckzahn und einen Abszess, der vermutlich auch zum Verlust mehrerer umliegender Zähne führte, erzählt Paul Emily, der Gründer der Paul Emily Veterinary Dental Foundation (dt. Zahntierärztliche Stiftung Paul Emily). Der Sambia-Löwe aus dem Jahr 1991 hatte eine derart schlimme Kieferfraktur, dass selbst die Haut eingerissen war und die Wunde vermutlich konstant genässt hat.

Löwen sind extrem auf ihre Zähne angewiesen, mit denen sie Beutetiere packen und ersticken, indem sie die Luftröhre der Tiere eindrücken. Durch ihren regelmäßigen Gebrauch haben um die 40 Prozent der Löwen in Afrika Zahnverletzungen, wie eine Studie von DeSantis und ihrem Co-Autor Bruce Patterson 2003 herausgefunden hat.

Sowohl die Tsavo-Löwen als auch der Löwe aus Sambia hätten Schwierigkeiten gehabt, ihre Kiefer zu öffnen. Ein Zebra oder einen Büffel zu reißen, wäre also extrem schmerzhaft gewesen, wenn nicht gar unmöglich.

Die dentalen Abnutzungsspuren der verschiedenen Löwen in Mikrofotografien. Das Bild oben rechts stammt von einem Löwen in Gefangenschaft, die zwei links daneben von Löwen, die keine Menschen fressen. Das Bild unten rechts stammt vom menschenfressenden Löwen in Sambia und die zwei links daneben gehören zu den Tsavo-Löwen.
Image by Larisa DeSantis, Vanderbilt

Was die Zahnverletzungen des zweiten Tsavo-Löwen angeht, so sind diese laut Emily nicht allzu ernst. Daher stimmt er mit DeSantis‘ Schlussfolgerung überein, dass das Tier sich die Angriffe auf Menschen vermutlich von dem anderen Löwen abgeschaut hat.

Wenn man diese Krankheiten im Maulbereich berücksichtigt, mache es absolut Sinn, auf Menschen Jagd zu machen, fügt er hinzu.

„Wir haben kein Fell und keine dicke Haut, und unser Fleisch wäre sehr einfach zu essen.“

BELIEBT

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    ADAPTION ODER TOD

    Auch wenn frühere Studien eine Verbindung zwischen Zahnerkrankungen und dem Fressen von Menschen nicht erkannt haben, gibt es genügend Beweise dafür, dass sich verletzte Tiere anpassen können.

    Anne Hilborn, eine Biologin am Virginia Tech, erzählt, dass sie schon beobachtet hat, wie verwundete Geparden auf kleinere und langsamere Beute umsteigen. So jagen sie dann beispielsweise Gazellenkitze und Hasen anstatt ausgewachsene Gazellen, Impalas und sogar Gnus, wie sie es sonst tun.

    Sie bezweifelt aber, dass diese Strategie auch für Löwen funktionieren würde.

    Ein Löwe streift durch Tsavo, Kenia. Löwen sind auf ihre Zähne angewiesen, mit denen sie die Beute an der Kehle packen.
    Foto von Marka, UIG, Getty Images

    „Eine gelegentliche Babygazelle mag einen Geparden am Leben halten, aber ich glaube, ein Löwe hätte damit zu kämpfen“, sagt Hilborn.

    Am Ende, so DeSantis, sei es unwahrscheinlich, dass ein einzelner Faktor – mehr Menschen, weniger Beute, schlechte Zähne – die Löwen dazu getrieben hat, Menschen zu fressen. Es sei vermutlich eher eine Kombination aus mehrere Stressfaktoren gewesen.

    „Vor hundert Jahren war die Technologie, die zur Beantwortung dieser Frage nötig war, noch nicht erfunden. In hundert Jahren wird es vermutlich neue Technologien geben, die wir einsetzen können“, sagt DeSantis.

    „Das betont wirklich die Wichtigkeit von Museen in ihrer Rolle als Bewahrer von Fossilien.“

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