First Nations kämpfen um die Rettung des Geisterbären

Eine Gemeinschaft von Ureinwohnern entdeckt ihr kulturelles Erbe wieder, indem sie die Bärenjagd bekämpft und den Ökotourismus im Great Bear Rainforest fördert.

Von Krista Langlois
Veröffentlicht am 30. Okt. 2017, 11:59 MEZ

KLEMTU, GREAT BEAR RAINFOREST, BRITISH COLUMBIA

Es gibt Geschichten über die weißen Bären, die sich tief in den Wäldern an der Küste von British Columbia verbergen. Alte Geschichten, die seit Tausenden von Jahren von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden, seitdem die letzte Eiszeit die Welt fest in ihrem Griff hatte und Gletscher sich bis zur Grenze des Regenwalds erstreckten.

Eine dieser Geschichten ist jene, die von der Kitasoo/Xai’Xais Nation erzählt wird. Sie besagt, dass mit dem Rückzug des Eises Rabe – der Schöpfer aller Dinge – ein Tier namens Geisterbär erschaffen hat, das ihn an all das Eis und den Schnee erinnerte. Es ist eine Geschichte, die nicht nur von der Verbindung der First Nations zu den wilden Tieren zeugt, sondern auch von ihren tiefen Wurzeln im Great Bear Rainforest. Das Gebiet von der Größe der Schweiz ist die Heimat von etwa 20.000 Völkern der First Nations.

Aber als Douglas Neasloss, der gewählte Häuptling der Kitasoo/Xai’Xais, in den 1980ern aufwuchs, hat er die Entstehungsgeschichte des Geisterbären nie zu hören bekommen. Tatsächlich wusste er generell nichts von den Geisterbären, denn seit Jahrzehnten wurden die Geschichten über die weißen Verwandten der Schwarzbären geheim gehalten. Die Ältesten befürchteten, dass die Geisterbären – genau wie Schwarzbären und Grizzlybären – von Pelzjägern und Trophäenjägern verfolgt und getötet werden würden, wenn sich ihre Existenz herumsprach.

AUF DER SUCHE NACH DEM GEISTERBÄREN

Als er in den späten 90ern als Wildtierführer zu arbeiten begann und sein Chef ihm auftrug, nach einem weißen Bären zu suchen, war er skeptisch. Er erinnert sich, wie er dachte: „Ihr seid doch verrückt – es gibt keine weißen Bären.“

Aber Neasloss machte sich pflichtbewusst auf in den Wald. Er öffnete gerade seinen Reißverschluss, um sich zu erleichtern, als ein geisterhafter Bär in den Wald trottete und sich keine zehn Meter von ihm entfernt auf das Moos fallen ließ. Er begann, einen Lachs zu verspeisen, den er im nahegelegenen Fluss gefangen hatte, völlig unbeeindruckt von Neasloss‘ Gegenwart. Ein Sonnenstrahl brach für einen Moment durch die Wolkendecke. „Es war magisch“, sagt er.

Kermodebären, die auch Geisterbären genannt werden, zählen zu den seltensten Bären der Welt. Es gibt sie ausschließlich auf dem abgelegenen Archipel der mittleren Küste von British Columbia. Sie sind eine Unterart des Schwarzbären, die weiß geboren werden, wenn zwei dunkle Elterntiere Träger einer unbestimmten genetischen Mutation sind. Die Regierung von British Columbia schätzt, dass es in der Provinz nur 400 dieser Bären gibt – die Jagd auf sie ist illegal.

BELIEBT

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    Ein junger Geisterbär mit seinem Geschwisterchen. Viele Jahre lang hielten die First Nations die Existenz dieser weißen Bären geheim. Die Ältesten befürchteten, dass die Geisterbären von Pelzjägern und Trophäenjägern verfolgt und getötet werden würden, wenn sich ihre Existenz herumsprach.
    Foto von Ian McAllister, National Geographic Creative

    Man würde nicht übertreiben, wenn man sagt, dass Neasloss‘ Begegnung mit diesem Bären geholfen hat, das Schicksal seiner Gemeinde zu wenden. Zu jener Zeit hatte seine Heimatstadt Klemtu mit einer Arbeitslosenquote von 80 Prozent und diversen sozialen Problemen zu kämpfen. Das kleine Städtchen befindet sich auf einer Insel, die nur per Boot zu erreichen ist, und erholte sich noch immer von den Verlusten, die seine Fischfabrik Jahrzehnte vorher eingefahren hatte. Die örtlichen Holzfällerunternehmen drängten die lokalen Beamten, das Abholzen des umliegenden Waldes zu gestatten, um Jobs zu schaffen.

    Neasloss aber hatte einen anderen Einfall. Er glaubte, dass der Wald in seinem intakten Zustand mehr Wert war, und dass auch die darin lebenden Bären – Grizzlys, Schwarz- und Kermodebären – den Kitasoo/Xai’Xais lebend mehr nützten als tot und von Trophäenjägern verstümmelt. Wenn Klemtu sich die Vorliebe der Touristen für die Bären zunutze machen würde und in den Ökotourismus investierte, der in der Region gerade Fuß zu fassen begann, könnte das Städtchen vielleicht wieder auf die Beine kommen, ohne seine natürlichen Ressourcen zu opfern. Es war einen Versuch wert.

    LIEBER EINEN BÄREN IM WALD ALS SEINEN KOPF AN DER WAND

    1999 half Neasloss bei der Gründung der Spirit Bear Lodge in einem kleinen schwimmenden Haus mit rotem Dach, das an den Docks von Klemtu ankerte. Mittlerweile heißt eine luxuriöse neue Lodge Besucher aus aller Welt willkommen. Die meisten von ihnen kommen für eine Tour der Inseln in der Nähe, in der Hoffnung, dort Bären sehen und fotografieren zu können. Alle Gewinne gehen an den Stamm. Der Ökotourismus ist die zweitgrößte Industrie Klemtus, und die Arbeitslosigkeit ist auf zehn Prozent gesunken.

    Doug Neasloss, der gewählte Häutpling der Kitasoo/Xai'Xais Nation, half bei der Gründung der Spirit Bear Lodge in Klemtu, welche den Ökotourismus in der Region in Gang brachte.
    Foto von Krista Langlois

    Aufgrund ihrer wachsenden Abhängigkeit vom Ökotourismus und ihrer lang gehegten Verbindung zum Land waren die Kitasoo/Xai’Xais eine der 27 First Nations, die mit der kanadischen Regierung über den dauerhaften Schutz von 85 Prozent des Great Bear Rainforest verhandelten. Die Gesetzgebung zum Great Bear Rainforest, die 2016 verabschiedet wurde, war sowohl für die Aktivisten unter den Ureinwohnern als auch für internationale Naturschutzgruppen ein Erfolg.

    Aber Neasloss‘ Ansicht nach klaffte darin eine riesige Lücke: Sie beendete die Trophäenjagd auf Grizzlys und Schwarzbären nicht.

    Die Kitasoo/Xai’Xais und andere First Nations an der Küste hatten nie Verträge unterzeichnet, mit denen sie die Rechte an ihrem Land abtraten: 2012 beschlossen sie, die Trophäenjagd in ihren traditionellen Territorien zu verbieten. Die Regierung von British Columbia verfügt jedoch über die gerichtliche Zuständigkeit für einen Großteil des Great Bear Rainforest. Trotz des Verbots der First Nations stellt die Provinzregierung weiterhin Lizenzen aus, mit denen man Grizzlybären und Schwarzbären für ihr Fell oder ihre Köpfe töten darf. Viele Ureinwohner betrachten das als einen Affront gegen ihre Souveränität und ihre Werte.

    „Unser Volk glaubt, dass man ein Tier nicht töten darf, es sei denn zu Ernährungszwecken“, sagt MaryAnn Enevoldsen. Sie ist der gewählte Häuptling der Homalco Nation, die ein Grizzly-Beobachtungsgebiet etwa 320 Kilometer südlich von Klemtu betreibt. „Wir können Tausenden von Menschen die Bären in ihrem natürlichen Lebensraum zeigen, ohne sie zu verletzten oder zu stören. Die ‚Freude‘ darüber, einen Bären zu töten, hat man hingegen nur einmal und sie gilt nur für ein paar wenige Individuen.“

    Ein Kermodebär frisst auf dem bemoosten Boden des Regenwalds einen Fisch. Die Kitasoo/Xai’Xais Nation hat darum gekämpft, den Wald für Jäger zur Verbotszone zu erklären und stattdessen Bärenbeobachtungstourismus zu fördern.
    Foto von Paul Nicklen, National Geographic Creative

    Eine Studie des Zentrums für verantwortungsvolles Reisen aus dem Jahr 2012 fand heraus, dass Besucher des Great Bear Rainforest zwölfmal mehr Geld für das Beobachten von Bären als für die Trophäenjagd ausgeben. Seine Erfahrung hat Doug Neasloss außerdem gezeigt, dass diese beiden Aktivitäten nicht Seite an Seite bestehen können. Vor einigen Jahren führte er gerade eine Touristengruppe durch das Labyrinth aus Inseln bei Klemtu, als er in einem Mündungsgebiet etwas Dunkles still daliegen sah. Er dachte, dass es vielleicht eine tote Robbe sein könnte. Als er das Boot heransteuerte, um einen genaueren Blick darauf zu werfen, offenbarte sich das Objekt als der kopflose Kadaver eines Grizzlybären. Seine Kunden waren entsetzt. Laut Neasloss machen die Jäger die Bären scheuer, weshalb für Touristen die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass sie sie zu sehen bekommen.

    Laut dem zuständigen Ministerium von Brisith Columbia werden von den 15.000 Grizzlybären der Provinz jedes Jahr etwa 250 von Jägern getötet, davon neun im Great Bear Rainforest. Die Jagd auf die etwa 100.000 Schwarzbären der Provinz ist ebenfalls gestattet, allerdings gibt es für sie keine jährliche Abschussquote. Die Regierungsvertreter behaupten, dass die Zahl der getöteten Bären nachhaltig sei, aber einige Biologen der First Nations stellen die wissenschaftlichen Grundlagen der Gerierung in Frage.

    Einer von ihnen ist William Housty, ein Biologe der Heiltsuk Nation. Laut Housty basieren die Zahlen der Regierung auf groben Schätzungen, die aus einer Reihe von Überflügen extrapoliert wurden. Seine eigene Abteilung hingegen arbeitete sechs Jahre lang direkt am Boden an einem Kartierungsprojekt für den Bärenbestand, wofür DNA analysiert analysiert wurde. Dabei wurden große Schwankungen der Grizzly-Population festgestellt, speziell in den letzten Jahren, als die Lachswanderungen nachließen. (Eine Sprecherin der Provinzregierung stimmte zu, dass eine DNA-basierte Bestandsaufnahme der „Goldstandard“ ist. Ihre Abteilung begrüße außerdem von Experten geprüfte, wissenschaftliche Erkenntnisse der First Nations, um ihre eigenen Schätzungen zu ergänzen.)

    Als Reaktion auf einen öffentlichen Aufschrei verkündete British Columbia, dass es ab dem 30. November 2017 die Trophäenjagd auf Grizzlybären im Great Bear Rainforest verbieten will. Laut Neasloss und anderen Aktivisten sind das begrüßenswerte Nachrichten für die First Nations der Küste. Es bedeutet aber nicht, dass der Kampf um den Schutz der Bären im Great Bear Rainforest schon vorbei ist.

    Es gibt noch immer viel zu wenige Wildlife Officers, welche die Jagdbestimmungen in der Praxis durchsetzen können. Ein Großteil der Arbeit bleibt daher an den Coastal Guardian Watchmen hängen. Das Netzwerk der First Nations patrouilliert die abgelegenen Gebiete des Great Bear Rainforest, in welche die provinziellen und staatlichen Officers nicht regelmäßig kommen, um die Aktivitäten darin zu beobachten und die Gesetze der Ureinwohner durchzusetzen. Die Kitasoo/Xai’Xais verstärkten ihre Präsenz mit den Coastal Guardian Watchmen, um Wilderer in den letzten Tagen der Grizzlyjagd abzuschrecken. Aber allein ihre Bemühungen kosten im Jahr etwa 210.000 Dollar – und das ist nur ein Bruchteil der Summe, welche das gesamte Netzwerk den Aktivisten zufolge benötigt.

    Die Kermodebären leben ausschließlich auf dem abgelegenen Archipel der mittleren Küste von British Columbia. Durch eine genetische Mutation, die manche Schwarzbären in sich tragen, erhalten diese „Geisterbären“ ihr weißes Fell.
    Foto von Paul Nicklen, National Geographic Creative

    Solange die Regierung von British Columbia zudem die Trophäenjagd auf Schwarzbären gestattet, ist Neasloss‘ Arbeit nicht beendet. Ohne Schwarzbären gäbe es gar keine Geisterbären. „Jedes Mal, wenn man jemandem eine Genehmigung ausstellt, um einen Schwarzbären zu schießen, könnte dieser Bär das rezessive Gen in sich tragen, das einen Geisterbären erzeugen könnte“, sagt er. Aktuell trifft er sich mit Regierungsvertretern und arbeitet mit anderen First Nations zusammen, um die Provinz davon zu überzeugen, auch die Jagd auf Schwarzbären im Great Bear Rainforest zu verbieten.

    DIE RETTUNG DES BÄREN IST DIE RETTUNG DER KULTUR

    Für viele Völker der First Nations geht es bei dem Ende der Trophäenjagd nicht nur um die Rettung der Tiere oder um den finanziellen Vorteil ihrer Kommunen durch die Bärenbeobachtungen. Es geht auch um das Überleben ihrer Kultur. Wie viele andere Ureinwohner wurden auch die First Nations des Great Bear Rainforest einen Großteil der letzten zwei Jahrhunderte über an den Rand gedrängt. Traditionelle religiöse Zeremonien namens Potlatchs wurden von der kanadischen Regierung bis in die 1950er hinein verboten, geheiligte Insignien wurden also Strafe dafür verbrannt, sie zu besitzen oder zur Schau zu stellen. Tausende Kinder wurden auf Internate geschickt, wo viele von ihnen körperlich misshandelt und gezwungen wurden, ihre Kultur aufzugeben. Sprachen, Essen, Bräuche, Geschichten und Rituale gingen verloren.

    Äpfel sind eine der Lieblingsspeisen der Geisterbären von British Columbia. Die kleine Küstenstadt Klemtu hatte eine Arbeitslosenquote von 80 Prozent, aber der Bärenbeobachtungs-Ökotourismus hat dabei geholfen, diese Zahl auf zehn Prozent zu senken.
    Foto von Paul Nicklen, National Geographic Creative

    Mittlerweile eignen sich die First Nations entlang der gesamten Küste ihre Kulturen wieder an – und der Bären-Ökotourismus ist ein Teil davon. Viele Stämme bauen die „großen Häuser“ wieder auf, in denen die Potlatchs und andere Zeremonien abgehalten wurden, und mitunter tun sie das mit Gewinnen aus dem Tourismus.

    Die Coastal Guardian Watchmen finden die Verbindung zu ihrem traditionellen Land wieder, während sie auf Patrouille sind, um illegale Jäger aufzuspüren. Und die Ältesten, die nicht länger vor Wilderern Angst haben müssen, erzählen wieder die ehrwürdigen Geschichten über Bären, die sie so lange für sich behalten mussten.

    Eine Schotterstraße bringt einen von der Spirit Bear Lodge zu Klemtus großem Haus, einem riesigen Gebäude aus Zedernholz, das 2001 errichtet wurde. Es befindet sich direkt an der Küste, umgeben von Zedern und Fichten, um die der Nebel wabert, und mit einer Öffnung im Dach, um den Rauch des Feuers hinauszulassen. Im Inneren gibt der 24-jährige Barry Edgar eine Führung. Er erzählt von einer neuen Onlinedatenbank, in der digitale Aufzeichnungen der traditionellen Geschichten gespeichert werden. Er spricht von der neuen Generation von Kindern, die mit den alten Geschichten über die einzigartige Verbindung der Kitasoo/Xai’Xais zu den Bären aufwachsen wird, die unter den geschnitzten Totempfählen des großes Hauses erzählt werden.

    „Kultur ist wie eine Blume“, erklärt Edgar, während Besucher Fotos der kunstvollen Schnitzereien machen. „Sie muss im Sonnenlicht stehen, um zu erblühen. Der Tourismus hat uns geholfen zu überleben, weil er uns dazu genötigt hat, uns an Dinge zu erinnern.“

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