Das geheime Leben der Quallen: Roboter, Genetik und Weltherrschaft

Quallen schweben schon länger durch die Weltmeere als fast jedes andere Tier – aber nun könnte ihre Zeit gekommen sein.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 18. Dez. 2017, 15:34 MEZ
Eine Würfelqualle, die bereits einen Fisch verschlungen hat, fängt einen weiteren mit ihren Tentakeln.
Eine Würfelqualle, die bereits einen Fisch verschlungen hat, fängt einen weiteren mit ihren Tentakeln.
Foto von Joël Sartore, National Geographic Photo Ark

Quallen zählen zu den ältesten Tieren im Ozean – sie schwimmen schon seit mehr als einer halben Milliarde Jahre durch die Weltmeere. Aber erst kürzlich haben Wissenschaftler damit begonnen, ein besseres Verständnis für diese schönen, aber tödlichen Organismen zu entwickeln: angefangen von ihrer ausgeklügelten Fortbewegungsmethode bis zu den komplexen chemischen Vorgängen, die für ihr phosphoreszierendes Leuchten verantwortlich sind. Das Bild, das sich daraus ergibt, ist laut der Autorin des Buches „Spineless“, Juli Berwald, das eines „unglaublich gut angepassten, super-eleganten Tieres“.

Im Interview erklärt uns Berwald, die auch für National Geographic geschrieben hat, wie das Leuchten der Quallen die Genetik revolutioniert hat, warum Roboter Quallen nachahmen und wie die Tiere die Versauerung der Meere nutzen, um neue Lebensräume zu erobern.

Courtesy Riverhead Books

Auf Long Island ist das Sommer-Highlight immer die „Blüte“ der Ohrenquallen, wenn wir nachts phosphoreszierendes Wasser haben. Quallen können das Meer zu einem magischen Ort machen. Haben Sie sich deshalb in diese Tiere verliebt?

Ursprünglich war es nicht ihre Schönheit, die mich angezogen hat. Ich habe Bildunterschriften für einen National Geographic-Artikel von Elizabeth Kolbert über saure Meere geschrieben. In dem Artikel gab es eine Grafik, welche die Gewinner und Verlierer eines zukünftigen sauren Ozeans zeigte. Zu den Verlierern zählten alle Tiere mit Schalen, die sich bei einem erhöhten Säuregehalt zersetzen. Auf der Gewinnerseite waren Organismen wie Algen, Mikroalgen, Seetang und Quallen. Da dachte ich: „Wirklich? Wissen wir das mit Sicherheit?“

Ich habe einen Doktortitel in Meereswissenschaften, daher liebe ich es, mir wissenschaftliche Literatur anzusehen. Ich habe mich damit beschäftigt und fand heraus, dass es in der Literatur über Quallen eine gewisse Aufregung und eine Kontroverse gab, und dass ihre Fülle in den geschädigten Meeren der Gegenwart zunahm. Ich dachte: „Das ist interessant.“

Als Muse, die einen dazu inspiriert, über sie zu schreiben, leben sie genau auf dieser Linie, auf der sie sowohl engelsgleich als auch teuflisch sind. Nichts, was sie betrifft, ist eindeutig. Sie sind absolut hinreißend anzusehen, und Sie haben recht, ihre Biolumineszenz ist erstaunlich!

Aber ihr Stich ist scheußlich! Der kann einem nicht nur den Tag am Strand verderben. Manche sind tödlich. Die Würfelqualle ist sehr giftig und lebt im Pazifik. Sie kann einen Mann binnen drei Minute töten und hat genug Kapazitäten für 60 Männer. Leider vergrößert sich ihr Verbreitungsgebiet entlang der australischen Küste aufgrund des Klimawandels in Richtung Goldküste, wo es beliebte Surfstrände gibt.

Was können uns diese scheinbar einfachen Tiere über die Evolution verraten?

Sie existieren schon seit über 500 Millionen Jahren. Es sind definitiv die ältesten schwimmenden Tiere, die es noch auf unserer Welt gibt. Es gibt etwa 200 Arten von Echten Quallen bzw. Schirmquallen. Aber mit den DNA-Analysen, die wir durchführen, finden wir eine Menge Kryptospezies. Vermutlich gibt es dazu noch etwa 2.000 Hydrozoen-Quallen, eine verwandte Gruppe.

Manche Quallen sind nur ein paar Millimeter breit, ungefähr wie der Radiergummi am Ende eines Bleistifts, während andere etwa 225 Kilogramm schwer sein können. Und nicht alle von ihnen sind durchsichtig. Besonders die größeren Arten haben Pigmente entwickelt. Viele von ihnen sind rot, denn wenn man tiefer in den Ozean vordringt, verschwindet der rote Teil des Lichts und die Quallen wirken schwarz – wie ein Einbrecher, der Schwarz trägt, um nicht entdeckt zu werden. Manche sind unglaublich schön. In Japan habe ich mal eine gesehen, die hatte eine Aquamarin-Tarnung an der Oberseite und eine kastanienbraune Tarnung an der Unterseite.

Die Tatsache, dass sie schon so lange existieren, bedeutet, dass sie eine Morphologie, einen Körperbau und Anpassungen entwickelt haben, um zu überleben, zu jagen und nicht gefressen zu werden. Das ist in höchstem Maße elegant. Meiner Meinung nach läuft alles auf die Geschwindigkeit und die Wirkung ihrer Nesselzellen hinaus, die ein Meisterstück der biologischen Evolution sind. Die Nesselkapseln explodieren mit einer Geschwindigkeit, die fünf Millionen Mal größer ist als die Fallbeschleunigung.

Quallen bewegen sich auf faszinierende Weise durch das Wasser. Erzählen Sie uns von der außergewöhnlichen Technologie namens Robojelly.

Wenn wir an das Laufen auf der Erde denken, denken wir daran, uns von hinten abzustoßen, um einen hohen Druck hinter unserem Fuß zu erzeugen. Quallen erzeugen über ihrem Schirm ein Niedrigdrucksystem, das stärker als das Hochdrucksystem hinter ihnen ist. So saugen sie sich durch das Wasser. Als sich Wissenschaftler andere Tiere wie zum Beispiel Neunaugen ansahen, entdeckten sie das Gleiche: ein Niedrigdrucksystem vor dem schlängelnden Körper, welches das Tier durch das Wasser zog.

Robojelly ist eine Art Roboter-Geleemasse aus Silikon und Aktoren, die wie Muskeln agieren und die Masse zusammenziehen. Der ursprüngliche Gedanke dabei war es, einen Unterwasserroboter zu bauen, der sich wie eine Qualle durch das Wasser bewegt. Mittlerweile baut eine Gruppe so einen Roboter von der Größe eines Menschen mit einem Durchmesser von anderthalb Metern. Der Gedanke dahinter ist, dass er tief im Meer schweben und von dort wie ein Spion berichten könnte, und dort mit einem sehr geringen Energieverbrauch lange Zeit bleiben könnte.

Zwei Ohrenquallen schwimmen im Shark Reef Aquarium in Las Vegas.
Foto von Joël Sartore, National Geographic Photo Ark

Sie schreiben, „GFP ist vielleicht das evolutionär erfolgreichste Gen aller Zeiten, es wird mittlerweile sogar als biotechnisches Werkzeug verwendet“. Worum handelt es sich dabei?

GFP ist ein fluoreszierendes Protein. Osamu Shimomura hat in den Sechzigern mit Princeton zusammengearbeitet, um das Leuchten der Quallen zu verstehen. Er konnte die Moleküle bereinigen, welche das Leuchten in Quallen erzeugen. Die werden auch Luciferine genannt, diese Enzyme. Das Leuchten war blau, aber wenn die Quallen im Meer leuchten, sind sie grün. So fand man heraus, dass es noch ein anderes Molekül namens GFP gibt, welches das blaue Licht zu grünem macht.

Das Protein wurde dann von zwei anderen Wissenschaftlern untersucht, Martin Chalfie und Roger Tsien. Sie entdeckten, dass man – fast so, als würde man eine Notiz vor eine E-Mail setzen – den genetischen Code für GFP vor ein Gen einfügen kann, um herauszufinden, was dieses Gen bei einem Tier bewirkte. Das grüne Leuchten zeigte an, wann das Gen von dem Tier aktiviert wurde.

GFP hat die Biotechnologie revolutioniert. Es wurde in Hefe, Kaninchen, Mäuse und Gehirne eingesetzt und so modifiziert, dass es nicht nur in Grün reagierte, sondern auch in vielen anderen Farben wie Rot, Blau und Orange. So kann man untersuchen, auf welche Weise viele verschiedene Gene innerhalb eines Organismus zusammenarbeiten. Diese drei Männer erhielten 2008 den Chemie-Nobelpreis für ihre Arbeit.

Die Biolumineszenz von Quallen wie dieser Rippenqualle bot Wissenschaftlern ein Werkzeug für eine bessere Erforschung der Genetik.
Foto von Jason Edwards, National Geographic Creative

Meine Frau liebt Quallensalat, und Sie offenbar auch.  Welche anderen Kulturen – und welche Tiere – essen gern Quallen?  Und wie schmecken die überhaupt?

In asiatischen Ländern isst man Quallen schon seit Tausend Jahren. Damit man sie essen kann, muss man ihnen ziemlich schnell das Wasser entziehen. Sonst werden sie schlecht, da sich Bakterien im Wasser befinden. In Asien entwässert man sie, indem man sie etwa eine Woche lang in einer Mischung aus Salz und Alaun einlegt. Dann wässert man sie, um das Salz und die Alaune auszuspülen.

Man muss sie nicht mal kochen. Man schneidet sie einfach klein und isst sie als Salat. Sie sind knusprig und haben nicht viel Eigengeschmack. Aber wenn man Sojasauce, Essig und ein bisschen Zucker hinzugibt, schmecken sie fast wie krosser Seetangsalat. Sie sind sehr proteinreich und enthalten extrem viele Antioxidantien.

Manche Menschen in Asien sehen sie auch als Medizin an, um rheumatoide Arthritis zu behandeln, weil sie aus Kollagen bestehen. Man untersucht sie auch auf ihren Nährstoffgehalt, besonders in Italien. Das Problem ist, dass Alaune nicht so gut für einen sind. Sie enthalten Aluminium, was mit Alzheimer in Verbindung gebracht wurde. Daher sucht man nach neuen Möglichkeiten, um die Quallen haltbar zu machen, ohne sie in Alaun-Salz einzulegen. Eine Dänin hat eine Methode entwickelt, bei der Alkohol das Wasser entzieht. Sie hat diese Quallenchips entwickelt.

Als ich mit der Arbeit an meinem Buch angefangen habe, wussten die Leute noch nicht, wie viele verschiedene Tiere eigentlich Quallen fressen. Die Hauptmethode, wie wir die Nahrungsbeziehungen im Ozean erforschen, ist die Untersuchung des Mageninhalts. Man fängt also einen Fisch, schneidet seinen Bauch auf und schaut, was man findet. Da wird man aber nie Quallen sehen!

Aber durch den Einsatz von DNA-Technologie entdecken wir mehr und mehr Tiere, die Quallen fressen. Lederschildkröten und die größten Knochenfische des Meeres – Mondfische – ernähren sich fast ausschließlich von Quallen. Kürzlich haben wir entdeckt, dass Pinguine und Albatrosse eine Menge Quallen fressen. Quallen stehen bei vielen Meerestieren auf dem Speiseplan.

Eine Meerwalnuss im Gulf Specimen-Meereslabor und Aquarium in Florida.
Foto von Joël Sartore, National Geographic Photo Ark

Der Sueskanal ist zu einer Route für invasive Arten geworden, die sich zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer hin und her bewegen. Auch Meeresschutzgebiete sind gefährdet. Erläutern Sie uns diese Problematik.

Durch die Schifffahrt werden Quallen über die ganze Welt transportiert. Wenn Schiffe Ballastwasser aufnehmen, können sie damit auch Quallen aufnehmen. Das Wasser wird dann andernorts wieder abgelassen, und dort könnten gute Bedingungen für Quallen herrschen. Dadurch kann es zu großen Invasionen wie bei den Rippenquallen im Schwarzen Meer kommen, die dort ein ganzes Ökosystem zu Fall gebracht haben.

Die Nomadenqualle ist im Indischen Ozean heimisch, aber in den Achtzigern tauchte sie dann im Mittelmeer auf, vermutlich über den Sueskanal. Jetzt bilden diese Quallen an der Ostküste des Mittelmeers und der Küste Israels riesige Wolken, die mehrere Kilometer lang sind. Vor Kurzem hat sich zum ersten Mal eine riesige Ansammlung vor der ägyptischen Küste sowie vor der Türkei und dem Libanon gebildet. Die können böse stechen. Wenn sie sich rasant vermehren, können sie auch in die Wassersysteme von Kraftwerken gesaugt werden, welche die Maschinen kühlen sollen. Quallen sind glibberig und können die Ansaugsysteme verstopfen. Deshalb muss man die Kraftwerke runterfahren, bis man die Quallen entfernen kann.

Meeresschutzgebiete, die wie Nationalparks an Land funktionieren, gelten für uns als wichtiges Mittel, um den Artenreichtum und die Gesundheit des Meeres zu schützen. Weil es dort keine Zäune gibt, finden Fische dort Zuflucht und es gibt einen Übertragungseffekt auf Gebiete außerhalb des Schutzgebietes, wo das Fischen gestattet ist. Dadurch erhöht sich die Fangquote. Aber auch invasive Arten können in die Meeresschutzgebiete eindringen und einen Vorteil aus dem dortigen Bestand ziehen, wie das kürzlich in Italien geschehen ist. Das heißt aber nicht, dass wir keine Meeresschutzgebiete haben sollten! Die Sache ist komplizierter.

Manche Wissenschaftler sagen, dass wir uns im sechsten großen Massenaussterben des Planeten befinden, und wenn wir nicht aufpassen, könnten Quallen ganze Ökosysteme übernehmen. Steht uns ein Quallen-Zeitalter bevor?

Das ist eine schwierige Frage, weil sie zu Panikmache und Effekthascherei tendiert. Ich fühle mich damit auch nicht ganz wohl, weil wir nicht vorhersagen können, wo und wann Quallenblüten auftreten. Quallen wurden für einen Großteil des 20. Jahrhunderts von der Wissenschaft und den Medien systematisch vernachlässigt, weil unser Verständnis des Meeres von dem eingefärbt ist, was wir in unseren Netzen finden: harten, festen Dingen. Aber die Quallenwissenschaft erreicht nun diese explosive Periode der Erkenntnis.

Können Quallen die Versauerung der Meere überleben? Es gibt Orte auf der Welt, an denen wir kontinuierliche große Quallenblüten sehen, zum Beispiel im östlichen Mittelmeerraum oder an den Küsten von Japan und Namibia, die von Quallen dominiert werden. Aber auf globaler Ebene würde ich nicht sagen, dass wir wissen, was vor sich geht. Das Meer braucht viel mehr Aufmerksamkeit und muss noch mehr untersucht werden. Quallen sind sehr komplex. Wir verstehen sie nicht. Teils sind sie auch deshalb so faszinierend.

Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

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