Verschiedene Persönlichkeiten helfen Tieren beim Überleben

Aggressive Hüttensänger und scheue Kojoten sind für den Erfolg ihrer jeweiligen Art genauso wichtig wie ihre Gegenstücke auf der Persönlichkeitsskala.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 23. Jan. 2018, 15:59 MEZ
Alisa, ein russischer Fuchs, lebt als Haustier in der Nähe von Sankt Petersburg in Russland.
Alisa, ein russischer Fuchs, lebt als Haustier in der Nähe von Sankt Petersburg in Russland.
Foto von Vincent J Musi, National Geographic Creative

Wir kennen alle diese Art Mensch: Aggressive Leute, die sich mit den Ellbogen den Weg an das vordere Ende der Schlange bahnen oder uns beim Autofahren schneiden. Und dann gibt es solche, die nicht so selbstbewusst sind oder den Wünschen anderer gern nachkommen. Auch Tiere zeigen eine ähnliche Varianz in ihrem Verhalten, wenn man dem Biologen John Shivik glaubt. In seinem neuen Buch „Mousy Cats and Sheepish Coyotes“ ergründet er die Wissenschaft von Tierpersönlichkeiten und wie diese dabei helfen, die notwendige Spannung zwischen Individualität und Kooperation im Gleichgewicht zu halten.

Von seinem Zuhause in Logan in Utah aus erklärt Shivik, warum Macho-Hüttensänger nicht immer am erfolgreichsten sind, wie Delfine nach dem Hurrikan Katrina auf traumatische Ereignisse reagierten und warum unterschiedliche Persönlichkeiten ein wichtiger Faktor für die Evolution sind.

Die Vorstellung, dass Tiere Persönlichkeiten und Gefühle haben, ist relativ neu. Erklären Sie uns die Theorie dahinter und warum sie unser Verständnis der Evolution verändert.

Damit treffen wir den Kern der Sache! Die Idee einer tierischen Persönlichkeit ist gleichzeitig neu und nicht neu. Wenn man mit einem Tierhalter spricht oder mit irgendjemandem, der mit Tieren arbeitet, dann werden sie einem die ganze Zeit erzählen, dass das alles Individuen mit eigenen Persönlichkeiten sind. In der wissenschaftlichen Literatur kann man sehen, dass Jane Goodall und andere schon seit etlichen Jahren so denken. Der eigentliche Unterschied ist, dass man in meiner Branche in den letzten zehn bis zwanzig Jahren alles vermieden hat, was auch nur nach Anthropomorphismus aussah. Jetzt gestatten wir uns als Wissenschaftlern langsam, die Persönlichkeit von Tieren zu untersuchen.

Wir haben gerade erst angefangen, diese Fragen zu stellen und diese Untersuchungen durchzuführen, damit wir über die Aussage hinauskommen können, dass ein Guppy eine Persönlichkeit hat oder ein Wasserläufer oder eine Spinne, eine Krabbe oder ein Hüttensänger. Der interessante Teil ist, wie wir das in die Wissenschaft einbinden und Persönlichkeiten sowie individuell variierendes Verhalten im Kontext der Ökologie und der Evolution untersuchen. Das ist ein aufregender Bereich.

Renee Duckworths Arbeit mit Blaukehl-Hüttensängern ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Sie hat sich mit aggressiven und mit eher schüchternen Männchen beschäftigt. Man sollte meinen, die aggressiven Männchen würden den Wettstreit gewinnen, da sie ihr Revier verteidigen und alle anderen Arten sowie Artgenossen draußen halten. (Lesenswert: Warum sind manche Hunde aggressiver?)

Das Problem ist Folgendes: Je mehr Zeit sie mit Kämpfen verbringen, desto weniger Zeit verbringen sie damit, ihre Partnerin zu versorgen. Daher haben sie nicht so viel Nachwuchs. Wie können sich aggressive Männchen also innerhalb der Population überhaupt halten? Wie sich herausstellt, ist ihre aggressive Natur sehr nützlich, um neue Reviere zu erobern. Das ist ein großartiges Beispiel dafür, wie eine Verhaltensvarianz die Ökologie einer Art beeinflusst.

Sie selbst haben hauptsächlich mit Kojoten im Yellowstone-Nationalpark gearbeitet. Welche individuellen Persönlichkeitsmerkmale konnten Sie da beobachten? An einer Stelle bezeichnen Sie sie sogar als „bipolar“.

[Lacht] Das ist ein guter Punkt im Hinblick darauf, wie wichtig die Persönlichkeit in Sachen Wildtier-Management ist. Ich habe Kojoten eingefangen und ihnen zu Studienzwecken ein Funkhalsband angelegt. Wir wollten die Kojoten davon abhalten, Schafe zu reißen.

Normalerweise sind Kojoten sehr scheu und unterwürfig. Sie rollen sich auf den Rücken und sind eigentlich recht einfach zu handhaben. Aber eines Tages fing ich ein ganz bestimmtes Männchen ein und das hat sich das einfach so gar nicht gefallen lassen. Es hat sich sehr von den anderen Kojoten unterschieden, mit denen ich zu tun hatte. Es hat es sogar geschafft, sich aus den Fesseln zu befreien, aufzuspringen und mich zu beißen. (Lesenswert: Die besten Lügner des Tierreichs)

Unter Kojoten gib es also solche, die in der Nähe von Menschen und in Städten leben können. Es gibt Kojoten im Central Park und in Downtown Chicago. Andere machen sich fernab von Menschen besser. Genau so gibt es in der Natur Kojoten, die Schafe reißen, und solche, die das nicht tun. Wenn wir den Problemtyp ausmachen können, können wir bestimmte Kojoten davon abhalten, Schafe zu reißen, anstatt einfach zu sagen, dass wir alle Kojoten töten müssen. Mit anderen Worten: Können wir in unserem Management effizienter und besser sein?

Sie erzählen eine faszinierende Geschichte darüber, wie einige Delfine auf ein Erlebnis im Zuge des Hurrikans Katrina reagierten.

Das waren günstige Beobachtungen eines ungünstigen Vorfalls. Die Forscher haben die Delfine von ihren Trainern hinsichtlich verschiedener Persönlichkeitskategorien bewerten lassen, ähnlich wie beim Myers-Briggs-Persönlichkeitstest. Am Ende hatten sie also ein Persönlichkeitsprofil für jeden Delfin. Dann kam Katrina und die Tiere wurden aus ihren Becken hinaus ins offene Meer gespült. Da sie in einem Ozeanarium aufgewachsen waren, hatten sie keine Ahnung, was sie dort tun sollten.

Die Trainer konnten sie alle wieder einsammeln und in einer neuen Anlage unterbringen. Dann sollten sie die gleiche Einschätzung noch mal vornehmen und dabei waren zwei Dinge besonders bemerkenswert. Erstens hatten die Tiere so ziemlich dieselben Ergebnisse wie zuvor. Wir erfuhren also, dass Tiere individuelle Persönlichkeiten haben, die wir voneinander unterscheiden können. Aber wir haben auch gelernt, dass diese Persönlichkeiten über die Zeit hinweg gleichbleibend sind.

Einer der Delfine tanzte aber aus der Reihe. Vor Katrina war er gewissermaßen ein recht unbekümmerter und fröhlicher Delfin. Aber nach diesem tragischen Ereignis hatte er höhere Neurotizismuswerte und niedrigere Extroversionswerte. Meine Interpretation ist – und das ist ein weiterer Grund, warum wir tierische Persönlichkeiten in Bezug zu menschlichen Persönlichkeiten begreifen müssen –, dass wir an dieser Stelle einen Beleg für eine posttraumatische Belastungsstörung haben. (Lesenswert: Auch Wale trauern um ihre Toten)

All diese Delfine haben ein traumatisches Ereignis erlebt, aber nur einen von ihnen hat das maßgeblich verändert. Genau das Gleiche können wir auch bei dem Tier namens Mensch beobachten. Wir können also eine Menge über Menschen lernen, wenn wir mehr über Tiere lernen.

In der menschlichen Gesellschaft gibt es Menschen, die lieber zu Hause bleiben, und Menschen, die eher zu Abenteuern neigen. Ich war überrascht davon, dass es das auch in der Tierwelt gibt. Erklären Sie uns, wie das funktioniert.

Anstatt mich an Organismen oder Taxonomie zu orientieren, unterteile ich tierisches Verhalten in generelle Themen. Ein solches Thema ist das Konzept eines Stubenhockers oder Erkunders, das wir auch bei Menschen haben. Für die frühe Besiedlung Nordamerikas stiegen ein paar Leute in Boote und ein paar blieben zurück, um die Heimat zu verteidigen.

Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür aus der Tierwelt sind die Hüttensänger. Da gibt es aggressive Männchen, die in neue Gebiete fliegen und sie übernehmen, wie eine einfallende Armee. Aber letztendlich sind diese Tiere keine guten Besatzer. So hat man also verschiedene individuelle Typen von Tieren – manche machen sich gut als einfallende Armee und manche von ihnen sind eher Besatzer, die besser darin sind, miteinander zu leben und ihre Partner zu versorgen.

Eines der berühmtesten Experimente, bei dem man einen Persönlichkeitstyp aus einem wilden Tier züchten wollte, benutzte russische Füchse. Erzählen Sie uns von „Martin“.

Das ist ein berühmtes Experiment, das noch immer läuft und von dem einige Leser vielleicht schon gehört haben. Die Forscher gingen durch eine Pelzfarm und die Tiere, die vor Menschen nicht zurückscheuten – wie sie es im Normalfall tun –, wurden zur Zucht ausgewählt, die über mehrere Generationen lief.

In der ersten Generation gab es nur ein oder zwei Prozent, die man als domestiziert und tolerant gegenüber Menschen bezeichnen konnte. Aber in der 30. Generation kamen schon die Hälfte der Tiere Menschen gegenüber tolerant und freundlich zur Welt.

Ich würde nicht sagen, dass es gute Haustiere sind. Es sind immer noch Füchse. Aber man kann sie durchaus als Haustiere halten. Martin war ein Fuchs aus diesem Programm, der mit einer Frau zusammen in einer Wohnung in Moskau lebte.

Sie schreiben: „Die Spannung zwischen dem Individuum und der Gruppe ist die Grundspannung des Lebens.“ Erläutern Sie uns dieses Konzept.

Ich bin so froh, dass Sie das fragen! Die Natur erfordert Varianz in Körperbau und Verhalten. Ich argumentiere, dass das Verhalten eine treibende Kraft ist, da wir gezeigt haben, wie es die Ökologie einer Art beeinflussen und ihren Lebensraum vergrößern kann, damit sie unter verschiedenen Umständen überleben kann. Ohne Varianz gibt es kein Überleben, wenn sich die Umgebung verändert. Das bedeutet, dass wir viele Individuen brauchen.

Was die Natur außerdem erfordert, ist Kooperation. Das sehen wir in allem, angefangen bei den Eukaryoten bis zur menschlichen Gesellschaft. Wir haben also diese zwiespältigen Aspekte: die Notwendigkeit für Individuen innerhalb einer Gaußkurve mit Persönlichkeitstypen von aggressiv bis schüchtern, und die Notwendigkeit der Kooperation. Wenn jemand asoziales Verhalten zeigt, wie wir das bei manchen Tieren und Menschen sehen, kann das in manchen Situationen gut sein. Aber wenn man zu asozial ist, kann man nicht mehr kooperieren und ist dem Untergang geweiht. Die Natur ist ein Optimierungsprozess und wir sollten darüber nachdenken – sowohl was die Menschheit, aber auch was die Tiere angeht –, wie wir unsere Vielfalt am besten optimieren, während wir gleichzeitig Kooperation ermöglichen.

Verschiedene menschliche Kulturen haben grundverschiedene Einstellungen zum Individuum oder zur Gruppe. China ist beispielsweise ein eher gruppenorientiertes Land, während in den meisten westlichen Ländern das Individuum im Vordergrund steht.

Das ist ein ausgezeichneter Punkt. Man kann diese verschiedenen Strategien auf einer individuellen Ebene sehen, aber es gibt auch die Frage, was die Persönlichkeit einer ganzen Gruppe eigentlich ist. Das ist im Grunde eine Kultur, nicht wahr? Man sieht diese verschiedenen Ebenen auf einer persönlichen, genetischen Ebene, aber eine Gruppe aus Persönlichkeiten bildet auch eine Kultur, ob das nun Affen oder Menschen sind. Das deutet auch auf eine moralische Biologie hin, bei der wir als Kultur oder Gesellschaft Vielfalt haben wollen. In der Vielfalt liegt Stärke, das ist keine reine Wohlfühl-Idee. Aber wo sind die Grenzen dieser Vielfalt?

Ich behaupte, dass es eine Analogie zwischen Verhaltensproblemen und Krebs gibt. Wenn eine Zelle ein solches Individuum ist, dass sie sich eigentlich nur vermehren und alle Ressourcen aufbrauchen will und somit alle anderen Zellen um sich herum sowie ihren Wirtskörper tötet, was ist so eine Zelle analog bei Menschen? Das ist ein Psychopath, ein Krebs der Gesellschaft. Aber was ist Psychopathie? Was ist das Böse? Die Biologie kann helfen, einige dieser Fragen zu beantworten.

Sie beenden Ihr Buch mit etwas, das auf den ersten Blick wie eine sehr unwissenschaftliche Annahme wirkt. Lassen Sie mich in Anspielung auf den berühmten Song der Beatles also fragen: Ist Liebe wirklich alles, was wir brauchen?

[Lacht] Ich bin zu diesem Schluss gekommen und wir können sagen, dass das wissenschaftlich oder unwissenschaftlich ist. Aber um diese Spannung zwischen dem Individualismus und der Kooperation zu optimieren, brauchen wir – und ich habe dafür noch nicht den besten Begriff gefunden – ein Schmiermittel. Ich habe mich da auf das Konzept von Emotionen und Liebe festgelegt und darauf, dass man Bindungen eingeht. Indem wir mit anderen Individuen Bindungen eingehen, können wir das Konzept unser eigenen Individualität erkunden und anderen gleichzeitig ermöglichen, sie selbst zu sein.

Ich kann Ihnen keine endgültige Antwort darauf geben, ob es Liebe auch im Tierreich gibt. Darwin würde sagen, dass Arten mit ähnlichen Gehirnen und ähnlicher Neurologie wahrscheinlich auch ähnliche Emotionen und innere Zustände haben. Ich kann das nicht beweisen. Aber ich denke nicht, dass es eine haarsträubende Schlussfolgerung wäre anzunehmen, dass andere Tiere ähnliche Mechanismen wie Menschen haben, um miteinander zurechtzukommen.

Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

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