Auch Schlangen brauchen Freunde

Die schlanken Reptilien sind nicht so kaltblütig, wie es ihre Körpertemperatur vermuten lässt. In Gefangenschaft zeigen sie klare Präferenzen, was ihre Gesellschaft angeht.

Von Virginia Morell
Veröffentlicht am 4. Juni 2020, 11:25 MESZ
Eine Östliche Strumpfbandnatter Thamnophis sirtalis sirtalis

Die Östliche Strumpfbandnatter Thamnophis sirtalis sirtalis ist im Osten Nordamerikas heimisch.

Foto von Michelle Gilders, Alamy

Schlangen gelten gemeinhin als kühle, einzelgängerische Tiere, denen die Gegenwart ihrer Artgenossen genauso egal ist wie die unsere.

Immer deutlicher zeigt sich aber: Das ist falsch – ganz besonders im Falle von Strumpfbandnattern.

Die ungiftigen Tiere, die von den kühlen Ebenen Kanadas bis zu den Wäldern Costa Ricas zu finden sind, zeigen deutliche Präferenzen, was die Gesellschaft anderer Schlangen angeht. Oder einfach ausgedrückt: Sie haben „Freunde“.

„Alle Tiere, sogar Schlangen, müssen mit anderen interagieren“, sagt Morgan Skinner. Der Doktorand für Verhaltensökologie an der kanadischen Wilfrid Laurier University führte eine Studie zu den sozialen Interaktionen der schlanken Reptilien durch. Um seine Theorie zu ergründen, erdachte Skinner ein neuartiges Experiment, mit dem er die Persönlichkeiten und die Geselligkeit Östlicher Strumpfbandnattern (Thamnophis sirtalis sirtalis) testete.

Galerie: 22 spektakuläre Porträts von Schlangen

Die Ergebnisse zeigten, dass sie „genau wie wir soziale Kontakte suchen und dabei wählerisch sind“, sagt Skinner, dessen Studie in „Behavioral Ecology and Sociobiology“ erschien.

Die Vorstellung, dass Schlangen Freunde haben, mag vielen seltsam erscheinen – aber tatsächlich werden solche Beziehungen im Tierreich durch entsprechende Beobachtungen und Studien immer deutlicher, ob es sich nun um Flamingos, Fledermäuse oder Elefanten handelt. Eine Analyse des Sozialverhaltens von Vampirfledermäusen offenbarte beispielsweise, dass sie genau wie Menschen Freundschaften an gewisse Bedingungen knüpfen.

Heutzutage können Wissenschaftler solche Verhaltensweisen vermutlich besser erkennen als noch vor 30 Jahren. Das liegt zum einen daran, dass viele Gesellschaften das Konzept tierischer Freundschaften heute eher akzeptieren, zum anderen auch aber den besseren Werkzeugen zum Sammeln und Auswerten von Daten.

Wie jagen Schlangen giftige Beute?
Laut einer neuen Studie haben Zwergklapperschlangen spezielle Taktiken für verschiedene Beutetiere.

Die Analyse sozialer Netzwerke von Wildtieren wie Schlangen „hat in den letzten paar Jahrzehnten große Sprünge gemacht“, sagt der Co-Autor der Studie, Noam Miller. Er ist ein komparativer Psychologe und Skinners Doktorandenbetreuer.

Dieses spezielle Forschungsfeld vertieft sich zunehmend, und mittlerweile ist es üblich, das Wort „Freund“ zu benutzen, wenn man von Beziehungen zwischen nicht menschlichen Tieren spricht.

Noch im Jahr 2012 sah das anders aus, kann Melissa Amarello bestätigen. Der Herpetologin und Direktorin von Advocates for Snake Preservation wurde geraten, das Wort „Freunde“ in ihrer Forschungsarbeit über Klapperschlangen in Arizona nicht zu verwenden.

„Es ist wirklich toll, diese Studie zu sehen“, sagt sie.

Schlangen-Gangs

Für ihre Untersuchung beobachteten Miller und Skinner 40 junge Östliche Strumpfbandnattern. 30 davon stammten von Müttern, die aus der Wildnis entnommen wurden, und 10 aus einer Züchtung.

Um die Tiere auseinanderhalten zu können, malte Skinner jedem von ihnen mit ungiftigen Farben Punkte auf den Kopf. In seinem Labor hielt er dann je zehn der Schlangen – Männchen und Weibchen gemischt – in Terrarien mit jeweils vier Kunststoffunterschlüpfen. Weil er mehr Schlangen als Unterschlüpfe gab, mussten die Tiere Gruppen bilden.

Acht Tage lang zeichnete eine Kamera von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends alle fünf Sekunden Bilder des Terrariums auf, sodass die Bewegungen der Schlangen nachvollziehbar waren. Zweimal pro Tag fotografierte Skinner außerdem die vorhandenen Schlangengrüppchen. Dann holte er die Schlangen raus, reinigte das gesamte Terrarium, entfernte alle Gerüche und legte sie wieder zurück – aber an andere Stellen als zuvor.

Östliche Strumpfbandnattern rollen sich gern zusammen ein, um sich warm zu halten und sich besser gegen Fressfeinde verteidigen zu können.

Foto von Tom Gantert

Die Schlangen hatten allerdings ihre eigenen Vorstellungen. Sie blieben nicht dort, wo Skinner sie platziert hatte, sondern bildeten wieder ihre vorherigen Gruppen von drei bis acht Tieren in den kleinen Unterschlüpfen. Außerdem suchten sie Kontakt zu genau den Schlangen, mit denen sie zuvor auch Zeit verbracht hatten.

„Sie haben eine komplexe Kognition“, sagt Miller. „Sie können andere Individuen unterscheiden.“

Abenteuerlustige Reptilien

Die Wissenschaftler testeten auch die Persönlichkeiten der Schlangen – genauer gesagt, ob sie eher zurückhaltend oder eher unerschrocken waren. Bei den meisten Wildtierstudien zu Persönlichkeiten wird die individuelle Tendenz auf eben dieser Achse gemessen. Um herauszufinden, wo sich die jeweiligen Strumpfbandnattern verorten ließen, setzten sie jede davon allein in einen Unterschlupf.

Zurückhaltende Individuen neigten dazu, genau dort zu bleiben, und zogen nicht in einen größeren Unterschlupf um. Die unerschrockenen Schlangen verhielten sich hingegen wie kleine Entdecker, schlängelten oft sofort aus ihrem Unterschlupf heraus und erkundeten ihre Umgebung.

Galerie: Ziemlich beste Freunde: Ungewöhnliche Tierfreundschaften

Sobald sich die Reptilien aber in Gruppen befanden, traten diese Persönlichkeitsmerkmale in den Hintergrund und die Schlangen folgten fast immer der Gruppe. Womöglich dient diese Strategie dazu, in der Wildnis den Schutz dieser Gruppe zu genießen.

Natürlich sind die Erkenntnisse aus diesem Experiment insofern nur eingeschränkt gültig, als dass es im Labor durchgeführt wurde. „Tiere verhalten sich in Gefangenschaft anders. Ich frage mich deshalb, wie sich dieses Verhalten auf den natürlichen Lebensraum übertragen lässt“, so Amarello.

Da wilde Strumpfbandnattern aber ebenfalls Gruppen bilden, vermuten Miller und Skinner, dass solche Beziehungen auch in der Natur auftreten – und zwar bei vielen Reptilienarten.

„Keine hintersinnigen Einzelgänger“

Obwohl tierische Freundschaften dieser Tage immer wieder Schlagzeilen machen, warnt Miller vor voreiligen Vergleichen: Freundschaften im Tierreich „haben womöglich nichts mit den Gründen zu tun, aus denen Menschen Freunde haben“.

Tatsächlich haben Wissenschaftler bislang noch keine Ahnung, welche Motivation hinter den Freundschaften von Strumpfbandnattern steckt. Sie können allerdings sagen, dass es nichts mit der Fortpflanzung zu tun hat: Die Schlangen in der Studie zeigten bei ihren Freundschaften keine Präferenz für das andere Geschlecht.

Aber irgendeinen Vorteil müssen diese Partnerschaften bieten – andernfalls würden die Tiere wohl keine Energie für die Pflege dieser Bindungen verschwenden. Befreundete Schlangen rollen sich beispielsweise gerne zusammen ein. Das hilft ihnen dabei, Wärme zu speichern und sich vor Fressfeinden zu verteidigen.

Der genaue Grund für diese Bindungen mag zwar noch nicht geklärt sein, aber der Evolutionsbiologe Gordon Burghardt von der University of Tennessee hofft, dass die Studie „die Menschen davon überzeugt, dass Schlangen nicht einfach nur hintersinnige Einzelgänger sind, sondern eine größere Intelligenz und ein größeres soziales Repertoire besitzen, als vielen von uns klar ist.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

 

Schlangen

2:01

„Ninjaratten“ wehren Angriffe von Klapperschlangen ab

loading

Nat Geo Entdecken

  • Tiere
  • Umwelt
  • Geschichte und Kultur
  • Wissenschaft
  • Reise und Abenteuer
  • Fotografie
  • Video

Über uns

Abonnement

  • Magazin-Abo
  • TV-Abo
  • Bücher
  • Disney+

Folgen Sie uns

Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved