Ansteckende Emotionen: Hunde und ihre Besitzer fühlen gleich

Eine ganze Reihe neuer Studien belegt, dass Hunde die Gefühle von Menschen nicht nur wahrnehmen können, sondern sich diese auch auf sie übertragen.

Von Stacey Colino
Veröffentlicht am 5. Okt. 2021, 16:29 MESZ
Ein Mädchen und ihr Hund in Boone County, West Virginia.

Ein Mädchen und ihr Hund in Boone County, West Virginia.

Foto von Stacy Kranitz

Viele Menschen sind der Überzeugung, dass Hunde menschliche Emotionen lesen können. Dass sie mit dieser Annahme richtig liegen, zeigen eine Reihe neuer Studien, die sogar noch einen Schritt weitergehen: Hunde können nicht nur anhand des Verhaltens ihres Menschen dessen Gefühle wie Angst, Aufregung und Wut erkennen – sie lassen sich sogar von ihnen anstecken.

Ähnlich wie menschliche Kleinkinder, die sich in ihren Reaktionen in Bezug auf fremde Menschen und ihre Umwelt an dem Verhalten ihrer Eltern orientieren, suchen Hunde bei Herrchen und Frauchen nach Hinweisen darauf, wie eine Situation einzuordnen ist. Strahlt ihr Besitzer Ruhe, Gelassenheit und Selbstbewusstsein aus, bedeutet das für den Hund, dass die Umgebung sicher ist.

Hunde reagieren mit Körpersprache auf wütende Menschen

„Die emotionale Verbindung spielt in der Mensch-Hund-Beziehung eine äußerst wichtige Rolle“, sagt Clive Wynne, Psychologieprofessor und Leiter des Canine Science Collaboratory an der Arizona State University in Tempe. „Hunde sind erstaunlich soziale Wesen, darum lassen sie sich leicht von der Zuneigung und Freude ihres Umfelds anstecken.“ Doch auch das Gegenteil ist der Fall, wenn sich der Stress und die Angst des Besitzers auf den Hund übertragen.

„Interspecies Emotional Contagion“, also die Übertragung von Emotionen zwischen unterschiedlichen Spezies, ist psychologisch, physiologisch und im Verhalten begründet. In den vergangenen Jahren wurden mehrere Studien veröffentlicht, die zeigen, dass verschiedene Faktoren für diese Übertragung von Emotionen verantwortlich sind: die Ausschüttung bestimmter Hormone – zum Beispiel Oxytocin –, eine Veränderung des Körpergeruchs des Menschen, Schlüsselneuronen und andere physiologische Faktoren.

Instinktive Empathie

Wie intensiv der emotionale Austausch ist, ist unterschiedlich: In manchen Fällen werden die Gefühle des anderen erkannt und verstanden, in anderen übernommen und geteilt.

Studien zeigen, dass unser Gähnen auf Hunde ansteckend wirkt und ihr Cortisolspiegel steigt, wenn sie ein Baby weinen hören – derselbe Vorgang wird auch im menschlichen Körper ausgelöst. Sie reagieren außerdem auf emotionale Untertöne in unserer Stimme. Wenn Mensch und Hund miteinander interagieren – oder sich einfach nur gegenseitig in die Augen sehen – führt das bei beiden zur Ausschüttung von Oxytocin, dem sogenannten Kuschelhormon. Die Auswirkungen von Oxytocin sind äußerst vielschichtig und reichen von Gefühlen des Vertrauens und der Großzügigkeit bis hin zu Neid.

„Die Ausschüttung von Oxytocin wird durch Augenkontakt oder soziale Berührungen wie Streicheln in Gang gesetzt – und das sowohl beim Menschen als auch beim Hund. Es ist eine Art Pingpong-Spiel“, erklärt Larry Young, Psychiater am und Leiter des Silvio O. Conte Center for Oxytocin and Social Cognition an der Emory University in Atlanta, Georgia. „Damit es zu einer emotionalen Übertragung kommt, muss der Hund dazu in der Lage sein, die Gefühle seines Besitzers wahrzunehmen. Das wiederum setzt ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit voraus, das durch Oxytocin begünstigt wird: Das Hormon sorgt dafür, dass das Gehirn für soziale Signale empfänglich ist.“

BELIEBT

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    Hunde legen gegenüber Menschen, denen sie sich verbunden fühlen, affektive Empathie an den Tag. Das heißt, sie besitzen die Fähigkeit, die Gefühle dieser Personen instinktiv zu verstehen. Emotionale Übertragung, die sich in der Fähigkeit zeigt, die Gefühle eines anderen zu teilen, ist eine primitive Form der affektiven Empathie. Für eine Studie aus dem Jahr 2020, die in der Zeitschrift Canadian Journal of Experimental Psychology veröffentlicht wurde, untersuchten Forscher die Reaktion von Hunden, in deren Zuhause entweder ihr Besitzer oder eine fremde Person lachte oder weinte. Sie beobachteten, dass die Hunde Personen, die zu weinen schienen, besonders große Aufmerksamkeit schenkten: entweder durch intensiveren Blickkontakt oder durch körperliche Nähe. Laut Julia Meyers-Manor, Psychologieprofessorin am Ripon College in Wisconsin und Co-Autorin der Studie, war der Stresshormonspiegel bei den Hunden besonders erhöht, wenn eine ihnen unbekannte Person weinte.

    „Emotionale Übertragung ist Teil der Empathie“, so Meyers-Manor. „In gewisser Weise ist das Erkennen von Gefühlen in kognitiver Hinsicht komplexer als Gefühle mitzufühlen.“

    Der Grund dafür, warum Menschen sich von der emotionalen Verfassung ihres Gegenübers oft anstecken lassen, liegt in ihrer Neigung, Mimik, Körperhaltung und Körpersprache des anderen zu spiegeln – ohne sich dessen bewusst zu sein. Die Muskelbewegungen aktivieren Spiegelneuronen im Gehirn: Nervenzellen, die sowohl dann reagieren, wenn eine bestimmte Aktion – wie zum Beispiel Lächeln – aktiv ausgeführt wird, als auch wenn diese bei jemand anderem beobachtet wird. Das Gehirn übernimmt die beobachtete Emotion: Sie wird sozusagen kopiert, fühlt sich aber ganz natürlich an. Dieses Phänomen wurde auch bei Hunden beobachtet, die miteinander spielen, und es ist durchaus möglich, dass es ebenso zum Wirken kommt, wenn Mensch und Hund miteinander interagieren.

    Es ist dabei unerheblich, ob man selbst Hundebesitzer ist oder nicht: Menschen sind sehr gut darauf eingestellt, die positiven und negativen Gesichtsausdrücke von Hunden zu deuten, was teilweise daran liegt, dass sich die Mimik der beiden Spezies ähnelt.

    Hunde haben andere Mimik, wenn sie von Menschen beobachtet werden

    Julia Meyers-Manor erklärt, dass sowohl bei wütenden Menschen als auch bei wütenden Hunden dieselbe Körpersprache zu beobachten sei: Die Gesichtsmuskulatur ist angespannt, die Zähne zusammengebissen, der Körper verkrampft. Befindet sich ein Mensch in der Gegenwart eines wütenden Hundes – oder umgekehrt – sei es demnach möglich, dass beide unbewusst den Gesichtsausdruck und die Körpersprache des anderen spiegeln und dadurch die Emotion Wut vom anderen übernehmen. „Aufgrund der engen Verbindung zwischen Hund und Mensch haben sich die beiden Spezies miteinander entwickelt – und das hat mit der Zeit dazu geführt, dass sie die Gefühlsregungen des anderen lesen können. Das ist außergewöhnlich für zwei Spezies“, sagt Julia Meyers-Manor.

    Lange Zeit gingen Forscher davon aus, dass die emotionale Übertragung für die Hunde während ihrer Domestizierung Teil einer Überlebensstrategie war: Hunde, die die Gefühle ihrer Besitzer lesen und teilen konnten, wurden besser behandelt. Dieser Blick auf die Dinge hat sich in der letzten Zeit jedoch gewandelt. Eine aktuelle Studie, die in der Zeitschrift Scientific Report erschienen ist, belegt, dass die enge Bindung und die gemeinsame Lebenserfahrung von Hund und Besitzer der Grund für die Ausschüttung von Oxytocin während ihrer Interaktionen sind. Laut einer anderen Studie aus dem Jahr 2019, die in der Zeitschrift Frontiers in Psychology veröffentlicht wurde, nimmt die Intensität der emotionalen Übertragung zwischen dem Menschen und dem Hund immer mehr zu, je mehr Zeit beide miteinander verbringen.

    Hören, sehen, riechen… mitfühlen

    Hunde nehmen Emotionen mit allen Sinnen wahr. Experten sind sich einig, dass Hunde außergewöhnlich begabt darin sind, Gesichtsausdrücke und Körpersprache von Menschen zu lesen. Manche Studien haben gezeigt, dass Hunde Informationen über die Gefühlslage von Menschen und anderen Hunden überwiegend aus der Körpersprache ziehen. Es gibt jedoch auch einige, die zu dem Schluss kommen, dass die menschliche Mimik dem Hund verrät, wie sein Gegenüber sich fühlt. Laut einer Studie, die im Jahr 2018 in der Zeitschrift Learning & Behavior erschien, reagieren Hunde auf sechs verschiedene menschliche Gesichtsausdrücke – Wut, Angst, Freude, Traurigkeit, Überraschung und Ekel – mit einer Veränderung des Blicks und der Herzfrequenz.

    „Uns ist bekannt, dass Menschen und Hunde ihr Verhalten aufeinander einstellen. Hunde gleichen ihre Bewegungen zum Beispiel oft an die natürlichen Bewegungen ihres Besitzers an. Die Tatsache, dass dies auch für die Emotionen gilt, ist nicht überraschend“, sagt Monique Udell, Verhaltenswissenschaftlerin und Professorin für Tierwissenschaften an der Oregon State University in Corvallis. „Hunde beobachten uns Menschen sehr genau. Aber nicht nur, indem sie unseren Blick und unsere Körpersprache wahrnehmen, sondern auch, indem sie auf die Laute hören, die wir machen und unseren Geruch deuten.“

    Forscher haben herausgefunden, dass Hunde auf Laute wie Lachen und Weinen anders reagieren als auf nicht menschliche Geräusche, indem sie sich der Person, die den Laut von sich gegeben hat, nähern.

    Auch die feine Hundenase spielt eine Rolle. „Hunde reagieren äußerst sensibel auf Körpergerüche – deswegen sind sie in der Lage, Diabetes und vermutlich auch Epilepsie bei Menschen zu erschnüffeln“, sagt Clive Wynne.

    19 Gesten, über die Hunde mit uns sprechen
    Genau wie menschliche Babys nutzen auch Hunde nonverbale Kommunikation, um zu bekommen, was sie wollen.

    Für eine Studie, die 2018 in der Zeitschrift Animal Cognition erschien, führten Forscher ein Experiment durch, bei dem Labradoren und Golden Retrievern drei verschiedene Proben menschlicher Körpergerüche vor die Nase gesetzt wurden: Angst, Freude und ein neutraler Geruch. Um diese Proben zu erhalten, lösten die Wissenschaftler die entsprechenden Gefühle in männlichen Personen aus und machten Abstriche ihrer Achselhöhlen. Die gewonnenen Geruchsproben wurden dann über eine spezielle Sprühvorrichtung in einem Bereich verteilt, in dem sich die Hunde entweder in Anwesenheit ihres Besitzers oder einer fremden Person frei bewegen konnten. Waren sie dem Geruch von Angst ausgesetzt, zeigten sie starke Anzeichen von Stress und ihre Herzfrequenz erhöhte sich. Lag ein Geruch von Freude in der Luft, waren die Hunde entspannter und zeigten größeres Interesse an fremden Personen.

    Wenn sie menschliche Emotionen wahrnehmen, „verknüpfen Hunde die verschiedenen Informationen, die sie aus dem, was sie sehen, hören und riechen, ziehen“, erklärt Marc Bekoff, Autor des Buches A Dog’s World und emeritierter Professor für Ökologie und Evolutionsbiologie an der University of Colorado in Boulder.

    Laut Bekoff darf man jedoch nicht vergessen, dass nicht alle Hunde in psychologischer, physiologischer und sozialer Hinsicht gleich sind. „Hunde sind Individuen. Man muss sie kennen“, sagt er. „Ich sage immer: Man muss fließend Hund sprechen.” Um zu verstehen, was der Hund ihm mit seinen Lauten und durch Mimik und Körpersprache mitteilen will, sei es nötig, dass der Besitzer sich auf sein Tier einlässt.

    Beruhen Emotionen auf Gegenseitigkeit?

    Die Bandbreite der Emotionen, die ein Hund fühlen kann, ist im Vergleich zu der eines Menschen wahrscheinlich begrenzt. „Ich glaube nicht, dass die Gefühlswelt der Hunde besonders komplex ist“, sagt Clive Wynne. „Sie verfügen über Ur-Emotionen: Freude und Aufregung, Angst und Sorge.“ Darüber hinaus gäbe es einige Unbekannte. Eine der größten Schwierigkeiten bei dieser Art der Forschung sei, dass Hunde nicht klar beschreiben können, wie sie sich gerade fühlen.

    Marc Bekoff stimmt ihm zu. „Ich bin überzeugt, dass wir die Emotionen von Hunden ebenso wahrnehmen wie umgekehrt. Angst und Stress zu erkennen, ist dabei leichter. Doch man merkt auch ziemlich schnell, wenn ein Hund freudig erregt ist, weil er dann mit wedelndem Schwanz und nach vorne gestellten Ohren auf einen zu kommt.“

    Eine Situation, in der Stress und Anspannung sich sowohl beim Hund als auch beim Menschen zeigen, ist das Gehen an der Leine: Bellt der Hund und zerrt während des Spaziergangs an der Leine, um andere Hunde, Menschen oder Autos anzuspringen, löst das in vielen Besitzern Gefühle von Stress und Scham aus. Ihr Körper spannt sich an, was wiederum die Angst und Sorge des Hundes verschärft und dazu führen kann, dass er sein ungewolltes Verhalten wiederholt – ein Teufelskreis.

    Trotzdem hat das gemeinsame Erleben von Emotionen mehr Vor- als Nachteile. Es hilft dabei, eine tiefgehende Bindung aufzubauen und ist auch in Bezug auf das Überleben wertvoll. „Für unsere Vorfahren ging es bei der Frage, ob der Hund auf Gefahren hinweist und damit ein schnelles Handeln möglich macht, um Leben und Tod“, sagt Clive Wynne. „Wenn zwei Spezies aufeinander aufpassen, profitieren beide davon.“

    Die Qualität der Bindung zwischen Hund und Mensch steigt mit dem Teilen eines Zuhauses, einer Familie und durch gemeinsame Aktivitäten. Das Teilen von Gefühlen „hilft dabei, einander besser zu verstehen und eine Beziehung entstehen zu lassen, die sich mit der Zeit weiterentwickeln kann und immer inniger wird“, sagt Marc Bekoff. „Gemeinsame Gefühlserfahrungen sind das, was die Einheit aus Hund und Mensch zusammenhält.“ Ein starker Kleber, der uns aneinanderbindet – oft ein Leben lang.

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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