Selten und außergewöhnlich: Lehrer in der Tierwelt

Nur bei wenigen Tierarten kann beobachtet werden, dass ausgewachsene Tiere dem Nachwuchs Wissen und Fähigkeiten aktiv weitergeben. Was einen Lehrer ausmacht, ist in der Biologie klar definiert. Diese Tiere erfüllen die nötigen Kriterien.

Von Brian Handwerk
Veröffentlicht am 9. Sept. 2022, 14:44 MESZ
Ein ausgewachsenes Erdmännchen mit drei Jungtieren.

Ausgewachsene Erdmännchen verwenden viel Zeit darauf, ihrem Nachwuchs das sichere Erlegen von Skorpionen, ihrer Lieblingsspeise, beizubringen.

Foto von Thomas P. Peschak, Nat Geo Image Collection

Tiere sind zu allerhand erstaunlichen Dingen fähig – und wie sie diese Fähigkeiten erlernen, beschäftigt die Forschung schon lange.

In manchen Fällen werden sie vererbt: Auf welcher Route Monarchfalter von Mexiko nach Kanada migrieren, ist zum Beispiel in ihren Genen verankert. Andere Tiere wiederum imitieren einfach das Verhalten ihrer Artgenossen: Junge Wölfe zum Beispiel lernen durch die Beobachtung des Rudels, wie ein Elch erlegt wird. Und bei manchen Spezies gilt das Motto: Versuch macht klug. Auf diese Weise haben zum Beispiel Geradschnabelkrähen herausgefunden, dass sich der Wasserstand in einem Gefäß erhöht, wenn sie Steinchen hineinwerfen.

Das aktive Beibringen von Wissen und Fähigkeiten ist in der nichtmenschlichen Tierwelt jedoch eine Seltenheit. Nur bei einer Handvoll Spezies – darunter Vögel, Primaten und Insekten – konnten Individuen ausgemacht werden, die die Funktion eines Lehrers erfüllen.

“Es wurde sich lange regelrecht dagegen gewehrt, zu glauben, dass es auch in der Tierwelt Lehrer gibt – insbesondere, weil das Lehren als eines der Merkmale gesehen wird, das uns Menschen so besonders macht.”

von Lisa Rapaport
Verhaltensökologin an der Clemson University in South Carolina

„Es wurde sich lange regelrecht dagegen gewehrt, zu glauben, dass es auch in der Tierwelt Lehrer gibt – insbesondere, weil das Lehren als eines der Merkmale gesehen wird, das uns Menschen so besonders macht“, sagt Lisa Rapaport, Verhaltensökologin an der Clemson University in South Carolina.  

Ihr zufolge wird ein „Tierlehrer“ in der Biologie dadurch definiert, dass er sein Verhalten vor dem Schüler ändert, ohne dass sich für ihn daraus direkte Vorteile ergeben. Zudem muss nach der Lektion erkennbar sein, dass der Schüler durch sie neues Wissen oder eine neue Fähigkeit erlangt hat.

Wir haben einige Beispiele für Lehrer in der Tierwelt zusammengefasst.

BELIEBT

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    Erdmännchen leben in sozialen Gruppen mit einer Größe von bis zu 30 Tieren in Subsahara-Afrika. Die Jungen werden sowohl von ihren Eltern als auch von anderen ausgewachsenen Mitgliedern der Gruppe unterrichtet.

    Auf dem Speiseplan der Erdmännchen stehen unter anderem verschiedene Skorpionspezies – doch ihr Stich kann tödlich sein. Deswegen ist das Wissen darum, wie die Beute richtig zu handhaben ist, überlebenswichtig. Um den Nachwuchs an die Aufgabe heranzuführen, bringen die Eltern ihren Neugeborenen zunächst tote Skorpione. Ältere Erdmännchenkinder erhalten lebende Skorpione, die jedoch vorher unschädlich gemacht wurden, indem die ausgewachsenen Tiere zuvor den Giftstachel entfernten.

    Je erfahrener und geschickter die Jungen werden, desto schwieriger werden die Lektionen – bis die Schüler schließlich dazu in der Lage sind, Skorpionstachel selbst gefahrlos zu entfernen und ihre Beute zu töten.

    Obwohl diese Lehrstunden für die ausgewachsenen Tiere bedeuten, dass ihnen weniger Zeit für andere Aktivitäten bleibt, sind sie auch für sie von Vorteil. Durch das Beibringen dieser wichtigen Fähigkeiten, sorgen sie dafür, dass ihre Gruppe überlebt und ihre Gene weitergegeben werden.

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    Musikunterricht im Ei

    Australische Prachtstaffelschwänze beginnen besonders früh mit dem Unterricht – nämlich noch bevor ihre Küken schlüpfen. Die Mutter singt dem Gelege bis zu 30 Mal pro Stunde ein bestimmtes Lied vor und bringt den Embryos so eine spezifische Tonfolge bei. Nachdem sie geschlüpft sind, machen die Küken die Laute nach, wenn sie von Mutter oder Vater – der das Lied ebenfalls von der Mutter gelernt hat – gefüttert werden wollen.

    Sonia Kleindorfer, Biologin an der Flinders University in Adelaide, Australien, hat mit ihrem Forschungsteam im Rahmen einer Studie untersucht, was passiert, wenn man Eier aus verschiedenen Nestern wildlebender Prachtstaffelschwänze untereinander vertauscht. Es zeigte sich, dass die Küken nach dem Schlüpfen das Lied der Pflegemutter singen. Das bedeutet, dass die einzigartige Tonfolge nicht genetisch bedingt, sondern erlernt ist.

    Die Vogelmutter hat einen guten Grund, ihrem Nachwuchs diesen Code beizubringen: Es kommt nicht selten vor, dass ein Kuckuck ein Ei in das Nest eines Prachtstaffelschwanzes legt um die Mühen des Brütens und der Aufzucht abzuwälzen – man spricht in diesem Fall von Brutparasitismus. Allerdings findet die Eiablage durch den Kuckuck zu spät statt, als dass der Embryo noch das Lied der Prachtstaffelschwanzmutter lernen könnte. Das fremde Küken wird so nach dem Schlüpfen als wortwörtliches Kuckuckskind entlarvt und die Mutter verschwendet keine Energie auf die Aufzucht von Küken, die nicht ihre eigenen sind.

    Ameisen als Wegweiser

    Wenn eine Steinameise (Temnothorax albipennis) eine neue Nahrungsquelle oder gute Brutstelle gefunden hat, führt sie Artgenossen mit einer sozialen Lerntechnik namens Tandemlauf zu dem Fundort. Die lehrende Ameise leitet ihren Schüler entlang bis zum Ziel und hält dabei regelmäßig an, damit der Schüler sich verschiedene Wegpunkte merken kann. Durch das Klopfen mit einem Fühler signalisiert der Schüler dem Lehrer, dass er sich den Punkt eingeprägt hat.

    „Die lehrende Ameise bringt so ein anderes Individuum dazu, sich auf einen besseren Neststandort einzulassen. Davon profitieren alle Ameisen in der Kolonie und es trägt dazu bei, dass ihre Gene reichhaltiger an die nächste Generation weitergegeben werden“, erklärt Nigel Franks, emeritierter Professor für Biologie an der University of Bristol in England. Als Co-Autor veröffentlichte er im Jahr 2006 eine Studie, die dieses Verhalten beschreibt – der erste publizierte Beweis für das aktive Lehren unter nichtmenschlichen Tieren.

    Jagdunterricht bei den Orcas

    Der Lebensraum hat einen großen Einfluss darauf, welche Beutetiere auf dem Speiseplan von Orcas stehen. In Norwegen arbeiten sie in Gruppen zusammen, um Hering-Schulen zu dichten Wolken zusammenzutreiben, bevor sie die Fische mit Schwanzhieben außer Gefecht setzen und fressen. In der Antarktis schließen sie sich zusammen, um Jagd auf Weddellrobben zu machen, die dann von ihren Eisschollen direkt in die offenen Mäuler wartender Orcas gespült werden. Forschende glauben, dass Eltern diese Situationen teilweise nutzen, um ihren Jungen beizubringen, wie man Beute fängt.

    Die Orcas vor der Küste Patagoniens stranden beispielsweise absichtlich, um Seelöwenjunge zu fangen. Schon bevor dieser selbst mit der Jagd beginnt, zeigen die ausgewachsenen Tiere dem Nachwuchs, wie das gefährliche Manöver richtig durchzuführen ist. Wenn nötig, schieben sie die Schüler wieder zurück ins Wasser.

    Ähnlich wie die Erdmännchen erhöhen auch die Orcas vor der Küste Alaskas nach und nach den Schwierigkeitsgrad ihrer Jagd-Lektionen. Erst bringen die Lehrer Seemöwen mit dem Hieb ihrer Schwanzflosse aus der Flugbahn, damit die Schüler lernen, wie sie mit der Beute umzugehen haben und ihre eigene Hiebtechnik entwickeln können. Nach und nach führen die Schüler mehr Aspekte der Jagd selbst aus, bis sie schließlich die Hilfe des Lehrers nicht mehr brauchen.

    Diese Lektionen sind nicht nur ein Beispiel für das Lehren, sondern auch für Kultur. Von dieser spricht man, wenn das soziale Wissen einer Gruppe an die nächste Generation weitergegeben wird. „Die Orcas bringen ihrem Nachwuchs nicht nur wichtige Fähigkeiten für das Überleben bei, sondern seit Generationen bestehende Traditionen, die für sie eine große Bedeutung haben“, erklärt der Tierfotograf und National Geographic Explorer Brian Skerry.

    Betreute Nahrungssuche bei den Löwenäffchen

    Die Jungen der Goldenen Löwenäffchen in der brasilianischen Mata Atlântica müssen einen ganzen Lehrgang durchlaufen, in dem sie die Nahrungssuche von über 150 verschiedenen Arten von Früchten, Insekten, Baumfröschen, Echsen und anderen Beutetieren erlernen.

    „Als Tierkind muss man erst lernen, wo man seine nächste Mahlzeit finden kann und sie zu fassen bekommt, ohne dabei gebissen oder gestochen zu werden“, erklärt Lisa Rapaport, die das Lehren und Lernen der Löwenäffchen erforscht hat.

    Darum etablieren die ausgewachsenen Tiere zunächst einen „Komm und hol's dir“-Ruf, mit dem sie den Jungen das Vorhandensein von Nahrung anzeigen. Danach werden die Schüler an immer schwierigere Futtersituationen herangeführt: vom Erkennen einer Obstsorte bis hin zum Ergreifen der Beute in einem Baumloch.

    Rapaport stellte noch eine andere Eigenschaft fest, die bei nichtmenschlichen Lehrern eine echte Rarität ist: Je mehr Unterstützung ein Schüler benötigt, desto mehr Aufmerksamkeit bekommt er.

    „Während unserer Forschung fehlten die nötigen Methoden, um eindeutig sagen zu können, dass Junge, die langsam lernen, besonders gefördert werden. Mein persönlicher Eindruck ist aber, dass das definitiv der Fall ist“, sagt sie. „Ich würde mir wünschen, dass dieser Aspekt in Zukunft weiter erforscht wird.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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