„Planetarer Notstand“: Kipppunkte des Erdklimas kommen eher als gedacht
„Die Leute begreifen nicht, wie wenig Zeit uns bleibt“, befürchten Forscher. Hoffnung macht, dass sich ein gesellschaftliches Umdenken anzubahnen scheint.
Führende Klimawissenschaftler warnen: Die Hinweise darauf, dass nicht umkehrbare Veränderungen in den klimatischen Systemen der Erde im Gange sind und wir einer planetaren Notsituation entgegensteuern, häufen sich. Eine Kaskade von Kipppunkten könnte einen globalen Kipppunkt zur Folge haben, wodurch mehrere Erdsysteme eine Reihe irreversibler Rückkopplungseffekte auslösen, so die Forscher.
Diese Möglichkeit stelle „eine existenzielle Bedrohung für die Zivilisation“ dar, schrieben Tim Lenton und seine Kollegen in „Nature“.
Ein solcher Kollaps der Erdsysteme könnte zu einem Heißzeit-Szenario führen, bei dem die Temperaturen um 5 °C ansteigen, der Meeresspiegel sich um sechs bis neun Meter hebt, die weltweiten Korallenriffe und der Amazonas-Regenwald absterben und große Teile des Planeten für Menschen unbewohnbar werden.
Eine weltweite Reaktion auf diesen Notfall sei nötig, um die Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen, waren die Wissenschaftler: „Die Stabilität und Resilienz unseres Planeten sind in Gefahr.“
„Es ist ein ziemlicher Schock, dass die Kipppunkte, mit denen wir weit in der Zukunft rechneten, bereits aktiv sind“, sagte Lenton in einem Interview.
Der langsame Zusammenbruch des Westantarktischen Eisschilds scheint beispielsweise bereits begonnen zu haben. Die jüngsten Daten zeigen zudem, dass ein Teil des Ostantarktischen Eisschilds womöglich ebenfalls zu schmelzen begonnen hat, erklärt Lenton, der an der University of Exeter als Klimawissenschaftler tätig ist. Falls beide Eisschilde schmelzen würden, könnten sie den Meeresspiegel in den nächsten paar Jahrhunderten um sieben Meter anheben.
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„Exeter, wo ich mich befinde, wurde vor 1.900 Jahren von den Römern gegründet. In 1.500 Jahren wird es wahrscheinlich unter Wasser liegen“, sagt er. „Wir sollten das Erbe, das wir künftigen Generationen hinterlassen, nicht einfach ignorieren – ganz egal, wie weit die Folgen in der Zukunft liegen.“
Der West- und das Ostantarktische Eisschild sind nur zwei von neun Kipppunkten, die deutliche Anzeichen dafür zeigen, dass ihnen irreversible Entwicklungen bevorstehen.
Einst nur Theorie, nun Realität
Das Konzept solcher Kipppunkte wurde vor 20 Jahren vom Weltklimarat (IPCC) aufgebracht. Der Verlust des Westantarktischen Eisschilds, des Amazonas-Regenwalds oder das Auftauen des Permafrosts gelten als Kipppunkte, weil sie eine kritische Schwelle überschreiten können. Jenseits dieser Schwelle verändert sich ihr Zustand abrupt und unumkehrbar. Genauso mag beispielsweise ein 200 Jahre alter Baum in einem Wald nach 20 Axtschlägen noch stehen – und der 21. Schlag kann ihn plötzlich zum Umstürzen bringen.
Einst dachte man, dass Kipppunkte erst erreicht würden, wenn die globale Erwärmung die Grenze von 5 °C überschreitet. Die Berichte des Weltklimarats aus dem vergangenen Jahr warnen jedoch, dass sie bereits bei einem Temperaturanstieg von 1 bis 2 °C ausgelöst werden können. Jeder weitere Anstieg der globalen Temperatur erhöht das Risiko, einen der 30 großen Kipppunkte zu aktivieren. Aktuell befinden wir uns bei einem Temperaturanstieg von 1 °C – und es scheint, als würden die ersten Systeme nun langsam zu kippen beginnen. Genau wie bei dem metaphorischen Baum im Wald weiß niemand, ob der nächste Schlag mit der Axt – oder das nächste Grad – zum Umsturz führen wird.
Selbst, wenn die Länder ihren Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen nachkommen und ihre Emissionen reduzieren, wird die globale Temperatur trotzdem um mehr als 3 °C ansteigen.
Die weltweiten CO2-Emissionen, die bislang jedes Jahr weiter angestiegen sind, müssten von heute bis 2030 jedes Jahr um 7,6 Prozent sinken, damit die Erwärmung auf etwa 1,5 °C begrenzt werden kann, heißt es in einem UN-Bericht vom 26. November.
Die klimatischen und ökologischen Systeme der Erde sind eng miteinander verflochten. Angetrieben von der Wärme der Sonne beeinflussen die Atmosphäre, die Meere, die Eisschilde, lebende Organismen wie Wälder sowie der Boden die Bewegung dieser Wärme über der Erdoberfläche allesamt in einem gewissen Maß. Weil die verschiedenen Elemente unseres globalen Klimasystems miteinander interagieren, bedeutet eine größere Veränderung in einem dieser Elemente, dass auch andere Elemente davon betroffen sind. Wenn wir zu dem 200 Jahre alten Baum zurückkommen, bedeutet das, dass er bei seinem Sturz in andere Bäume fallen und sie wie bei einem Dominoeffekt mit sich reißen kann.
Was in der Arktis passiert, bleibt dort nicht
Wissenschaftler warnen, dass gerade genau das im irdischen Klimasystem passiert: Verschiedene Kipppunkte beginnen langsam ineinander zu stürzen. Durch den Verlust des arktischen Meereises während der Sommermonate der letzten 40 Jahre liegt nun mehr wärmeabsorbierendes Meerwasser frei und es gibt 40 Prozent weniger Eis, welches die Sonnenstrahlen reflektiert. Dadurch verstärkt sich die Erwärmung in der Arktis, wodurch wiederum der arktische Permafrost schneller taut. Das setzt mehr CO2 und Methan frei, die in der Atmosphäre zur Erderwärmung beitragen.
Die wärmere Arktis hat bereits großflächig zur Störung der Insektenwelt und zu mehr Waldbränden beigetragen. Eine direkte Folge davon ist das Sterben der nordamerikanischen borealen Nadelwälder. Diese Wälder könnten nun mehr Kohlendioxid abgeben, als sie aufnehmen.
“„Die Leute begreifen nicht, wie wenig Zeit uns bleibt.“”
So eng miteinander verflochtene Systeme können Auswirkungen haben, die den gesamten Planeten betreffen. Durch die Erwärmung der Arktis und das Schmelzen des Grönländischen Eisschilds fließt mehr Süßwasser in den Nordatlantik. Das könnte zu der kürzlich beobachteten Verlangsamung eines Strömungssystems zwischen Nordeuropa und Nordamerika beigetragen haben, der sogenannten Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC). Dieses System transportiert die Wärme aus den amerikanischen Tropengebieten nordwärts und sorgt dafür, dass es auf der nördlichen Hemisphäre verhältnismäßig warm ist.
Viele klimatische Kipppunkte werden in Relation zu einem menschlichen Leben wahrscheinlich sehr langsam ablaufen. Der Kollaps der antarktischen Eisschilde wird sich wohl beispielsweise über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende abspielen, sagt Glen Peters, der Forschungsleiter des norwegischen Zentrums für Internationale Klimaforschung.
„Es ist unklar, wann die meisten Kipppunkte in Gang kommen“, so Peters, der an der Studie in „Nature“ nicht beteiligt war.
Planetarer Klimanotstand
Wichtig sei, zu wissen, dass der globale Temperaturanstieg nicht allein von menschlichen CO2-Emissionen verursacht wird, betont die Co-Autorin des Berichts, Katherine Richardson. Sie arbeitet als Professorin für biologische Ozeanografie an der Universität Kopenhagen. Die natürlichen Erdsysteme wie Wälder, Polarregionen und Meere spielen ebenfalls eine große Rolle.
„Auf die müssen wir achten“, sagte Richardson in einem Interview.
Es ist schon zu spät, um einige Kipppunkte noch zu verhindern: Es gibt Belege dafür, dass neun davon bereits aktiv sind, sagte sie. Das Risiko, dass sie in einem Dominoeffekt einen unumkehrbaren globalen Kipppunkt auslösen, der ungeheure Folgen für die menschliche Zivilisation hätte, rechtfertige es, einen globalen Klimanotstand auszurufen.
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Um das Risiko dafür zu minimieren, müsste die globale Erwärmung so nah wie möglich am 1,5-Grad-Ziel bleiben, indem die Kohlendioxidemissionen auf null reduziert werden. Es wird aber mindestens 30 Jahre brauchen, um eine CO2-Neutralität zu erreichen, sagt Richardson. „Das ist unsere optimistischste zeitliche Einschätzung.“
„Ich glaube, die Leute begreifen nicht, wie wenig Zeit uns bleibt“, sagte Owen Gaffney, ein globaler Nachhaltigkeitsanalyst am Stockholm Resilience Center der Universität Stockholm. „In ein oder zwei Jahrzehnten erreichen wir 1,5 °C. Und da uns nur drei Jahrzehnte bleiben, um vom CO2 runterzukommen, ist das ganz klar eine Notsituation“, sagt Gaffney, ein weiterer Co-Autor des Kommentars.
„Ohne Notfallmaßnahmen werden unsere Kinder wahrscheinlich einen gefährlich instabilen Planeten erben“, sagte er in einem Interview.
Die Wirtschaft hat Priorität
Derweil zeigt ein UN-Bericht, dass die USA, China, Russland, Saudi-Arabien, Indien, Kanada, Australien und andere Länder planen, bis 2030 etwa 120 Prozent mehr fossile Brennstoffe zu produzieren. Dieselben Regierungen haben sich dazu verpflichtet, die globale Erwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen – aber scheinen sich mehr Sorgen um ihr Wirtschaftswachstum zu machen.
Keine noch so große Menge an wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Analysen kann uns jetzt, wo die Existenz unserer Zivilisation in Gefahr ist, noch helfen, schreiben Gaffney und seine Co-Autoren. Regierungen sind stark auf die Beratung von Wirtschaftswissenschaftlern angewiesen, aber abgesehen von ein paar Ausnahmen hat der Berufsstand der Menschheit bisher einen ziemlich schlechten Dienst erwiesen, weil er den Klimawandel nicht in seine Forschungen einbezieht, sagt Gaffney. Nur ein Bruchteil der Artikel und Studien in Wirtschaftsfachzeitschriften beschäftige sich mit dem Klimawandel, wie er anmerkt.
Die Risiken der Klimakipppunkte werden aktuell bei keinen ökonomischen Analysen der Klimapolitiken mit einbezogen, gibt Geoffrey Heal zu, ein Ökonom an der Columbia Business School in New York City. „Wenn man das tun würde, würde das einen großen Unterschied machen […] und nahelegen, dass wir unsere Klimapolitik massiv ausbauen sollten“, schrieb Heal in einer E-Mail.
„Wenn die Kipppunkte erreicht werden, […] birgt das ein großes Risiko für Finanzanlagen, für die wirtschaftliche Stabilität und für das Leben, wie wir es heute kennen“, sagt Stephanie Pfeifer, die Geschäftsführerin der Institutional Investors Group on Climate Change (IIGCC). Die Investorengruppe managt Anlagen im Wert von mehr als 30 Billionen Dollar. Es sei deutlich billiger, einen weiteren globalen Temperaturanstieg zu verhindern, als dessen Folgen zu managen, schrieb Pfeifer in einer E-Mail.
„Wir brauchen mehr und viel umfassendere Maßnahmen gegen den Klimawandel“, sagt sie.
Hoffnung auf „gesellschaftliche Kipppunkte“
Die Reduzierung des weltweiten CO2-Ausstoßes hat seit 2010 durchaus Fortschritte gemacht, sodass ein 2-Grad-Ziel im Bereich des Möglichen liegt, wie es in einem neuen Bericht heißt, der am 2. Dezember in „Environmental Research Letters“ veröffentlicht werden soll. Insgesamt sind die CO2-Emissionen zwar gestiegen, aber der Anstieg konnte relativ niedrig gehalten werden – und könnte schon bald den Sprung zur Reduzierung schaffen.
Durch Einsparungen von CO2-Emissionen – beispielsweise durch größere Energieeffizienz und erneuerbare Energiequellen – können die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreicht werden, „wenn wir in allen Wirtschaftssektoren zu aggressiven Maßnahmen bereit sind“, sagt Daniel Kammen. Der Co-Autor der Studie ist ein Professor für Energie an der University of California in Berkeley.
Es gibt auch gesellschaftliche Kipppunkte, sagt Gaffney. Einer davon wäre ein wirtschaftlicher Kipppunkt, an dem der Preis für erneuerbare Energien auf den Märkten unter den Preis für fossile Brennstoffe fällt. „Die Preise für erneuerbare Energien sinken und ihre Leistung steigt. Das ist eine unschlagbare Kombination.“
Immer mehr Länder wie Großbritannien haben bereits einen politischen Kipppunkt erreicht und sich selbst das Ziel gesetzt, bis 2050 CO2-neutral zu werden. „Mittlerweile existiert eine gewisse Zuversicht, dass das machbar und bezahlbar ist“, sagte er.
Auch im US-Wahlkampf für 2020 spielen ambitionierte Klimapläne eine große Rolle.
Im Laufe der letzten zwölf Monate scheint ein geschärftes Bewusstsein für die Problematik wie eine Welle über die Nationen der Welt geschwappt zu sein: Millionen junger Schüler, Studenten und viele andere Bürger schlossen sich Demonstrationen an und fordern sofortiges politisches Handeln zur Klimarettung, sagt er. Gleichzeitig setzen sich immer mehr Firmen, Unternehmen und Städte strenge Klimaziele.
„Diese Kipppunkte nähern sich einander an und könnten dafür sorgen, dass in den 2020ern der rasanteste Wirtschaftswandel der Geschichte stattfindet“, so Gaffney.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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