Lockdown als Segen: Stille Meere reduzieren Stress bei Walen

Die Pandemie bietet Forschern eine überaus seltene Gelegenheit, das Meeresökosystem ohne die konstante Lärmbelastung durch Menschen zu erforschen.

Von Craig Welch
Veröffentlicht am 20. Juli 2020, 15:04 MESZ
Ein Buckelwal springt in der warmen Monterey Bay in Kalifornien aus dem Wasser.

Ein Buckelwal springt in der warmen Monterey Bay in Kalifornien aus dem Wasser.

Foto von Paul Nicklen, Nat Geo Image Collection

Die Pandemie hat Ruhe in die Gewässer der kalifornischen Monterey Bay gebracht. Verschwunden waren die Schnellboote, die Jachten und die Walbeobachtungstouren. Geschlossene Restaurants und Docks nahmen der kommerziellen Fischerei den Wind aus den Segeln. Kreuzfahrtschiffe blieben in ihren Häfen.

Anfang des Jahres, als die ersten Lockdowns aufgrund des Coronavirus in vollem Gange waren, bot sich dem Walforscher und National Geographic Explorer Ari Friedlaender eine seltene Gelegenheit. Er war gerade von seinen Walstudien in der Antarktis zurückgekehrt und fand eine einmalige Situation vor: nur wenige Autos auf der Straße, praktisch keine Schiffe auf dem Wasser und Buckelwale, die aus ihren mexikanischen Winterquartieren in Kalifornien eintrafen. Eines der beliebtesten Erholungsgebiete an der Küste des Bundesstaats war plötzlich still. Die zahlreichen von Menschen verursachten Geräusche, die Meerestieren bekanntlich schaden, waren verstummt.

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Friedlaender erhielt deshalb die Erlaubnis, die Gewässer der Monterey Bay zu befahren. Während die Buckelwale sich mit Sardinen und Sardellen vollstopften, nahm er Gewebeproben von 44 Walen. Damit will er ihren Hormonspiegel untersuchen, der mit dem Stress der Meeressäuger steigt und fällt.

Von Kalifornien über Alaska bis zu den sumpfigen Buchten Südfloridas bieten die ungewöhnlichen Situationen, die durch die Coronavirus-Pandemie entstanden sind, Meereswissenschaftlern eine einmalige Gelegenheit. Sie können nun ganz direkt eine Fragestellung erforschen, über die seit Jahrzehnten spekuliert wird: Wie sehr verändert unser Lärm das Leben der Meeresbewohner tatsächlich?

Unterseeische Lärmbelastung

Es ist kein Geheimnis, dass menschlicher Lärm für eine ganze Reihe von Meeresbewohnern nichts Gutes bedeutet. Es wurde bereits nachgewiesen, dass das Sonar der Marine bei Schnabelwalen Embolien verursacht, wenn sie auf der Flucht vor den Sonarpulsen schnell aufsteigen. Das niederfrequente Summen der Containerschiffe hingegen übertönt die Walrufe so gründlich, dass die Kakophonie einige Tiere ganz zum Schweigen bringt. Und Weißflankenschweinswale änderten spontan ihre Schwimmgewohnheiten, um dem Lärm vorbeifahrender Schiffe auszuweichen.

Doch Wissenschaftler haben in den letzten Jahren gelernt, dass sich die Auswirkungen des Meereslärms nicht nur auf Wale beschränken. Akustischer Stress kann Robben, Fische, Tintenfische und sogar einfache Lebewesen wie Austern beeinträchtigen. Außenbordmotoren ließen einige Rifffische abstumpfen, die vor dem Geruch von Raubtieren nicht mehr flohen. Laute Geräusche können Jakobsmuscheln Missbildungen bescheren, die ihre Überlebensfähigkeit mindern, Grönlanddorsche aus ihren Nahrungsgründen vertreiben und Schwärme von Thunfischen verstreuen, wodurch sich möglicherweise ihr Migrationsverhalten verändert.

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    Auch der niederfrequente Schall seismischer Luftgewehre, die bei der Kartierung des Meeresbodens und der Öl- und Gasexploration eingesetzt werden, schadet dem Meeresökosystem. Selbst in einer Entfernung von einem Kilometer kann er das winzige Zooplankton, das die Grundlage der Nahrungskette im Meer bildet, vollständig abtöten.

    Diese Entdeckungen sind umso bedeutender, weil die Globalisierung in den letzten fünfzig Jahren zu einem dramatischen Anstieg des Schiffsverkehrs geführt hat. Tatsächlich hat die Wissenschaft in den letzten zwei Jahrzehnten enorm viel über die Auswirkungen des Lärms auf das Lebens im Meer gelernt. Aus diesem Grund hat die National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) 2016 einen Zehnjahresplan zur Kartierung und Untersuchung der wachsenden Kakophonie in unseren Meeren verabschiedet.

    Überlasteter Frequenzbereich

    „Fast alles Leben unter Wasser ist auf Schall angewiesen“, sagt Michelle Fournet, eine akustische Ökologin an der Cornell University. Sie leitet das Sound Science Research Collective, eine gemeinnützige Gruppe von Experten für Lärm in der Wildnis. „Wir wissen mit Sicherheit, dass viele lebenswichtige Funktionen beeinträchtigt werden, wenn es zu laut wird“, sagt Fournet.

    Anders als Licht bewegt sich Schall effizient durch das Wasser. Hydrophone in der Monterey Bay können Regenspritzer auf der Meeresoberfläche noch in einer Tiefe von mehreren hundert Metern registrieren. Im Wasser kann der Knall einer sogenannten „Robbenbombe“ – winzige Sprengkörper, mit denen kommerzielle Ringwadenfischer Robben und Seelöwen von ihren Netzen vertreiben – erstaunlich weit reisen.

    „Wenn man auf dem Deck eines Schiffes steht, hört man nur ein ganz leises dumpfes Geräusch“, sagt John Ryan, ein Bio-Ozeanograf am Monterey Bay Aquarium Research Institute. Unter der Oberfläche jedoch kann das Geräusch der explodierenden Sprengkörper um den Kontinentalschelf reisen und bis tief in den Monterey Submarine Canyon vordringen.

    Wie genau all diese Geräusche einzelnen Arten schaden können, lässt sich allerdings nicht so einfach herausfinden. Schnellboote und Außenbordmotoren erzeugen durchdringende hohe Töne, während große Handelsschiffe wie Tanker und riesige Frachtschiffe einen dumpfen Lärm erzeugen, ähnlich der pulsierenden Geräuschkulisse einer Stadt. Geräusche, die für eine Spezies schädlich sein können, nimmt eine andere Spezies schon gar nicht mehr wahr. Blauwale verständigen sich teils mit Geräuschen unterhalb der für Menschen hörbaren Frequenz. Delfine können Töne erzeugen, die weit über unserem Hörbereich liegen.

    Die meisten Untersuchungen zum Meereslärm wurden entweder in Laboren oder in stark von menschlichem Lärm belasteten Gewässern durchgeführt – bis jetzt zumindest.

    Zu laut für Kommunikation

    Fournet studiert Tropenökologie und arbeitet mit einem Team zusammen, das Hydrophone in der Florida Bay im Everglades-Nationalpark installiert hat. Dort untersucht sie die Auswirkungen des Lärms auf Umberfische, Pistolenkrebse und Golf-Krötenfische – die musikalischen Männchen dieser Art bringen den Weibchen ein Ständchen dar, die ihre Eier daraufhin im Nest der Männchen ablegt.

    In diesem Jahr freut sie sich jedoch besonders auf ihre Arbeit im Südosten Alaskas. Ein Jahrzehnt lang hat Fournet in dieser Region untersucht, wie sich der Lärm großer Schiffe auf die Kommunikation von Buckelwalen auswirkt. Dieses Jahr wurden jedoch wegen des Coronavirus Kreuzfahrten und Walbeobachtungstouren in Juneau abgesagt. Der Unterschied, sagt sie, „ist monumental“.

    Das letzte Mal, dass Wissenschaftler eine Gelegenheit hatten, um den Walen entlang der Inside Passage in Ruhe zu lauschen, war für drei Tage im Jahr 1976. Die die Zahl der damals stark gefährdeten Buckelwale war auf etwa 250 Tiere zurückgegangen. Mittlerweile ist die Population wieder auf 3.000 bis 5.000 Individuen angewachsen. „Das bedeutet, dass dies für Wale, die zwischen 1970 und heute geboren wurden, der erste ruhige Sommer ihres Lebens sein wird“, sagt sie. Es wird das erste Mal sein, dass eine gesündere Anzahl von Walen ungestört kommunizieren kann, während Wissenschaftler ihnen lauschen.

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    Buckelwale sind berühmt für ihre schönen Lieder. Auch wenn geschlechtsreife Männchen die Schau stehlen, kommunizieren auch Weibchen und Jungtiere mit einem reichen Repertoire an Klängen. Die Wale stöhnen, ächzen und knurren und geben Geräusche von sich, die wie aufprallende Wassertropfen klingen. Es gibt „Wup“-Rufe, die dem Schnurren von Katzen ähneln, und Töne, die wie menschliches Lachen klingen. Ein anderer Ruf ähnelt dem Quietschen eines nassen Fensterabziehers auf Glas.

    Dieses Jahr ließ Fournet von Kollegen aus Alaska ein Hydrophon in den Gewässern vor der Waltourismus-Hauptstadt Juneau installieren. Dort ist es für gewöhnlich zu laut, um die Buckelwale zu hören. Die Forscherin will mit den neuen Aufnahmen herausfinden, wie die Walgespräche ablaufen, wenn keine Menschen und Maschinen stören.

    Fournet vermutet, dass sich die Art der akustischen Interaktionen dadurch verändert. Wenn die Wale nicht mehr vom Bootslärm übertönt werden, könnten sie tatsächlich eine komplexere Kommunikation pflegen, mutmaßt sie.

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    „Wenn man auf einem Rockkonzert ist und versucht, eine sinnvolle Unterhaltung zu führen, wird man eher laut und langsam sprechen und einfache Worte verwenden“, sagt sie. Wer sich stattdessen bei einer Tasse Tee im Wohnzimmer unterhält, kann versuchen, komplexere Gedanken zu vermitteln. „In einem solchen Austausch wird einem eine viel reichere Sprache und die Möglichkeit geboten, mehr Informationen zu vermitteln.“

    Konstanter Stress für die Gesundheit

    In der Monterey Bay interessiert sich Friedlaender für etwas anderes. Er will nicht herausfinden, ob die Wale ihren Gesang oder ihre Bewegungen ändern. Stattdessen ist er an ihrem allgemeinen Wohlbefinden interessiert: Erlaubt ihnen das menschliche Schweigen, ein bisschen gesünder zu leben – und können Wissenschaftler das messen?

    Forscher gehen seit langem davon aus, dass Lärm den Stress der Wale verstärkt. Und sie wissen, dass chronischer Stress für viele Tiere genauso gefährlich sein kann wie für Menschen. Nachgewiesenermaßen hemmt er Wachstum, Fortpflanzung und die Funktion des Immunsystems. Das führt bei unterschiedlichsten Arten, von Kattas bis zu Meerechsen, zu vorzeitigem Tod und Populationsrückgang.

    „Nur weil man keine Reaktion im Verhalten sieht, heißt das nicht, dass es keine Konsequenzen gibt“, sagt Friedlaenders Kollege Brandon Southall. Der Walwissenschaftler hat jahrelang für die NOAA in Washington D.C. gearbeitet und stand in Kontakt mit der Marine bezüglich der Auswirkungen von Unterwasserlärm auf das Meeresleben.

    Forscher nehmen zwar regelmäßig Proben, um die Cortisolwerte von Walen zu bestimmen. Aber bisher hatten sie nur selten eine geeignete Kontrollgruppe, die vom Lärm verschont war und deren Hormonspiegel deshalb einen guten Vergleichswert bot. Die bislang vielleicht bedeutendste Kontrollgruppe ergab sich durch einen tragischen Zwischenfall.

    Während der Terroranschläge vom 11. September 2001 befanden sich zufällig zwei Gruppen von Wissenschaftlern auf See in der kanadischen Bay of Fundy. Eine Gruppe machte Tonaufnahmen von Glattwalkälbern und ihren Müttern, die andere sammelte Kotproben von Glattwalen. Sie blieben auch noch auf See, nachdem der Schiffs- und Flugverkehr zum Erliegen gekommen war.

    Die Forscher konnten über die Kotproben nachweisen, dass der Hormonspiegel in den Walen sofort abfiel, nachdem sich eine geisterhafte Stille über die Gewässer gelegt hatte. In den darauffolgenden Jahren, als der Lärmpegel wieder stieg, entdeckten die Wissenschaftler, dass auch der Stress der Tiere wieder zunahm.

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    Friedlaender plant, im kommenden Frühjahr in die Monterey Bay zurückzukehren, wenn sich der Schiffsverkehr voraussichtlich wieder normalisiert, um weitere Gewebeproben zu entnehmen. Und da er auch Fotos von den einzigartigen Rücken- und Schwanzflossen vieler Tiere besitzt, wird er sogar versuchen, Proben von denselben Individuen wie beim letzten Mal zu sammeln. Da das Aquarium Research Institute bereits ein Hydrophon in der Bucht betreibt, wird sein Team in der Lage sein, Zusammenhänge zwischen dem Stresspegel der Wale und dem Lärmpegel durch die Schiffe aufzudecken.

    Friedlaender geht davon aus, dass er ähnliche Ergebnisse erhalten wird wie die Wissenschaftler nach dem 11. September. Seine Ergebnisse könnten sich aber dennoch als etwas komplizierter erweisen: Nach den Anschlägen vom 11. September kam der gesamte Verkehr zum Erliegen – auf See und in der Luft. Im Frühjahr 2020 stoppten im Gegensatz dazu zwar kleine Boote und Tanker in der Monterey Bay und anderswo, aber vor der Küste ging der Schiffsverkehr ging weiter.

    „Man sieht es den Walen nicht an, aber diese Tiere sind von unserem Handeln betroffen“, sagt Friedlaender.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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