Zeitbomben im Meer: Weltkriegsmunition bedroht Nord- und Ostsee

Rund 1,6 Millionen Tonnen Bomben, Granaten und Minen verrotten vor der deutschen Küste. Forschende warnen vor einer ökologischen Katastrophe.

Der Ozean als Schrottplatz? Giftige Kriegsaltlasten gefährden die Unterwasserwelt.

Foto von David Doubilet, National Geographic
Von Jens Voss
Veröffentlicht am 5. Nov. 2021, 11:28 MEZ

Noch in den 1930er Jahren konnte man sie häufig in deutschen Gewässern beobachten. Heute sind sie vielerorts verschwunden. Laut einer aktuellen Studie ist die Zahl der Schweinswale allein in der deutschen Nordsee in den letzten 20 Jahren von rund 35.000 auf 23.000 Tiere geschrumpft. Noch schlechter scheint es der Population in der deutschen Ostsee zu gehen. Nur noch schätzungsweise 500 Schweinswale leben dort. Damit gilt die Art als vom Aussterben bedroht.

Eigentlich hat der Schweinswal kaum natürliche Feinde. Es ist der Mensch, der die einzige heimische Walart bedroht. Fischerei, Meeresverschmutzung und Lärm gelten als Hauptursachen für den Niedergang des maximal zwei Meter langen Meeressäugers. Und auf dem Meeresboden lauert eine weitere tödliche Gefahr. Etwa 1,6 Millionen Tonnen Weltkriegsmunition verrotten am Grund der Nord- und Ostsee – teilweise nicht weit entfernt von der Küste.

Lärmempfindlicher Meeressäuger: Unterwasser-Explosionen setzen dem Schweinswal stark zu.

Foto von Willi Rolfes, Nabu

Tödliche Explosionen am Meeresgrund

„Der größte Teil stammte aus den Waffenkammern der deutschen Armee und wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter Aufsicht der Alliierten einfach im Meer entsorgt“, erklärt Matthias Brenner, Meeresbiologe und Forschungstaucher am Alfred-Wegener-Institut. Mit Sprengungen ist es zwar möglich, Bomben, Minen und Granaten unschädlich zu machen. Aber die Unterwasser-Explosionen setzen den lärmempfindlichen Schweinswalen stark zu.

Ohnehin leiden die Tiere unter dem Lärm der Schifffahrt und den Rammanlagen, die Offshore-Windräder in den Meeresboden treiben. Experten warnen vor irreversiblen Hörschäden bis zur vollständigen Taubheit. Immer wieder werden tote Exemplare an den deutschen Meeresküsten gefunden. Oft weisen sie erhebliche Verletzungen der Hörorgane auf, die offenbar zum Tod führten. Die scheuen Fischjäger orientieren sich per Ultraschall in ihrer Lebenswelt.

Doch das ist bei Weitem nicht die einzige Gefahr, die von den Kriegsaltlasten ausgeht. Die Metallhüllen der Munition rosten mit der Zeit durch und setzen dabei hochgiftige Schadstoffe wie TNT oder Schwermetalle in die Meeresumwelt frei, warnt das Umweltbundesamt (UBA). Es drohen verheerende Umweltschäden.

Gefahr aus der Tiefe: Granaten eines Schiffsgeschützes auf einem Wrack vor der Nordseeküste.

Foto von Vlaams Instituut voor de Zee VLIZ

Giftverseuchte Bomben

Direkt vor der Küste Kiels liegt das Munitionsversenkungsgebiet Kolberger Heide – ein Sperrgebiet, in dem rund 35.000 Tonnen Seeminen und Torpedos in maximal zwölf Meter Wassertiefe und in Sichtweite zum Strand vor sich hin gammeln.

Ein internationales Wissenschaftsteam konnte im Rahmen des Forschungsprojekts Daimon (Decision Aid for Marine Munitions) nachweisen, dass dort giftige Stoffe aus den Munitionskörpern austreten und von den ansässigen Organismen aufgenommen werden. Spuren wurden unter anderem in Muscheln und Fischen nachgewiesen.

Muscheln beispielsweise reicherten Abbauprodukte des Sprengstoffs TNT an. Die hochgiftigen Stoffe schädigen das Erbgut, was zu Tumoren führen kann. Die Kliesche, ein beliebter Speisefisch aus der Familie der Schollen, hat im Munitionsversenkungsgebiet Kolberger Heide mehr Lebertumore als anderswo.

Die Laborexperimente hätten gezeigt, dass der Kontakt mit Kampf- und Explosivstoffen für die betroffenen Organismen schädlich ist, betont Meeresbiologe Brenner. Über die Nahrungskette können die Giftsubstanzen auch den Menschen gefährden.

„Diese Erkenntnis wiederum bedeutet, dass von der verklappten Weltkriegsmunition in Nord- und Ostsee auch heute noch eine viel größere Gefahr für die Lebensgemeinschaften beider Meere ausgeht, als bislang angenommen wurde.“

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Experten fordern schnelle Munitionsbergung

Das Dilemma: Lässt man die Munition auf dem Meeresgrund liegen? Dann nimmt man in Kauf, dass hochgefährliche Substanzen austreten und das Ökosystem vergiften. Birgt man die Munition? Dann riskiert man, dass die porösen Metallkörper dabei zerbrechen oder sogar explodieren.

Umweltverbände fordern eine schnelle Entscheidung. „Seit Jahrzehnten versäumt es die Politik, eine Strategie zum Umgang mit Munitionsaltlasten in Nord- und Ostsee zu entwickeln“, kritisiert Nabu-Meeresexperte Kim Detloff. „Das Zögern der Bundesregierung rächt sich jetzt.“

Inzwischen tut sich was. Im Frühjahr 2021 gab es eine öffentliche Anhörung im Bundestag über die Munitionsaltlasten in der deutschen Ost- und Nordsee. Die hinzugezogenen Sachverständigen waren sich einig: Sie haben die Politik dazu aufgefordert, möglichst bald mit der Bergung zu beginnen.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Die derzeit existierenden Methoden gelten als kostenintensiv und zeitaufwendig. Außerdem erfordern sie eine komplexe Sensortechnik. Der Wellengang beispielsweise erschwert die präzise Positionierung der Messgeräte.

Mit 3D-Echolot und intelligenten Unterwasserfahrzeugen

„Auf See haben wir bei der Munitionserkennung eine Vielzahl an Herausforderungen zu überwinden“, weiß Jens Greinert vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Der Biochemiker leitet das Projekt Basta (Boost Applied munition detection through Smart data inTegration and AI workflows). Das Ziel: Munition auf dem Meeresgrund zuverlässig aufzuspüren.

Mit einem hochauflösenden 3D-Echolot und Unterwasserfahrzeugen soll das Terrain systematisch abgesucht werden. Die gesammelten Daten werden zusammen mit historischen Informationen in eine Datenbank eingespeist und mithilfe künstlicher Intelligenz ausgewertet. „Uns geht es im Basta-Projekt letztendlich um eine Effizienzsteigerung und Kostensenkung auf dem Weg zu einer flächendeckenden Kampfmittelbeseitigung“, sagt Greinert.

Auch für die Schweinswale wäre das ein Segen.

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