Warum immer mehr Kinder krank sind

Mehr Frühgeburten, Allergien und Wachstumsstörungen – neue Studien zeigen, wie sehr die großen globalen Probleme wie Klimawandel und Umweltgifte der Gesundheit unserer Kinder schaden. Über wachsende Gefahren und die fehlende Lobby.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 5. Juli 2023, 09:24 MESZ
Mehrere Kinder stehen in einer Reihe und man sieht sie von hinten.

Die meisten Eltern tun viel dafür, dass ihre Kinder gesund und behütet groß werden. Doch gegen die Auswirkungen der großen Probleme der modernen Welt ist der oder die Einzelne machtlos.

Foto von Anna Ritter / Adobe Stock

Kinder sind unsere Zukunft. Allein aus diesem Grund sollte der Schutz ihres Lebens höchste Priorität haben – und tatsächlich wird einiges dafür getan: Laut Unicef hat sich beispielsweise die weltweite Kindersterblichkeit zwischen den Jahren 1990 und 2021 mehr als halbiert. Der medizinische Fortschritt und eine breitere Verfügbarkeit von Behandlungs- und Präventionsangeboten haben also Wirkung gezeigt.

Im Mittelpunkt dieser Bemühungen standen im betrachteten Zeitraum vor allem Kinder in Entwicklungs- und Schwellenländern. Doch die wachsenden Probleme der Welt kennen keine Staatsgrenzen: Die Auswirkungen von Umweltbelastungen, sozialer Ungerechtigkeit und vor allem dem Klimawandel sind inzwischen auch in Ländern zu beobachten, von denen man bisher dachte, sie würden Kindern ein gesundes, sicheres Aufwachsen bieten – darunter Deutschland.

Die Stiftung für Kindergesundheit hat diesen Umstand in einem aktuellen Bericht scharf kritisiert. „Tagtäglich wird in Deutschland gegen die Kinderrechtskonvention verstoßen“, sagt der Stiftungsvorstand und Kinder- und Jugendarzt Berthold Koletzko. „Die dort verbriefte Priorität des Kindeswohls wird zu häufig missachtet.“

Mehr Frühgeburten durch Klimawandel

Der Bericht bemängelt unter anderem, dass zu wenig gegen den Klimawandel unternommen wird. Dessen Folgen machen sich schon seit einer Weile bei der Kindergesundheit bemerkbar. Durch die zunehmende Sonnenscheindauer und die dadurch wachsende UV-Belastung hat sich die Zahl der Hautkrebsfälle seit dem Jahr 2000 verdoppelt. Steigende Temperaturen führen dem Bericht zufolge zu längeren Pollenflugzeiten und dem Auftreten neuer Allergene. Kinder mit Pollenallergie seien in Deutschland inzwischen fast ganzjährig belastet. Immer öfter müssten junge Menschen zudem wegen Flüssigkeitsmangels klinisch behandelt werden.

„Angesichts dieser Fakten ist es unverzichtbar, das Voranschreiten der Klimakrise mit energischen Maßnahmen zu bremsen“, sagt Koletzko. 

Denn diese wirkt sich bereits auf das ungeborene Leben aus. Eine Studie des Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) in Hamburg, die in der Zeitschrift eBioMedicine erschienen ist, zeigt das besonders drastisch. Sie ist die erste, die die Häufigkeit von Frühgeburten im Zusammenhang mit steigenden Temperaturen untersucht hat – und kommt zu einem klaren Ergebnis. „Mit jedem extremen Hitzetag und jedem extra Grad steigt die Gefahr einer Frühgeburt“, sagt Petra Arck, Leiterin des Labors für Experimentelle Feto-Maternale Medizin am UKE.

„Obwohl die medizinische Versorgung immer besser wird, bleibt die Frühgeburtenrate seit Jahren konstant“, so Anke Diemert, die in der Geburtshilfeklinik des UKE die klinische Datenerhebung betreut. „Etwa jedes zwölfte Kind kommt vor dem errechneten Termin zur Welt.“

Um herauszufinden, wie es zu diesem Widerspruch kommt, sichtete das Studienteam anonymisierte Daten von mehr als 42.000 Geburten, die in den vergangenen 20 Jahren im UKE betreut wurden. Die darin vermerkten errechneten und tatsächlichen Geburtstermine wurden mit Klimatabellen des Hamburger Wetterdienstes abgeglichen.

Die messbaren Auswirkungen der Erderwärmung 

Dabei zeigte sich, dass Hitzestress von 30 Grad Celsius das Risiko einer Frühgeburt zwischen der 34. und 37. Schwangerschaftswoche um 20 Prozent erhöht, bei Temperaturen über 35 Grad Celsius steigt es sogar auf 45 Prozent an.

Der Studie zufolge waren ein oder zwei heiße Tage für die Mütter offenbar zu verkraften. Blieb es aber länger heiß und war die Luftfeuchtigkeit hoch, setzten die Wehen mit immer größerer Häufigkeit zu früh ein. Zwar seien die sogenannten späten Frühchen zu diesem Zeitpunkt lebensfähig, „sie wären aber in der Fruchtblase besser aufgehoben, weil unter anderem die Lungen, das Verdauungs- und Immunsystem noch reifen müssen“, sagt Arck.

BELIEBT

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    Babys, die zwischen der 34. und 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen, sind späte Frühchen. Sie sind lebensfähig und müssen nicht unbedingt in den Brutkasten. Trotzdem birgt die vorzeitige Geburt viele Risiken.

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    „Jeder Tag zu früh bedeutet ein höheres Risiko für gesundheitliche Probleme im späteren Leben“, so Diemert. An Studien, die belegen, dass Frühchen im Kinder- und Jugendalter häufig mit Konzentrationsstörungen zu kämpfen und ein höheres Risiko für Infektionen, Allergien, Asthma und Übergewicht haben, mangelt es nicht.

    Basierend auf aktuellen Klimaprognosen für die kommenden zehn Jahre – und unter der Voraussetzung, dass in diesem Zeitraum genauso viele Frauen schwanger werden wie heute und kein Mittel gegen Frühgeburten entwickelt wird – könnte dem Studienteam zufolge im Jahr 2033 jedes sechste Kind zu früh geboren werden.

    Vergiftete Kindheit in Deutschland

    Die Welt, die diese und alle anderen Kinder erwartet, ist ziemlich giftig – auch in Deutschland. Chemische Stoffe aus der Industrie stellen ein noch nicht einschätzbares Risiko dar: darunter Pestizide, Phthalate, Parabene und per- und polyfluorierte Verbindungen (PFAS).

    Sie stecken in Verpackungen, Pflegeprodukten, Kochgeschirr, Alltagsgegenständen und Nahrungsmitteln. Dass es nahezu unmöglich ist, die Aufnahme dieser Gifte zu verhindern, zeigt die Deutsche Umweltstudie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen des Umweltbundesamts in Zusammenarbeit mit dem Robert Koch Institut (RKI), die im Jahr 2020 veröffentlicht wurde. Die für die Studie untersuchten Kinder und Jugendlichen waren nicht nur ausnahmslos mit Schadstoffen belastet. Auffällig war auch der Cocktail aus verschiedenen Giften in den jungen Körpern.

    Das Pestizid Glyphosat wurde beispielsweise bei der Hälfte der untersuchten Personen festgestellt. Der größte Teil der Probanden hatte Parabene und PFAS in Blut und Urin – bei zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen wurden mindestens drei verschiedene PFAS gefunden. Alle Testpersonen waren mit dem Phthalat DEHP belastet. Je jünger die Kinder, desto höher die Menge.

    All diese Stoffe stehen in Verdacht, ab einer gewissen Konzentration krebserregend zu sein sowie Asthma, Allergien und Entwicklungsstörungen zu fördern. Das Problem: Wann genau die kritische Menge erreicht ist, ist für viele Chemikalien nicht bekannt. Zwar gibt es EU-weite Grenzwerte, diese sind jedoch häufig für „Personen durchschnittlicher Größe und Gewicht“ festgelegt – also für Erwachsene. Für Kinder sind die Obergrenzen zu hoch angesetzt, denn im Verhältnis zum Körpergewicht nehmen sie mehr von den Stoffen auf als Erwachsene und reagieren empfindlicher darauf, weil ihre Körper nicht ausgereift sind.

    Wachstumsstörung durch Armut

    Mit welchen Stoffen Kinder in Kontakt kommen und welche den Weg in ihre Körper finden, wird stark durch den sozialen Status ihrer Familie bestimmt. Während Familien aus höheren gesellschaftlichen Schichten meist finanziell dazu in der Lage sind, Essen und Produkte für ihre Kinder zu kaufen, die nicht oder weniger belastet sind, haben ärmere Familien diese Möglichkeit nicht. Oft fehlt zudem das grundlegende Wissen um das Problem.

    In den meisten EU-Ländern öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Wie sich das auf die Gesundheit der Jüngsten auswirken kann, zeigt ein Blick nach Großbritannien. Zu wenig oder qualitativ minderwertige Nahrung ist laut einer Studie für ein Fünftel der britischen Kinder Alltag. Das hat Folgen: Ein Ranking der NCD Risk Factor Collaboration (NCD-RisC) zeigt, dass die Körpergröße von Fünfjährigen, die seit 2010 in Großbritannien geboren wurden, im Vergleich zu vorherigen Jahren merklich zurückgegangen ist. Ganze 30 Plätze haben die Kinder eingebüßt.

    Gleichzeitig stieg der Anteil übergewichtiger Kinder, ebenso die Häufigkeit von Zahnerkrankungen und Diabetes Typ 2. Der National Health Service (NHS) beobachtet seit 2010 einen Anstieg bei Fällen von Skorbut und Rachitis, die beide auf Vitaminmangel zurückzuführen sind. Für Experten ist klar: Das sind die Auswirkungen der Sparpolitik und der daraus resultierenden schlechten Ernährung von armen oder von Armut bedrohten Kindern, von denen es im Vereinigten Königreich immer mehr gibt.

    Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen sind oft auf die Essensversorgung in Kitas und Schulen angewiesen. Laut der Stiftung Kindergesundheit ist die Qualität der Mahlzeiten aber häufig schlecht und nicht bedarfsgerecht.

    Foto von Serhii / adobe Stock

    Auch in Deutschland steigt ihre Zahl: Laut einem Bericht des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2022 ist ein Fünftel der deutschen Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht – Kinder eingeschlossen. Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung, die die Kinderarmut in Deutschland im Jahr 2023 analysiert hat, sieht die Politik in der Pflicht. „Kinder in Armut können ihre Lebenssituation nicht selbst ändern“, sagt er. Der Staat habe eine besondere Verantwortung, zu verhindern, dass Kinderarmut sich in Deutschland weiter verfestigt.

    Eine Lobby für die Zukunft

    Dies gilt für die Mehrzahl der Probleme, die die Gesundheit und das Leben von Kindern beeinträchtigen: Sie sind so groß und universell, dass sie politisch gelöst werden müssen. Kinder sind keine Wähler und haben keine Lobby. Andere müssen für sie sprechen.

    Im Jahr 2020 veröffentlichte das Kinderhilfswerk Terre des Hommes eine Studie mit dem Titel Die stille Pandemie, die sich mit Umweltgiften und ihren Auswirkungen auf Kinder beschäftigt. „Kinder erleben, wie die Zerstörung des Weltklimas und von Ökosystemen ihre Zukunftschancen ruiniert“, sagte die damalige Vorstandssprecherin Birte Kötter. Terre des Hommes fordert darum, dass Staaten sich dazu verpflichten, ihre Umweltpolitik mehr auf das Kinderwohl auszurichten. „Das wäre ein Meilenstein für die Lebenschancen zukünftiger Generationen“, so Kötter.

    Auch Berthold Koletzko nimmt die Regierungen in die Verantwortung. Der Kampf gegen die globale Klimakrise im Interesse der Kinder und Jugendlichen müsse ein zentrales Motiv jedes gesellschaftlichen und politischen Handelns sein. „Das Ausmaß unserer Bemühungen“, sagt er, „wird maßgeblich darüber entscheiden, in welcher Welt die kommenden Generationen leben werden.“

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