DNA-Studie vertieft Mysterium des „Knochensees“ im Himalaya

In einem kleinen See mitten im Himalaya liegen die Skelette von etwa 800 Menschen. Wer waren sie, was taten sie dort – und wodurch starben sie?

Von Kristin Romey
Veröffentlicht am 26. Aug. 2019, 11:16 MESZ

Roopkund, ein abgelegener See hoch oben im indischen Teil des Himalaya, beherbergt ein schauriges Geheimnis der Archäologie: die Skelette von bis zu 800 Menschen. Im Rahmen einer Studie, die in „Nature Communications“ erschien, versuchten Forscher herauszufinden, was genau am „Knochensee“ geschehen ist. Ihre Ergebnisse werfen allerdings mehr Fragen als Antworten auf.

Anfang der 2000er deuteten vorläufige DNA-Untersuchungen darauf hin, dass die Menschen, die am Roopkund verstorben sind, südasiatischer Abstammung waren. Die Radiokarbodatierungen der Stätte deuteten allesamt auf einen Zeitraum um das Jahr 800 hin – ein Anzeichen dafür, dass die Menschen alle demselben Ereignis zum Opfer fielen.

Eine vollständige Genomanalyse der Überreste von 38 der Toten stellt diese Theorie nun auf den Kopf. Die neuen Ergebnisse zeigten, dass in dem See 23 Menschen südasiatischer Herkunft lagen. Allerdings starben sie während eines oder mehrerer Ereignisse zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert. Darüber hinaus befindet sich in dem See aber noch eine andere Gruppe aus 14 Opfern, die dort etwa 1000 Jahre später verstarben – vermutlich bei einem einzigen Ereignis.

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Im Gegensatz zu den späteren südasiatischen Skeletten wies die frühere Opfergruppe im See Erbgut auf, das ihre genetische Abstammung im Mittelmeerraum verankert, um genau zu sein auf Kreta und im Rest Griechenlands. (Ein weiteres Individuum, das zur selben Zeit wie die mediterrane Gruppe starb, war ostasiatischer Abstammung.) Keine der getesteten Individuen waren miteinander verwandt, und zusätzliche Isotopenanalysen bestätigten, dass sich die Menschen aus der südasiatischen und der mediterranen Gruppe unterschiedlich ernährten.

Warum aber waren Menschen aus dem Mittelmeerraum überhaupt zu dem See im Himalaja gewandert und wie fanden sie dort ihr Ende? Die Wissenschaftler haben darauf keine Antwort und spekulieren auch lieber nicht.

„Wir haben wirklich versucht, alle möglichen Ursprünge für die genetische Herkunft der Roopkund-Skelette zu erklären. Wir können trotzdem nicht sagen, warum Menschen aus dem Mittelmeerraum zu diesem See wanderten und was sie dort taten“, schreibt der Co-Autor der Studie Niraj Rai in einer E-Mail. Der Archäologe und Genetiker arbeitet am Birbal Sahni Institute of Palaeosciences in Lucknow, Indien.

Eine „schauderhafte Szenerie“

Selbst für Profis ist der sonderbare Anblick von Roopkund ein wenig unheimlich. In den Fünfzigern beschrieb ein Entdecker die Städte in einer indischen Radiosendung als „schauderhafte Szenerie, bei der es uns den Atem verschlug“. Jahrzehntelang haben zahlreiche Gelehrte versucht herauszufinden, wer die Menschen von Roopkund waren und wann sie starben. 

Die Todesursache ist weiterhin ein Rätsel. Dass die Menschen bei einer Schlacht ums Leben kamen, ist unwahrscheinlich: unter den Toten befinden sich sowohl Männer als auch Frauen, und die Forscher fanden weder Waffen noch Spuren von Kampfverletzungen. Außerdem schienen alle Opfer zum Todeszeitpunkt bei bester Gesundheit gewesen zu sein, womit auch eine Epidemie als Erklärung ausfällt.

Aber was wäre, wenn der Tod der Opfer in einem Volkslied verewigt wurde? Es gibt ein Lied, das von einer königlichen Prozession während des Raj Jat berichtet – einer Wallfahrt zu Ehren der Göttin Nanda Devi, die in der Region alle zwölf Jahre stattfindet. Die Prozession soll die heilige Landschaft mit tanzenden Mädchen entweiht haben. Die zornige Nanda Devi soll die Gruppe deshalb mit „Eisenkugeln“ niedergestreckt haben, die sie vom Himmel warf.

Womöglich handelt es sich bei den Opfern von Roopkund also um Pilger, die während des Raj Jat durch schweren Hagel umkamen. Berichten zufolge wurden am See auch einige der charakteristischen Sonnenschirme gefunden, die während dieser Prozessionen mitgeführt wurden. Außerdem finden sich an den Schädeln einiger Individuen nicht verheilte Frakturen, die womöglich durch große Hagelkörner erzeugt wurden – die „Eisenkugeln“ aus dem Lied.

Um dieses Szenario und einige andere zu überprüfen, führte ein internationales Team aus Forschern eine Genomanalyse der Roopkund-Überreste durch. Zwar hatten sie keine Erwartungen an die Ergebnisse, aber die Spuren mediterraner Abstammung so hoch im indischen Himalaya waren für sie trotzdem eine Überraschung.

„Als wir die DNA-Ergebnisse zurückbekamen, war sehr deutlich, dass einige dieser Individuen keine typische südasiatische Herkunft hatten“, sagt Éadaoin Haney, eine Co-Autorin der Studie und Forscherin am Harvard-Institut für Organismische und Evolutionsbiologie. „Das hatten wir definitiv überhaupt nicht erwartet.“

Video: Mit dem Motorrad durch den Himalaya

Mit dem Motorrad durch den Himalaya
Im Zuge einer 16.000 Kilometer langen Motorradreise fuhr Robert Jan van der Kaaij einen Berg im Himalaya hinauf.

Kam die mediterrane Gruppe eventuell für die Raj-Jat-Wallfahrt in den Himalaya und verweilte lange genug an dem See, um dort unvermittelt zu versterben? William Sax, der Abteilungsleiter für Anthropologie an der Universität Heidelberg und Autor eines Buches über diese Wallfahrt, hält dieses Szenario für unwahrscheinlich. „Das würde gar keinen Sinn machen.“

Sax ist selbst bereits dreimal an den See gereist, zuletzt 2004 als Teil einer National Geographic-Sendung. Ihm zufolge spielt der Ort für moderne Pilger keine größere Rolle.

„Wenn Pilger [den Roopkund] erreichen, drängen sie einfach weiter, weil sie noch einen weiten Weg vor sich haben. Sie machen da vielleicht kurz Halt und erweisen ihren Respekt, wenn man so will – aber das ist kein und war auch nie ein besonders wichtiger Wallfahrtsort“, sagt er. „Es ist ein ziemlich düsterer und dreckiger Ort, den man mit einem kurzen Kopfnicken bedenkt und dann weiterzieht.“

Die Forscher wollen das Mysterium um den Knochensee aber bald aufklären: Rai zufolge soll es nächstes Jahr eine weitere Expedition zum See geben, um die Artefakte zu untersuchen, die zu den Skeletten gehören.

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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